Die Medienfrau

Alter Ego

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Wie sein Großvater gesagt hatte, war es ganz einfach. Und der musste es wissen. Er war schließlich dabei gewesen. Damals, als man noch aktiv gegen die Anderen vorgegangen war. Als man nicht zugelassen hatte, dass sie das Land vergifteten. Als man ihnen einen Riegel vorgeschoben und die Erde von ihnen gesäubert hatte. Doch in der heutigen Zeit gab es diese Lager nicht mehr. Die Anderen breiteten sich wieder aus wie eine Plage. Brachten Schlechtigkeit mit aus der Fremde, barbarische Kulturen und rückständige Ansichten. Sie waren eine reale Bedrohung. Das war eindeutig. Aber anstatt die Anderen wieder davonzujagen, wurden sie mit offenen Armen empfangen. Eine verdrehte Willkommenspolitik der gutgläubigen Menschen, die ihren Fehler nicht einsehen würden, bis es zu spät wäre. Wie sein Großvater damals musste er es nun selbst in die Hand nehmen. Einen Anfang machen. Er und die Seinigen. Gut vorbereitet bezogen sie im Morgengrauen Stellung. Nahmen Waffen in die Hand. Klopften nicht an.
Das Feuer brannte gut und hatte die Schädlinge aus ihren Verstecken gelockt. Das Spiel war in vollem Gange. Sie knickten Fühler und durchstießen Brustpanzer, knackten Schalen und rissen Flügel aus. Facettenaugen wurden starr und leer. Aber je mehr sie erwischten, desto lauter wurde das Summen. Füllte ihre Köpfe aus und zerrte an ihren Nerven. Irgendwann war nur mehr Chaos. Chaos und Angst. Und was das Schlimmste war, er wusste nicht, ob es die Angst der Anderen oder die eigene war. Nach einer Weile wusste er nicht einmal mehr, wer überhaupt die Anderen waren. Wir und sie. Sie und wir. Wer? Sein Herz wurde schwer. Er drehte sich im Kreis.
Ein plötzlicher Stoß gegen sein rechtes Bein. Er blickte hinab. Sah ein Kind von vielleicht fünf Jahren. Es blickte ihm mit offenem Mund und geweiteten Augen entgegen. Das Kind war wie erstarrt und hatte Tränen auf den Wangen. Er schloss die Augen. Schüttelte den Kopf. Wollte das Kind nicht sehen. Wollte nichts mehr sehen. Wartete. Bis die Schreie verstummt waren.
Später – offene Augen, die Münder verzerrt, lagen Gestalten verstreut, mit blutigen Armen und blutigen Beinen und zertrümmerten Knochen. Mittendrin eine gehisste Flagge. Rot-Weiß-Rot erstrahlte sie in der morgendlichen Maisonne.


Die Grausamkeit der Täter war nur allzu deutlich. Kleidung die in Fetzen hing, an blutigen und leblosen Körpern, und zwischen alledem die Flagge des Landes, die keinen Zweifel ließ an dem Motiv der Tat. Es war das erste Mal, dass die Medienfrau eine Tragödie dieses Ausmaßes mit eigenen Augen sah. Kein Fernsehbildschirm dazwischen, der nur ausgewählte Bilder zeigte. Kein Moderator, der mit einer einleuchtenden Erklärung die Umstände erläuterte und so alles in einen erträglichen Rahmen einbettete. Kein Artikel, in einer Boulevardzeitung abgedruckt, welche den Vorfall einem populistischen Zweck zuführte.
Nur die nackte, ungeschminkte Wahrheit. Und die war ernüchternd. Der Tod war nicht dargestellt, er war einfach da. Ganz pragmatisch. Ohne Filter, ohne Intention.
Sie betrachtete ihre Kollegen, die sich um gute Fotos rissen oder in Notizblöcke kritzelten. Sah die Sensationsgier in ihren Augen. Sah sich selbst. Wie sie werden könnte.
Die Medienfrau hörte das Schluchzen eines Kindes hinter sich und eifrige Journalisten auf es einreden. Eine ausländisch klingende Stimme mischte sich ein, offenbar um das Kind vor der Flut an Fragen zu schützen. Die Medienfrau nahm an, dass das Kind die Morde mitangesehen hatte, hoffte aber, dass dem nicht so war.
Sie betrachtete die Flagge. Dachte an die vergangenen Gräuel, die sie selbst nie mitbekommen hatte. An die Geschichten über Millionen von Toten, die, wie sie zugeben musste, für sie selbst nie mehr als eben Geschichten gewesen waren. Unvorstellbar und so fern. Sie dachte an Stolpersteine als Mahnmale und an die Vergesslichkeit der späteren Generationen.
Die Medienfrau hörte ein Fluchen. Dann einen erschrockenen Ruf, in einer Sprache, die sie nicht verstand. Ein Kind rannte an ihr vorbei. Es hatte Asche im Haar; Tränen liefen über seine mit Schmutz bedeckten Wangen. Das Kind schlüpfte unter dem Absperrband hindurch, eine Hand ausgestreckt in Richtung der Leichen und schrie ein Wort; ein Wort das die Medienfrau ungeachtet der Sprachbarriere verstand. Ein Polizist stellte sich ihm in den Weg, breitete die Arme aus und schüttelte energisch den Kopf. Er hob das Kind hoch, das ängstlich verkrampfte, und trug es fort.
Könnten prosaische Worte das Leid, das sich ihren Augen bot, auch nur entfernt wiedergeben? Ein Bericht, gedruckt auf Papier, formatiert und mit einer Schlagzeile versehen? Das Blutbad als reißerischer Aufhänger in einer Ausgabe der Sonntagszeitung auf Seite Vier? Eine Randnotiz irgendwo vor den Comics? Die Medienfrau schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
Was machte sie eigentlich hier? Sie gehörte nicht hierher. Wollte nicht hierhergehören. Da stand sie nun, umgeben von Gestalten, deren Gesichter verzerrt gleich Fratzen und deren Arme wie die von Cyborgs, mit Blitzlicht und Linse. Sie schrie die Cyborgs an, wollte machen, dass sie aufhörten, aber sie grinsten nur ihr übliches Grinsen.
Zum ersten Mal in ihrer Karriere packten sie ernsthafte Zweifel an ihrer Berufswahl.
Sie packte den erstbesten Reporter am Arm und schlug ihm die Kamera aus der Hand. Dann stampfte sie davon, während ihr der Mann wüste Beschimpfungen hinterherbrüllte.

