Dichter Erdling
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Beim Blick aus dem Fenster bleibt mir fast das Herz stehen. Der Mann dort unten, ich sehe ihn nur von hinten, wie er sich schwerfällig auf einen Rollator stützt: Er sieht aus wie mein Vater. Ja, wirklich: Die untersetzte Statur, das raspelkurz geschorene Haar, die unbeholfene Bewegung… wie mein Vater kurz vor seinem Tod.
Wie mein Vater trägt der Mann vor meinem Fenster ein kariertes Hemd und Jogginghosen. Ist schwer, Hosen zu finden für einen Mann dieser Größe, ich erinnere mich. Wie oft hatte ich dem Vater die Hosen kürzen müssen! Zum Schluss eben nur noch Jogginghosen, er wollte es bequem haben am Ende.
Der Mann vor meinem Fenster kommt nicht recht vorwärts, aber er ist nicht allein. Er wird flankiert von zwei jungen Frauen, die beständig auf ihn einreden. Es sieht so aus, als würden sie dem Gebrechlichen Mut zusprechen und ihn anspornen. Noch ein Schritt, und noch einer, prima geht das!
Eine der Frauen trägt einen akkurat geflochtenen Zopf und ist Leggings. Die zweite schiebt zur Sicherheit einen Rollstuhl nebenher. Es dauert nicht lang, bis sich der Alte in diesen fallen lässt. Er kann nicht mehr. Wirklich, wie mein Vater…
Bloß die jungen Frauen sind vermutlich gar nicht die Töchter, sie sind wohl eher medizinisches Personal und sollen den Kranken professionell trainieren.
Der Mann ist sichtlich entkräftet. Ohne jede Körperspannung kauert er im Rollstuhl. Da sehe ich, wie die Zopf-Frau anfängt, den Mann zu trösten. Sie legt ihm die Hand auf den Rücken und streicht beruhigend auf und ab.
Ich am Fenster zucke zusammen. Denn wirklich, es ist haargenau die gleiche Geste wie damals im Krankenhaus bei meinem Vater.
„Ich will nicht sterben! Ich will noch nicht sterben!“ hatte er übertrieben weinerlich wie ein Kleinkind gejammert. Jetzt erst recht waren die Umstehenden für ihn bloße Statisten, die sich seinen Wünschen fügen oder sich von ihm anschreien lassen sollen. Ich stand hilflos daneben und wusste nicht, wie reagieren. Den anderen Umstehenden ging es nicht besser.
Es musste sich jemand anders zu ihm aufs Krankenhausbett setzen, um ihn zu trösten. Die Pflegekraft war zu diesem Zweck bestens geeignet. Man merkte, sie hatte das schon öfter gemacht. Behutsam hat sie auf meinen Vater eingeredet: „Das wird schon wieder werden, Sie werden sehen und sehen Sie, Ihre Familie ist bei Ihnen“ und so Sachen hat sie gesagt. Dabei hat sie meinem Vater die Hand auf den Rücken gelegt und beruhigend auf und ab gestreichelt.
Es war gut, dass sie da war, diese Pflegekraft. Ich hätte die Kraft nicht gehabt.
So eine Beziehung war das nicht zwischen meinem Vater und mir, dass es liebevollen Körperkontakt gegeben hätte. Oder liebevollen Kontakt überhaupt.
Nein, undenkbar wäre es gewesen, dass meine Hand diesen Rücken streicheln könnte. Zu viel anderes stand zwischen uns, zu viel Vergangenheit.
Auch wenn er es sich gewiss gewünscht hätte, meine warme Hand auf dem Rücken, um ihm zu sagen: Ich bin für dich da, Papa. Du bist ja doch mein Papa, trotz allem…
Aber noch nicht mal „Papa“ konnte ich zu ihm sagen. Im Handy hatte ich ihn unter seinem Vornamen abgespeichert.
Und nein, auch heute könnte ich nicht anders tun.
Ich merke, wie ich mit dem Geschirrtuch an einem Teller reibe, der längst trocken ist.
Das Trio vor meinem Fenster bewegt sich nicht fort, die Zopf-Frau streichelt den Rücken des Kranken ausgiebig lang. Sie beanspruchen fast den ganzen Gehsteig mit dem Rollstuhl und dem Rollator. Sie sehen nicht zu mir herauf. Schließlich wird der Mann, der aussieht wie mein Vater, doch noch fortgeschoben.
Ich stelle den abgetrockneten Teller zurück in den Schrank, wo er hingehört. Ich verräume das restliche Geschirr.
Kurz drauf gibt es einen Wolkenbruch, der mich erneut ans Fenster zieht.
