Die Margarine-Esser

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Das liebste Tischgespräch der Großeltern war: was auf den Tisch kam, bei ihnen selbst - und vor allem: bei den anderen. Großmutter schnob durch die Nase und dann kam ihr Standardspruch: „Weißt du, Opa, was es bei denen gibt – MARGARINE!“ Opa grinste amüsiert und sagte verächtlich: „Ach so, Margaretchen …“ Das hieß: erledigt, indiskutabel, diese Leute. Wenn einer sich statt Butter Margarine aufs Brot schmierte, war das für die beiden der untrügliche Beweis, dass der Ärmste sich nichts leisten konnte. Nur eine Gruppe war noch übler dran als diese Margarinefresser – die, die überhaupt nichts zu beißen hatten. Auf sie gemünzt lautete die Feststellung, in hochdramatischem Ton vorgebracht: „Die? Die haben das Brot nicht über Nacht im Haus!“ Schlimmer konnte es um einen nicht stehen. Nun waren die Not- und Hungerzeiten schon länger vorbei, auch die Fresswelle der Fünfziger abgeklungen. Die Wirtschaftswunderjahre standen in ihrem Zenit, Diäten wurden langsam ein Thema - bald wird Twiggy die Bühne betreten. Woher dann diese panische Sorge ums tägliche Brot, die anhaltende Wut auf die Margarine und die Vergötterung der Butter bei den Alten? („Daumendick“ versprach die Großmutter sie dem Enkel aufs Brot zu streichen – doch er war ein schlechter Esser.)

Tante Adolphine, eine von Großmutters Schwestern, gab ihm eines Tages einen Tipp. „Weißt du“, sagte sie, „deine Großeltern behaupten immer, andere könnten sich nichts zu essen leisten, nur bei ihnen soll’s was Gutes geben … Das musst du nicht glauben. Ein bisschen viel Propaganda, meine ich. Deine Oma will sparen und das neue Haus schnell abbezahlen. Und deinem Opa macht sie es mit dem Gerede schmackhaft … Aber sag’s ihnen bloß nicht.“ Ihre Bemerkung – gepriesen sei sie dafür - führte für den Jungen zur ersten Einübung in Kritik und in selbständiges Denken. Er hörte nun genauer hin und erfasste bald Form und Inhalt der abendlichen Responsorien als Ganzes, ihre Struktur sozusagen. Sie liefen stets etwa so ab, wenn er die Küche betrat:

GROSSMUTTER: Ah, du kommst grade recht. Willst du mit uns essen? Haben dir deine Eltern nichts gegeben? Aber hier ist der Tisch immer gedeckt.“

ENKEL (schweigt, wohl wissend, dass eine Antwort nicht erwartet wird)

GROSSVATER: Frau, jetzt lass uns aber anfangen. Ist noch von der Blutwurst da? Ist das alles an Brot?

GROSSMUTTER: Nein, da unten liegt noch ein Dreipfünder. Als ob uns das Brot je ausgegangen wär! Das wär ja furchtbar – das Brot nicht über Nacht im Haus haben. Aber das kommt bei Leuten vor, von denen es keiner glaubt. Schicke Kleider und neue Mäntel und immer noch ein Hütchen …

GROSSVATER: Ja, außen hui – aber das Brot nicht über Nacht im Haus …

GROSSMUTTER (bringt von der Veranda einen kleinen gusseisernen Topf herein): Und dann müssen sie jetzt auch einen - Kühlschrank haben. Aber es ist nichts drin bei ihnen! Das hier ist unser Kühlschrank. Mit Butter und mit Wurst.

GROSSVATER: Kühlschrank? Alles nur Geschäftemacherei! Ist die Blutwurst noch in Ordnung? (Er riecht an ihr.)

GROSSMUTTER: Kann man sie noch essen? Geht wohl noch, hab ich erst vorgestern geholt. Bis zum Oberen Markt bin ich gelaufen, nicht mit der Straßenbahn, alles zu Fuß. Beim Schmidt war sie wieder billiger. Warum soll ich denen hier im Dorf die Wurst teuer bezahlen? Da lauf ich doch lieber bis zum Pilatus …

ENKEL (schweigt weiter. Ihm fällt auf, dass sie hier in Widerspruch zu ihrer Lieblingsmaxime sonst gerät: Der Preisunterschied liegt immer in der Ware, sagt sie, wenn sie sich in einem Geschäft das Ansehen einer potenten und kundigen Käuferin geben will – aber er hütet sich, die liturgische Handlung durch blasphemische Äußerungen zu stören. Man ist inzwischen zu Tisch gegangen.)

GROSSVATER (schneidet Scheiben vom Brotlaib für alle ab, jeder bestreicht die seine mit Butter und belegt sie mit der preiswerten Blutwurst): Das schmeckt wirklich gut.

GROSSMUTTER: Ja, beim Essen darf man nicht sparen.

GROSSVATER: Aber das machen die meisten, beim Essen sparen.

GROSSMUTTER: Wann gibt’s da schon mal Wurst?

GROSSVATER: Oder Butter?

GROSSMUTTER: Margarine!!!

GROSSVATER: Mit Fenner Harz drauf!

GROSSMUTTER: Und Fleisch …

GROSSVATER: … kennen die gar nicht. Das ist doch so wichtig. Sonntags ein Stück Fleisch, das gibt Kraft.

GROSSMUTTER: Fleisch, das ist für die meisten Leute ein Fremdwort.

GROSSVATER: Bub, sag, gibt’s bei euch droben so oft Wurst wie hier? Und wann kommt bei euch mal Fleisch auf den Tisch?

ENKEL (weiß, dass jetzt eine Antwort erwartet wird und welche. Aber zu Hause gibt es jeden Tag Wurst und nicht allezeit dieselbe billige Blutwurst. Und sie haben daheim nicht nur sonntags ihr Huhn im Topf, es ist ihm schon über. Also antwortet er zögernd und ungenau, in der Hoffnung, es allen recht zu machen): Nei – ein.

(Und das war nun seine erste Einübung in Unaufrichtigkeit - und auch in Scham darüber.)
 

Zoepfer

Mitglied
Die Story ist glaubwürdig und nachvollziehbar erzählt. Viele "Kriegsenkel" werden sich zumindest im Grundsatz wiedererkennen.
 
Danke, Zoepfer, für diese Reaktion. Ja, das ist die Welt der kleinen Leute von vorgestern, und ich habe lange gezögert, den Text hier vorzustellen - sein Stoff so fern von allem Heutigen. Meine eigene Emanzipation begann, als ich mit achtzehn wegzog und sofort Butter durch Margarine ersetzte.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

onivido

Mitglied
"Meine eigene Emanzipation begann, als ich mit achtzehn wegzog und sofort Butter durch Margarine ersetzte. " Ich habees schon immer geahnt. Die jungen Leute wissen nicht, was gut ist.
 

onivido

Mitglied
"Meine eigene Emanzipation begann, als ich mit achtzehn wegzog und sofort Butter durch Margarine ersetzte. " Ich habe es schon immer geahnt. Die jungen Leute wissen nicht, was gut ist.
 



 
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