Die Meute

Bo-ehd

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Sie nannte mich 'Goldie'



Ihr Menschen habt einfach kein Vertrauen! Das möchte ich einmal betonen. Warum sollen wir Hunde nicht sprechen können? Ihr habt Kipling gelesen, und jeder, der sich an diesen wunderbaren Geschichten um Mogli erfreut hat, weiß und akzeptiert, dass Tiere sprechen können. Dasselbe mit Grandville in Frankreich, der die Vertreter aus fast allen Tiergattungen vor Gericht treten und ihre Rechte einfordern lässt. Alle Menschen haben das verstanden. Was ist mit Winnie the Pooh, dem Bären? Natürlich kann auch er sprechen. Und ihr Menschen wisst das. Nur wenn ich meine Geschichte erzählen will, schüttelt ihr ungläubig den Kopf und behauptet stock und steif, ein Hund könne nicht sprechen. Ihr enttäuscht mich jetzt wirklich.
Natürlich weiß ich, dass Hunde nicht über den Sprachapparat verfügen, um sich so zu artikulieren wie Menschen. Das gesprochene Wort hatte bei uns auch noch nie eine Bedeutung für die Kommunikation. Und wir können auch nicht schreiben. Wie denn auch mit diesen Pfoten? Aber das bedeutet doch nicht, dass wir nicht kommunizieren können. Wenn uns von den Menschen Wörter in ihrer Sprache in den Mund gelegt werden, zum Beispiel in Form von Sprechblasen oder erzählten Dialogen, dann ist das eine Sache der vereinfachten Transskription, damit der Masse von euch verständlich gemacht werden kann, was wir Hunde in unserer Sprache ausdrücken wollen. Ich hoffe, Sie haben das jetzt verstanden.
Sie werden noch sehen, wie notwendig es war, diese Worte voranzustellen. Doch jetzt möchte ich von mir und meiner Geschichte erzählen.
Mein Name ist Goldie und bereits damit beginnt das Elend. Für eine siebenjährige Golden-Retriever-Dame ist dieser Name eine Zumutung. Wir sind Jagd- und Stöberhunde, vor allem aber Apportierhunde, wie der Name verrät, wir haben die feinsten Nasen der Welt, und nur weil wir hübsch aussehen, ein knuddeliges, samtweiches Fell haben und jegliche Aggression gegenüber Menschen ablehnen, landen wir auf den Schößen von irgendwelchen Tussis. So wie ich. Wenn Olanda, so heißt meine Hausherrin und Chefin, unter ihresgleichen weilt, etwa bei Kaffeekränzchen, nimmt die Demütigung besonders schlimme Ausmaße an. Dann glaubt sie, allen zeigen zu müssen, zu welchen Leistungen als Schoßhündchen ich imstande bin. Ich glaube manchmal, sie hält mich für masochistisch.

„Mach Sitz, meine liebe Goldie!“ Demütig setze ich mich und weiß nicht warum.
„Fein macht das meine Goldie-Maus, mein GoldieGoldieMäusleinchen!“ Großer Gott!
„Nun gib mir mal dein Pfötchen!“ Ich gebe ihr die linke. „Nein, das andere, das schöne!“
„Mach Platz, mein kleiner Liebling, dududududdelLiebling.“
Ich lege mich hin. „Fein macht das mein dleiner Liebling.“
„Bist doch schon ein dloßes Mädchen, meine putzimutziGoldie.“