Ich sehe zu, wie die Tropfen hemmungslos auf dem Asphalt aufklatschen. Der Mann, der von hinten aussieht wie mein Vater, ist nicht mehr zu sehen, aber aus unerfindlichen Gründen habe ich plötzlich Tränen im Gesicht.
Wie mein Vater trägt der Mann vor meinem Fenster ein kariertes Hemd und Jogginghosen. Ist schwer, Hosen zu finden für einen Mann dieser Größe, ich erinnere mich. Wie oft hatte ich dem Vater die Hosen kürzen müssen! Zum Schluss eben nur noch Jogginghosen, er wollte es bequem haben am Ende.
Der Mann vor meinem Fenster kommt nicht recht vorwärts, aber er ist nicht allein. Er wird flankiert von zwei jungen Frauen, die beständig auf ihn einreden. Es sieht so aus, als würden sie dem Gebrechlichen Mut zusprechen und ihn anspornen. Noch ein Schritt, und noch einer, prima geht das!
Eine der Frauen trägt einen akkurat geflochtenen Zopf und ist Leggings. Die zweite schiebt zur Sicherheit einen Rollstuhl nebenher. Es dauert nicht lang, bis sich der Alte in diesen fallen lässt. Er kann nicht mehr. Wirklich, wie mein Vater…
Bloß die jungen Frauen sind vermutlich gar nicht die Töchter, sie sind wohl eher medizinisches Personal und sollen den Kranken professionell trainieren.
Der Mann ist sichtlich entkräftet. Ohne jede Körperspannung kauert er im Rollstuhl. Da sehe ich, wie die Zopf-Frau anfängt, den Mann zu trösten. Sie legt ihm die Hand auf den Rücken und streicht beruhigend auf und ab.
Ich am Fenster zucke zusammen. Denn wirklich, es ist haargenau die gleiche Geste wie damals im Krankenhaus bei meinem Vater.
„Ich will nicht sterben! Ich will noch nicht sterben!“ hatte er übertrieben weinerlich wie ein Kleinkind gejammert. Jetzt erst recht waren die Umstehenden für ihn bloße Statisten, die sich seinen Wünschen fügen oder sich von ihm anschreien lassen sollen. Ich stand hilflos daneben und wusste nicht, wie reagieren. Den anderen Umstehenden ging es nicht besser.
Es musste sich jemand anders zu ihm aufs Krankenhausbett setzen, um ihn zu trösten. Die Pflegekraft war zu diesem Zweck bestens geeignet. Man merkte, sie hatte das schon öfter gemacht. Behutsam hat sie auf meinen Vater eingeredet: „Das wird schon wieder werden, Sie werden sehen und sehen Sie, Ihre Familie ist bei Ihnen“ und so Sachen hat sie gesagt. Dabei hat sie meinem Vater die Hand auf den Rücken gelegt und beruhigend auf und ab gestreichelt.
Es war gut, dass sie da war, diese Pflegekraft. Ich hätte die Kraft nicht gehabt.
So eine Beziehung war das nicht zwischen meinem Vater und mir, dass es liebevollen Körperkontakt gegeben hätte. Oder liebevollen Kontakt überhaupt.
Nein, undenkbar wäre es gewesen, dass meine Hand diesen Rücken streicheln könnte. Zu viel anderes stand zwischen uns, zu viel Vergangenheit.
Auch wenn er es sich gewiss gewünscht hätte, meine warme Hand auf dem Rücken, um ihm zu sagen: Ich bin für dich da, Papa. Du bist ja doch mein Papa, trotz allem…
Aber noch nicht mal „Papa“ konnte ich zu ihm sagen. Im Handy hatte ich ihn unter seinem Vornamen abgespeichert.
Und nein, auch heute könnte ich nicht anders tun.
Ich merke, wie ich mit dem Geschirrtuch an einem Teller reibe, der längst trocken ist.
Das Trio vor meinem Fenster bewegt sich nicht fort, die Zopf-Frau streichelt den Rücken des Kranken ausgiebig lang. Sie beanspruchen fast den ganzen Gehsteig mit dem Rollstuhl und dem Rollator. Sie sehen nicht zu mir herauf. Schließlich wird der Mann, der aussieht wie mein Vater, doch noch fortgeschoben.
Ich stelle den abgetrockneten Teller zurück in den Schrank, wo er hingehört. Ich verräume das restliche Geschirr.
Kurz drauf gibt es einen Wolkenbruch, der mich erneut ans Fenster zieht.
Ich sehe zu, wie die Tropfen hemmungslos auf dem Asphalt aufklatschen. Der Mann, der von hinten aussieht wie mein Vater, ist nicht mehr zu sehen, aber aus unerfindlichen Gründen habe ich plötzlich Tränen im Gesicht.