Die Lösung der Papierkrise

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hein

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Ca. fünf Monate nach Beginn der Krise, Sonntagabend


Eine Talkshow im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Das Eingangsvideo zeigt demolierte Supermärkte, zwei ineinander verkrallte Furien und eine Kassiererin mit Messerstichverletzungen auf den Weg in ein Behelfskrankenhaus. Aufnahmen von gewalttätigen, schwarzvermummten Gestalten und brennenden Autos runden das Bild ab.

Die Moderatorin wähnt sich noch nicht im Bild und rückt noch schnell ihren in letzter Zeit breiter gewordenen Hintern in eine bequemere Position. Dann wendet sie sich an ihre weit im Raum verteilten Gäste.

„Meine Damen und Herren, guten Abend.

Eben haben sie die schrecklichen Bilder gesehen. Dazu wollen wir gerne ihre Meinungen hören.

Beginnen wir mit unserem heutigen Experten, Herrn Kevin Langhals: Herr Langhals, sie beschäftigen sich seit mehr als 25 Jahren mit den philosophischen, anthropologischen, anthroposophischen, psychosozialen und gesellschaftsverändernden Aspekten von Krisen. Jetzt haben sie sich mit einem diskussionswürdigem Vorschlag zur Behebung des gegenwärtigen Ausnahmezustandes hervorgewagt. Um was genau geht es?“

Kevin Langhals richtet seinen von den andauernden Kürzungen seiner Forschungsgelder ausgemergelten Körper auf und reckt das spitze Kinn.

„Also, in meiner langjährigen Forschungstätigkeit ist mir eine derartige Situation noch nicht begegnet. Eine außergewöhnliche Situation erfordert außergewöhnliche Maßnahmen. Also, nach meiner Meinung hilft nur ein Verbot für mindestens drei Monate.“

„Was wollen sie verbieten?“

„Ja, also, die Verrichtung natürlich!“

„Das ist ja wirklich ein völlig neuer Ansatz. Fragen wir mal in die Runde was unsere anderen Gäste dazu meinen.“

„Herr Feigmann, sie sind ein bekennender Linker in einer sonst eher nach rechts schielenden, sich als sozial bezeichnenden, Partei: wäre dies eine Lösung?“

Der Angesprochene streckt seinen kleinen gedrungenen Körper weit in Richtung Kamera, fuchtelt dramatisch mit den Händen und gibt ein langatmiges, mit vielen linkssozialistischen Plattitüden durchsetztes Statement. Die Essenz des Sermons: „UNO; Menschenrechte; Körperverletzung; Ausnahmeregelung für Arbeitnehmer in Kurzarbeit; Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für Langzeitstudenten ohne Abschluss.“

Die Moderatorin bedankt sich für diese eindeutigen Aussagen und wendet sich dann an den nächsten Gast:

„Herr Quadrati, was sagen sie als Vertreter ihrer besonders dem freiheitlichen Eigennutz verpflichteten Partei zu diesem Vorschlag?“

„Tja, grundsätzlich sind wir natürlich gegen jegliches Verbot. Jeder muss selbst sehen wie er mit den Umständen klar kommt. Die Cleveren haben ja sowieso vorgesorgt. Aber mit einer Steuerbefreiung für kubanische Zigarren, gute französische Weine und Bootsliegeplätze an der Kieler Förde ließe sich die Stimmung in der Partei bestimmt zugunsten einer pragmatischen Lösung beeinflussen.“

„Danke, das ist doch mal eine norddeutsch-klare Ansage!

Und jetzt Frau von Ibis, was würde ihre Klientel zu einer solchen Maßnahme sagen?“

„Meine Partei vertritt bekanntlich das gesamte deutschgesinnte Spektrum der bürgerlichen Mitte und achtet stets auf die strikte Einhaltung des Grundgesetzes. Hier sehen wir eine Menge Konfliktpotenzial, das aber wohl am Besten in einer Koalition mit allen anderen wohlmeinenden Kräften in diesem Land gelöst werden könnte. Und natürlich müssten die Belästigungen wegen geringfügig fehlgebuchter Spenden aufhören.“

„Frau Pfau, haben sie als Vertreterin des anderen Flügels dem etwas entgegenzusetzen?“

„Ja natürlich, der verkappte Faschismus tropft doch aus jedem weichgespülten Wort dieser zu klein geratenen Brockenhexe. Wir sind natürlich gegen jegliche Unterdrückung der arbeitenden Klasse. Die angedachten Maßnahmen sollten daher nur für Kapitalisten und Kriegsgewinnler gelten. Und wie immer fordern wir die Erhöhung der Renten für die verdienten Mitarbeiter der ehemaligen Sicherheitsbehörden unseres annektierten Arbeiter- und Bauernstaates.“

„Danke, und jetzt zu Ihnen, Herr Habusch. Die bunte Palette ihrer Wählerschaft ist Einschränkungen und Verboten doch immer zugetan. Gibt es von Ihrer Seite bereits eine Meinung?