Wenn ich nur wüsste, wie sich ein Hund die Ohren zuhält, ohne dass einer es merkt!
Aber es gibt auch einen Menschen, der genau das Gegenteil von Olanda ist: ihr Mann Gerolf. Er ist derjenige, der mich übernimmt, wenn es um Fellpflege, Arztbesuche und den täglichen Ausgang geht. Er ist eine Seele von Mensch und mit sehr viel Liebe und Verständnis für Tiere ausgestattet. Leider ist er zu wenig zu Hause. Wir kommen prächtig miteinander aus, und wenn er nicht wäre, wäre ich wahrscheinlich schon aus einem der Fenster in unserer Wohnung im vierten Stock gesprungen. Gerolf ist der Strohhalm, an den ich mich klammere. Ohne ihn, den Einmeterachtzigmann mit dem schwarzen Schnauzbart und den zurückgekämmten Haaren, wäre das Leben nicht mehr auszuhalten.
Eines Tages, es war, glaube ich, ein Samstag, zieht er sich seine Wanderschuhe an und legt sich die Leine um den Hals wie einen Schal. Ich bin sofort an seiner Seite. Er lässt die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen, und als wir vor dem Fahrstuhl stehen, sagt er mit einem Grinsen im Gesicht: „Weißt du was, Hund? Heute machen wir einen Ausflug. Nur du und ich. Wir fahren raus aus der Stadt, dann geht’s durch Wälder und Fluren.“ Sie haben es gemerkt: Er nennt mich lieber Hund, statt mich mit dem Namen Goldie zu quälen.
Ich wedele mit dem Schwanz, und er versteht sofort, wie sehr ich seinen Vorschlag gutheiße. Das war seit Wochen das Beste, das mir zu Ohren gekommen ist. Endlich mit meinem Freund mal richtig raus!
Wir fahren aus der Stadt heraus, und als wir das Häusermeer hinter uns gelassen haben, biegt er in einen Seitenweg ein und stellt das Auto ab. Er streift sich einen Anorak über, und dann laufen wir gemeinsam los. Eine Viertelstunde lang sagen wir kein Wort. Jeder hängt seinen Gedanken nach, doch dann bricht er das Schweigen. „Du warst vorhin wieder ziemlich gestresst, Hund, stimmt's?“
„Du hast nicht viel besser ausgesehen. Mal nervt sie mich, mal dich. Wir sind eine Leidensgemeinschaft, findest du nicht?“, antworte ich.
„Dich meckert sie wenigstens nicht an“, fährt Gerolf fort. „Ich würde mir am liebsten die Ohren versiegeln, wenn sie nur den Mund aufmacht.“
„Kann ich verstehen, mein Freund“, versuche ich ihn zu trösten. „Du kriegst eine ganze Menge ab. Und das jeden Tag. Was hast du ihr eigentlich getan, dass sie so boshaft ist?“
Mein Freund schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Du bist doch ständig zu Hause“, gibt er mir zur Antwort. „Hast du jemals ein böses Wort von mir gehört?“
Ich bleibe stehen und überlege. „Kann mich an keines erinnern“, murmele ich vor mich hin. „Stimmt: Du hast sie immer gut behandelt. Das ist eine verdammte Ungerechtigkeit, aber warum soll es dir besser gehen als mir?“
„Na ja, so schlecht geht es dir ja nun nicht. Ist da vielleicht etwas, von dem ich nichts weiß?“, fragt Gerold und neigt den Kopf leicht zur Seite.
Ich überlege genau, was ich ihm antworte: „Ich denke, ja. Du bist ja den ganzen Tag an deiner Arbeit, mein Freund, und deshalb bekommst du nichts mit. Ich kann nicht behaupten, dass sie mich verschimpft. Sie quält mich eben auf andere Weise.“
„Sie quält dich? Dich, ihr ein und alles? Das ist schwer vorstellbar, Hund, wirklich schwer vorstellbar. Du bist für sie eine Halbgöttin auf vier Beinen.“
„Ach, Gerolf, ich schätze, du wirst es nicht verstehen. Ich erzähle es dir trotzdem. Ich muss es mir irgendwie von der Seele reden.“
Er schaut mich mit großen Augen und voller Erwartung an, ich schaue mit großen Augen zurück. Unsere Blicke kreuzen sich, und die Worte fliegen unausgesprochen hin und her. Ich habe nicht den Eindruck, dass er auch nur ein einziges nicht versteht. Dann sprudelt es nur so aus mir heraus: „Schau, das Ganze fängt damit an, dass mich die alte Glucke zwingt, den ganzen Tag neben ihr auf dem Sofa zu liegen. Wenn ich mir mal die Beine vertreten muss, befielt sie mir sofort, auf dem Sofa wieder Platz zu nehmen. Wenn ich etwas trinke, passt sie auf, dass kein Tropfen die Fliesen einnässt, und wenn mir mal etwas von den Lefzen heruntertropft, zieht sie minutenlang vom Leder. Und dann hocke ich auch schon wieder neben ihr auf dem Sofa.
