Die Musterung oder Coming-out 1969

In O. sollten damals Kasernen gebaut werden und der Staat kaufte dafür Land. Die Erdarbeiten begannen, wir konnten es von unserem Hof aus sehen. Mein Vater glaubte, ich könnte meinen Wehrdienst später dort ableisten und abends nach Hause kommen. Er war nicht auf der Höhe der Zeit, das wusste ich schon. Rekruten dienten doch gewöhnlich fern der Heimat.

Ich sagte zu ihm: "Mich kriegen sie sowieso nicht." Er lächelte überlegen: "Das hängt nicht von deinem Willen ab." Ein Sohn sagt in diesem Fall: "Du wirst schon sehen ..." Sein Lächeln wurde breiter.

Als die Musterung nahte, wohnte ich schon in M.. Mit mir war K. dorthin gezogen, um Psychologie zu studieren. Wir waren Klassenkameraden gewesen, der superkluge K. und ich. Sein Banknachbar hatte ihn oft vor uns anderen "Homo" tituliert und ihn dabei gerne gepiesackt. K. empfahl mir ein Buch über das Thema. Sonst berührten wir es nie. K. war neuerdings Sozialist.

An einem kalten Wintertag bummelten wir durch Heidelberg. Wir gingen ins Postamt, um uns aufzuwärmen. Da fragte ich ihn, ob er meinen Plan gutheiße. Ich sei ja homosexuell und hätte vor, es bei der Musterung anzugeben. Es kam mir leicht über die Lippen und war doch das erste Mal. K. schien mir peinlich berührt. Er sagte: "Ich würde das nicht tun ... Wenn es später bekannt wird, kann man in der Politik keine Rolle mehr spielen." Ich dachte: Na danke, wenn das dein Sozialismus ist ...

Auf dem Kreiswehrersatzamt ... Im Warteraum saßen noch mehr junge Männer. Einer las in James Baldwins "Giovannis Zimmer". Dann mein Coming-Out, Teil II. Ich gab es ihnen schriftlich auf dem Fragebogen, der vor der Untersuchung ausgefüllt werden musste. Der Arzt empfing mich sehr kühl, wenn auch mit Schärfe im Ton. Er halte meine Angabe für eine Schutzbehauptung, man werde mir schon das Gegenteil nachweisen. War das ein Kompliment? Er ließ in der Praxis eines Psychiaters anrufen: "Wir haben da wieder einen ..."

Beim Irrenarzt ... Es verlief denkbar harmlos. Dieser Arzt gab sich väterlich, begütigend. Er wollte wissen, ob ich Verkehr mit wechselnden oder immer denselben Personen hätte. Die Frage war mir unangenehm - ich war noch so jungfräulich wie möglich. Das verheimlichte ich ihm lieber und log ihm was vor: "Immer mit denselben." Zum Schluss sagte er: "Ich werde mein Gutachten erstatten. Seien Sie unbesorgt, der Paragraph fällt ja demnächst." Dann sollte ich noch eine Urinprobe abgeben. Ihr Sinn blieb mir unklar. Heute frage ich mich: War sie vielleicht für die Hormonforschung bestimmt?

Monate später kam der Bescheid: Dauernd untauglich ... wird ausgemustert ... unterliegt nicht der Wehrüberwachung ... Mein Leiden: Leistungsfunktionsstörung. Hurra! Mein Vater fragte nie, wie ich es erreicht hatte, um den Wehrdienst herumzukommen. Er wollte es wirklich nicht wissen. Die Kasernen in O. wurden übrigens nie gebaut. Sie fielen einem Sparprogramm zum Opfer.

Und K.? Er gab mir später einmal in Berlin zu verstehen, er habe neulich bei einer Demo auf dem Kudamm ein eindeutiges Angebot erhalten. (Nur Gebrauch hatte er davon nicht gemacht.) Auch er lächelte jetzt überlegen.
 
P

Pagina

Gast
Hallo Arno Abendschön: Geschichten, die das Leben schreibt, interessieren mich ganz besonders.
"Leistungsfunktionsstörung" ist ja wohl der Hammer - ja, ja, Psychiatriegeschichte ist auch eine düstere Geschichte...
Dein LyrIch war ganz schön mutig. Hut ab!
 
Danke

Danke, Pagina, für die freundliche Reaktion. Mut? Danach muss ich den Ich-Erzähler mal genau befragen. Eines weiß ich aber schon: Zu unseren Lebzeiten war davon glücklicherweise viel weniger erforderlich als in den letzten Generationen davor.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

anbas

Mitglied
Hallo Arno Abendschön,

der Text erzeugt in mir beim Lesen eine leicht lakonisch-melancholische Stimmung, was ich durchaus schätze. Ich finde sie insgesamt gut erzählt, so dass ich sie gerne gelesen habe. Lediglich die Abkürzungen bei den Namen stören mich. Ich fände es besser, die Namen auszuschreiben (falls es eine reale Geschichte ist, kann man ja fiktive Namen nehmen, oder die Ortsnamen weglassen). Aber das ist auch eine Frage des Geschmacks.

Liebe Grüße

Andreas
 
Danke

Danke, Andreas, für die freundlichen Worte. Dein Missvergnügen an den Abkürzungen kann ich schon nachvollziehen. Ich will mich auch nicht auf große Autoren von früher berufen, die das ebenso gemacht haben (Kleist, Kafka) - hier hat sich einfach das Bedürfnis nach Authentizität nur halb durchgesetzt. Also, O. steht für Ottweiler und M. für Mannheim. Heidelberg wurde ja schon ausgeschrieben. Nur K. muss unentschlüsselt bleiben.

Arno Abendschön
 

anbas

Mitglied
Hallo Arno Abendschön,

das mit der Authentizität kann ich durchaus nachvollziehen. Ich glaube, dass diese Geschichte nichts von dieser Authentizität verlieren würde, wenn sie mit den realen Namen geschrieben würde, und dort, wo es nicht möglich wäre, mit fiktiven Namen.

Du verweist auch mit Recht auf die großen Autoren. Ich sagte ja, dass dies auch eine Geschmackssache ist. Doch ich denke, es ist auch eine grundsätzliche Entscheidung, ob ich einen Text eher als "Tatsachenbericht" oder als Kurzgeschichte mit realem Hintergrund veröffentlichen möchte. Mir geht es so, dass ich Texte, die ein tatsächlich stattgefundenes Ereignis behandeln, zunächst oft sehr detailiert und tatsachenbezogen aufschreibe. Doch irgendwann reizt es mich immer mehr, die Kernaussage oder einen bestimmten Aspekt herauszuarbeiten. Dann genügt mir der "Tatsachenbericht" nicht mehr. Texte, bei denen ich ganz beim realen Geschehen bleiben will, weil sie für sich sprechen, setze ich hier in der LL dann ins Tagebuch - doch auch da hat zuvor dieser Entscheidungsprozes stattgefunden.

Bei Deinem Text geht es mir so, dass ich ihn irgendwo zwischen Bericht und Geschichte sehe. Ich glaube, es würde ihm gut tun, wenn Du Dich hier ganz für eine Seite entscheiden und dann konsequent umsetzen würdest. - Das ist jetzt aber zum Teil auch aus dem Bauch heraus gesagt/geschrieben :).

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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