„Die philosophischen Aspekte dieser Frage sind natürlich sehr interessant. Erst kürzlich habe ich ein kleines Büchlein verfasst, das dieses Thema bereits vorwegnimmt. Wenn die Zustimmung mit einer minimalen Erhöhung der Zuschüsse für unsere Parteistiftung verknüpft werden würde, könnte der Großteil meiner Partei wohl hinter mir stehen.“

„Und nun zuletzt noch der Vertreter der größten Regierungspartei: Herr Grün, sie als Kanzleramtsminister sind mit der physischen Abwesenheit der Kanzlerin immer weiter in den Vordergrund gerückt. Was meinen sie zu diesem Thema?“

„Als Minister könnte ich dazu natürlich bereits hier etwas sagen, aber meine Meinung will ich trotzdem gerne vorher in einer Telefonkonferenz mit der Kanzlerin abstimmen. Ich denke in den nächsten Tagen wird es eine eindeutige Stellungnahme der Regierung geben.“

Die Moderatorin richtet dezent ihren Hintern wieder in eine bequeme Position und dann das Gesicht in Richtung der nächsten Kamera:

„Liebe Zuschauer, sie haben die lebhafte Diskussion verfolgt. Jetzt müssen wir die weitere Entwicklung abwarten.

Für nächsten Sonntag planen wir eine Sendung zu der drängenden Frage: >Sinn und Zweck von Abstandsregelungen bei einvernehmlichem Sex<. Das wird sicherlich sehr interessant, schauen sie rein!“



Montagmorgen

Telefonkonferenz des Bundeskabinetts.

Das Bild der Kanzlerin ist gestört. Dies lässt sich trotz hektischer Bemühungen des sich ebenfalls im Home-Office befindlichen Technikers so schnell nicht beheben. Die Chefin ist während der gesamten Diskussion also nur verschwommen zu erkennen. (Die Recherche des ambitionierten Reporters eines bekannten Nachrichtenmagazins bringt später die wahre Ursache ans Licht: kurz vor der Sitzung war ihr Ehemann in einem akuten Anfall des bereits als Krankheit anerkannten „Kontaktverbotswahnsinns“ hinter sie getreten und hatte die bereits perfekt sitzende Frisur mit beiden Händen ordentlich durchgewuschelt. Das ließ sich auf die Schnelle natürlich nicht mehr richten, und so blieb als Ausweg nur ein Streifen Klebeband über die Linse der Kamera.)

Die Kanzlerin eröffnet:

„Guten Morgen, wie ist die Lage?“

Die Ministerinnen und Minister referieren nacheinander aus ihren Resorts. Zusammenfassung: Katastrophale Zustände in allen Bereichen, also nichts Neues.

Zuletzt meldet sich der Kanzleramtsminister:

„Wir hatten gestern Abend eine interessante Diskussion in einer Talkshow. Der dort vorgebrachte Lösungsansatz erscheint mir durchaus bedenkenswert. Ich spiele hier jetzt eine kurze Zusammenfassung ein.“

Nach Ende des Videos zeigen die Bildschirme nachdenkliche, teilweise sogar betretene Gesichter. Dann räuspert sich schließlich der Innenminister, drückt die Schultern nach hinten und spricht es aus: „Sie wollen also das Sch…., ich meine die Verrichtung, auf unbestimmte Zeit verbieten? Wäre das durchsetzbar? Hätte das nicht möglicherweise gravierende Auswirkungen auf die Wahlen im nächsten Jahr?“

„Ähmm…“. Der Kanzleramtsminister meldet sich wieder: „Sie haben ja die Vertreter der anderen Parteien gehört. Hier wäre also ein parteiübergreifender Konsens möglich. Und ich glaube die angedachte Lösung würde die Lage beruhigen und so die Wähler von den Chaoten am rechten und linken Rand fernhalten.“

Wortmeldung der Kanzlerin:“ Besonders die von Herrn Feigmann in der Sendung gezeigte negative Grundhaltung erscheint als ein gutes Omen. Ich denke die anwesenden Minister unseres Koalitionspartners stimmen dem zu. Ich werde noch heute mit den Ministerpräsidenten der Länder reden.“



Später am gleichen Tag



Video-Schalte der Ministerpräsidenten.