Während sie Tee trinkt, streichelt sie mich. Während sie liest, streichelt sie mich. Während sie isst, streichelt sie mich. Während sie fernsieht, streichelt sie mich. Ist das nicht grausam, Chef? Hinter meinen Ohren ist die Haut schon ganz wund. Aber das ist noch nicht das Schlimmste!“
Er schaut mich an, und ich erkenne das blanke Entsetzen in seinem Gesicht. „Tut mir leid, Hund, dass es dich so hart trifft, das habe ich nicht gewusst. Du sagst, es kommt noch schlimmer?“
„Ja, mein Lieber, am schlimmsten ist es, wenn sie sich die Fingernägel manü … manü …, ich meine, wenn sie sich diese künstlichen Schaufeln auf die Nägel klebt und mich damit streichelt. Das ist, als hätte sie eine Rasierklinge an jedem Finger.“
„Großgütiger! Das ist ja grausam!“ Gerolfs Gesichtszüge erstarren.
„Und dann kommt die Höchststrafe!“
„Die was?“
„Die Höchststrafe! Das ist der Moment, wo sie sich aufdonnert. Mit Schminke, Cremes, Parfüm und Lippenstift. Ein elender Mix an Gerüchen, sage ich dir. Und alles völlig überzogen. Eine glatte Vergewaltigung meiner Geruchsnerven ist das!“
Gerolf schüttelt den Kopf und schweigt. Ich kann mir gut vorstellen, was ihn beschäftigt.
„Ja, die Höchststrafe“, nehme ich den Faden wieder auf.
„Die Höchststrafe ist, wenn sie den Lippenstift zu stark aufträgt und dann glaubt, mich auf die Schnauze und die Lefzen küssen zu müssen. Dann habe ich nicht nur die rote Schmiere im Fell, sondern auch diesen widerlichen Geruch direkt an meiner empfindlichen Nase. Und das den ganzen Tag. Bis das Zeug verflogen ist, ist es Abend geworden. Ich könnte jedes Mal kotzen, aber sie lässt mich nicht aus der Wohnung. Ich kann ihr doch nicht auf den Teppich speien. So, mein guter Freund, jetzt weißt du, was mir auf der Leber liegt.“
Wir schweigen erneut und erreichen eine Bank. Gerolf setzt sich, ich lege mich zu seinen Füßen und schaue ihn an. Ich schätze, jeder von uns wägt ab, wer das schlechtere Los gezogen hat. Ich weiß es bereits, denn ich ahne, was meinem Chef durch den Kopf geht. Trotzdem traktiere ich ihn mit einer Frage. Er versteht sofort, wie ich an seinen Gesicht sehen kann.
„Würdest du es mir erlauben?“, frage ich und lasse meinen Wunsch unausgesprochen.
Er zögert und kann sich noch immer nicht aufraffen, klare Kante zu zeigen. Dann sehen wir uns wieder in die Augen, und die ungesagten Worte fliegen abermals hin und her. Ich neige meinen Kopf ein klein wenig zur Seite, um zu betonen, dass er es endlich aussprechen muss. Schließlich gibt er sich einen Ruck.
„Ja, ich glaube, es ist das Beste, wenn du jetzt gehst. Jeder braucht seine Freiheit, ob Hund oder Mensch.Kompromisse gehen nur bis zu einem gewissen Punkt, alles, was darüber hinaus geschieht, ist der Anfang einer langen Tortur. Geh, mein Hund, geh und werde glücklich!“
„Und du kommst nicht mit?“, will ich wissen.
„Nein. Ich kann nicht. Wenn man dreißig Jahre verheiratet ist, geht das nicht so einfach. Dafür gibt es tausend Gründe, die du als Hund nicht verstehen würdest. Erspar mir, sie zu erläutern.“
„Und was willst du ihr erzählen, warum du ohne mich heimkommst?“
„Das weiß ich noch nicht“, erklärt mir mein Freund. „Ich kann ihr auf jeden Fall nicht sagen, dass ich dich in die Freiheit entlassen habe. Ich werde ihr vorjammern, dass du abgehauen seist. Dann gibt es keine Streitereien, und dir kann es egal sein.“
Ich weiß nicht warum, aber ich halte das nicht für eine gute Ausrede.
„Du bist ein wahrer Freund“, erkläre ich noch einmal, schaue in sein deprimiertes Gesicht, und dann drehe ich mich um und gehe. Nur nicht zurückschauen, sage ich mir. Dieser Abschied ist schwer genug.