Rettungsleute hatten die Leichen mit Tüchern bedeckt und legten sie nun auf Bahren, die zu zwei Dutzend säuberlich aufgereiht waren. Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel. Die Schar der geiernden Medienmenschen hatte sich noch vergrößert. Lippen leckend schlichen die Hyänen herum und heulten.
Die Medienfrau saß mit untergeschlagenen Beinen an eine Hausmauer gelehnt im roten Sand und brütete über ihren Notizen. Sie war eine halbe Stunde lang ziellos umhergelaufen, bis ihre Füße sie wieder zurückgeführt hatten.
Ihr Chefredakteur hatte sie angerufen und ihr deutlich gemacht, dass er die Story noch heute brauche. Es handle sich um eine wahre Sensation und es dürfe keine Zeit vergeudet werden.
Trotz des Unbehagens, das sie verspürte, hatte sie nun begonnen, erste Eindrücke aufs Papier zu bringen. Doch jedes Wort erschien ihr leer und nichtssagend. Alles was sie schrieb kam ihr anmaßend vor, wenn sie an das reelle Leid dachte – beinahe frevelhaft. Wörter besaßen Macht, Wörter erschufen fiktive Welten. Wörter waren Waffen. Wörter lösten Kriege aus oder schufen Frieden. Aber manchmal waren Wörter auch einfach nur Wörter.
Die Medienfrau legte den Notizblock weg und schlang die Arme um ihren Körper. Sie schloss die Augen. Sah in Gedanken die Menschen, deren Arme und Beine rot gefärbt vom Blut, deren Knochen zertrümmert und deren Augen offen waren. Sie fing an zu weinen. Ihre Tränen schmeckten nach Metall und färbten ihre Wangen wie Rouge.
Mit dem Kopf an der Hausmauer schlief sie ein. Träumte von grausamen Menschen und Bächen aus Blut. Von angsterfüllten Schreien und dem Schmerz des Sterbens, der sich ihr in der Farbe von Raben offenbarte.

Als die Medienfrau erwachte, fand sie sich umringt von singenden Gestalten. Sie konnte nichts verstehen, spürte bloß die Häme zwischen den Zeilen. Die Wand im Rücken kauerte sie sich zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Die Gestalten rückten näher, wurden drängender; die Lippen rot verschmiert sangen sie ihre alptraumhaften Lieder.
Die Medienfrau presste die Hände auf ihre Ohren. Doch die Stimmen wurden nicht leiser, ganz im Gegenteil. Der Gesang wurde lauter, immer monotoner, die Wörter verschmolzen, wurden zu einem penetranten Geräusch, das auszublenden unmöglich und das schwer zu ertragen war. Leiber drückten sich an sie, mit Linsen statt Augen und Stiften statt Fingern, zitterten vor Anspannung, und lechzten nach dem nächsten Blutbad.
Die Medienfrau schrie auf. Schlug um sich. Sie spürte sanften Widerstand in Form von Blumen. Sie knickte Stängel, ließ Blütenköpfe zu Boden segeln, vergrub ihre Fingernägel in die Blätter, riss diese ab, warf sie weg. Der Gesang wurde leiser und leiser; brach ab. Umgeben von Stille hielt sie schwer keuchend inne. Dachte an den Tod, an die Flagge, an das Blut. Sah zu Boden. Sah den roten Sand und weinte.
 
Zuletzt bearbeitet:

lexor

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Ich fand es sehr spannend!

Insbesondere die zwei Perspektiven, des Mörders und der Reporterin. Die vielen Punkte, die jeweils bearbeitet werden, geben ihr Tiefe (Fremdenhass, Mord, Schuldgefühle, Journalismus / Sensationssucht, Konsum, Profit)

Deinen Schreibstil finde ich auch klasse, die Andeutungen und Beschreibungen der Gefühle, super. Nur manchmal kann es etwas verwirrend sein, vor Allem der Schluss, vielleicht sollte es aber au so sein.

Anfangs beginnst du aus der ersten Person des Mörders um dann plötzlich in die dritte Person zu wechseln.

Wie Großvater gesagt hatte, war es ganz einfach. Und der musste es wissen...
1. Person

Wie sein Großvater damals musste er es nun selbst in die Hand nehmen.
3. Person
 

Alter Ego

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Danke fürs Lesen des Textes und deinen netten Kommentar.

Ich habe mich erstmals an Metaphorik versucht und gebe zu, dass der Text dadurch etwas verwirrend zu lesen ist. Freut mich aber, dass er dir trotzdem gefallen hat. Zu gegebener Zeit werde ich den Schluss vielleicht noch abändern, sofern mir etwas Passenderes einfällt.

Ich habe über deine Anmerkung nachgedacht und nachgebessert, damit von Anfang an klar ist, dass es in der dritten Person geschrieben ist.
 



 
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