Alle reden durcheinander, drehen an Lautsprecherreglern, verändern laufend die Bildauflösungen und bringen die Techniker zum Wahnsinn.

Die Kanzlerin beendet die Spielereien mit einem beherzten

„Guten Tag meine Damen und Herren. Wie sie wissen ist ein guter Teil der Bürger inzwischen gegen das Virus immun oder weilt nicht mehr unter uns. Wir könnten also die Ausgangsbeschränkungen langsam lockern. Voraussetzung ist jedoch, dass wir vorher die Zustände in den Supermärkten in den Griff bekommen.

Sie haben bestimmt alle von dem gestern in einer Talkshow von einem Experten hervorragend begründeten Lösungsansatz gehört. Mein Kabinett und ich stehen voll hinter diesem erfolgversprechenden Konzept, mit dem das Hamstern von Klopapier, Feuchttüchern und Küchenkrepp schlagartig unattraktiv, ja unnötig werden würde.

Deshalb bitte ich sie als die verfassungsgemäß Zuständigen um sofortige Anordnung folgender Maßnahmen: allen Personen ist es bei schwerer Strafe verboten, eine Verrichtung vorzunehmen. Der Verkauf von Abführmitteln wird eingestellt! Diese Anordnung gilt für zunächst 3 Monate oder aber bis zum erkennbaren Abflauen der Hamsterkäufe.

Um mögliche Nebenwirkungen auszuschließen und auch um die gesellschaftlichen Folgen zu beobachten sollten wir es vorerst aber nur auf ein Bundesland beschränken.“

Ein kakophonisches Gebrabbel auf allen Leitungen findet erst nach einiger Zeit in geordnete Bahnen zurück. Nachdem wie üblich der als durchsetzungsstark bekannte Ministerpräsident eines süddeutschen Bundeslandes als erster seine Zustimmung signalisiert hat, folgen auch die anderen Länderchefs.

Die Kanzlerin verbirgt ihre Zufriedenheit und fragt in die Runde:

„Und wer fängt an?“

Allseits betretende Gesichter, Schweigen, Wegtauchen, der eben noch so forsche Ministerpräsident macht sich besonders klein.

Nach einer Weile wird es der Kanzlerin zu bunt. Außerhalb der Kameraperspektive bedient sie einhändig ihr Smartphone. Kurz darauf sieht man den regierenden Bürgermeister von Berlin nach seinem Handy greifen. Der Satz: „Wollen sie immer noch die zusätzlichen Subventionen für ihre parteinahen Betriebe?“ lässt ihn erblassen.

Nach einer Bedenkminute meldet sich der Berliner und signalisiert seine Bereitschaft.



20:00 Uhr, Tagesschau

Der Pressesprecher des Berliner Senats:

„Der Regierende Bürgermeister hat für das Land Berlin die Einstellung aller Verrichtungen angeordnet. Das gilt ….. , warten sie, hier auf der Rückseite meines Blattes stehts, ….. ab sofort! Diese notwendige Maßnahme ist vorerst begrenzt auf 90 Tage, oder aber bis zum erkennbaren Ende der Verknappung an Toilettenpapier.“



Dienstag

ARD-Morgenmagazin

„Meine Damen und Herren, wir erhalten eben erste Bilder vom Alexanderplatz. Es ist unglaublich! Der ganze Platz ist über drei Meter hoch vollgestapelt mit Klopapier. Es ist kein Durchkommen mehr, erste Verschüttete mussten bereits geborgen werden. Die immer noch anströmenden vollbepackten Massen werden inzwischen zum Tempelhofer Feld umgeleitet.“
 
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G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Hein, das hat Kishon-Format! Vom "Schei …" musst du gar nicht reden, "Verrichtung" genügt. Und ehe du die Sache auflöst … während des Lesens habe ich mich auf die Schilderung einer Szene gefreut, die das abgebremste Verrichten beschreibt. Müsste gar nicht lang sein.
Gruß Joe
 

hein

Mitglied
Hallo Joe,

danke für die Sterne und die Anmerkung, aber bis zum "Kishon-Format" ist es wohl noch weit.

Ich habe die Geschichte bei der Talkshow ein wenig gekürzt und vor allem das Ende nach deiner Anregung umgeschrieben, siehe:

Die Lösung der Papierkrise (geänderte Version)


LG
Hein
 



 
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