*

Ich bin jetzt schon den dritten Tag unterwegs. Im Freien zu schlafen und irgendetwas Fressbares zu finden, ist in der warmen Jahreszeit leichter, als ich dachte. Trotzdem vermisse ich meine geregelten Mahlzeiten. Jetzt habe ich richtigen Hunger, weil ich den ganzen Tag nur gelaufen bin und mich nicht ums Essen habe kümmern können. Da entdecke ich am Ortsrand einer kleinen Stadt einen Rummelplatz, auf dem sich zahlreiche Menschen tummeln. Sie bewegen sich zwischen beleuchteten Zelten und Buden, und meine Nase erhascht den zarten Duft von Bratwurst und gegrilltem Schweinebauch. Ich steuere schnurstracks auf das Geschehen zu und bin bester Hoffnung, hier wenigstens ein Stück Bratwurst zu ergattern, das aus einer Semmel gefallen ist. Oder wenigstens ein Stück von der Semmel. Das wäre eine wunderbare Abwechslung. Außerdem erschnüffle ich Stockfisch, und da bleibt erfahrungsgemäß immer relativ viel Fleisch an den Gräten.
Um die Grillbuden herum finde ich tatsächlich genug, um mich satt zu essen. Es ist ein herrliches Gefühl, mal wieder einen vollen Magen zu haben. Er macht mich ein bisschen faul, trotzdem will ich noch bleiben. Es gibt so verdammt viel zu entdecken auf diesem Rummelplatz.
Ich bleibe bei einem Mann stehen, der mit einem Hammer auf einen dicken Eisenbolzen schlägt, gehe dann zu einem anderen, der kleine Bälle verteilt, mit denen die Menschen auf Blechbüchsen werfen. Andere sitzen in Kabinen und lassen sich auf Schienen in die Höhe katapultieren, und wiederum andere, meistens Kinder, sitzen auf ausgestopften Ponys oder auf viel zu kleinen Motorrädern und fahren im Kreis herum. Mitten in diesem Trubel befindet sich ein Zelt, aus dem von Zeit zu Zeit kichernde und lachende Menschen herauskommen. Das macht mich neugierig. Ich nähere mich vorsichtig dem Eingang, kann aber nicht hineinschauen, um zu erfahren, was im Innern vor sich geht. Ich sehe nur grinsende und kichernde Besucher. Was mag das für ein Ort sein, der die Menschen so glücklich macht, frage ich mich und fasse den Entschluss, mir irgendwie Zutritt zu verschaffen.
Ich laufe ganz einfach dicht an dem Häuschen vorbei, in dem die Kassiererin sitzt, erklimme drei Stufen, und schon bin ich drin. Doch die Freude währt weniger als eine hundertstel Sekunde. Ich habe mich noch nicht einmal umgesehen, da starren mich um die fünfzig Hunde an. Alles Retriever wie ich. Ich erschrecke und schaue sie mit großen angstvollen Augen an, und die ganze Horde hat nichts anderes zu tun, als mir nachzuäffen und ebenfalls die Augen aufzureißen. Ich bin zutiefst verunsichert und ziehe zur Abwehr dieser Übermacht reflexartig die Lefzen hoch, um meine Zähne zu zeigen. Gleichzeitig starre ich in fünfzig zahnbewehrte Mäuler. Aber nicht nur das: Während ich nach links und rechts schaue, um einen Fluchtweg auszumachen, bewegt sich die Meute, und da erkenne ich, dass da noch viel mehr sind: schlanke Hochgewachsene, Spindeldürre, Bullige und Feiste, harmlos und gefährlich Aussehende. Alles geht trotzdem sehr diszipliniert zu, denn komischerweise bellt nicht ein einziger. So etwas Drohendes und Unheimliches habe ich noch nie gesehen. Sie werden mich in Stücke zerreißen, wenn sie sich bedroht fühlen. Schließlich bin ich unaufgefordert in ihr Terrain gedrungen. Was mache ich jetzt bloß, um die Sache zu deeskalieren?
Ich renne einfach los, so schnell ich kann, und irgendwie gelingt es mir, trotz der Panik und Todesangst diesen Höllenort zu verlassen. Ich renne, was meine Beine hergeben, mache keine Pause, sondern renne und renne und renne einem Leben mit schwer zu ertragenden Kompromissen entgegen, bis ich die Straße erkenne, in der mein Freund mit dieser Tussi wohnt. Mit einem Gewissen, das schlechter nicht sein könnte, erklimme ich die Stufen bis in den vierten Stock, setze mich vor die Wohnungstür und schlage mit meinen Zehennägeln ein paar Mal gegen das Türblatt. Nur Sekunden später werde ich von meiner Herrin hereingelassen.
Drinnen hätte ich mir am liebsten die Ohren zugehalten. Während sie mich auf den Schoß nimmt und anfängt, meinen Nacken zu kraulen, höre ich sie belfern: „Du immer mit deinen komischen Scherzen. Ich habe sie noch nie verstanden.“ Dann wandte sie sich an mich: „Hat dich dein Herrchen irgendwo aussetzen wollen? Das böse Herrchen, das!“
 



 
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