Die Mutprobe

hein

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Die Mutprobe



Im Dorfkrug abends um halb sieben: an der Theke einige Männer, müde von der Arbeit und eben erst hingesetzt für ein erstes Bier, oder schon lange hier und ermattet von der letzten ‚Lüttjen Lage‘, einer Kombination aus Bier und Schnaps.

In einer ruhigen Ecke sitzt Götz Schriefhermann, der neue Junglehrer an der örtlichen Grundschule. Die Kochkünste des jungen Mannes tentieren gegen Null, sogar ein Spiegelei gerät bei ihm meist nur zu einem Fiasko aus halb garem Eiweiß und schlotterigem Gelb. So hat er es sich angewöhnt, abends hier in der Gastwirtschaft die einzige richtige Mahlzeit des Tages einzunehmen. Heute ist das Tagesmenü Rinderbraten mit Salzkartoffeln und zerkochtem Rotkohl. Nicht so wie beim Edel-Koch in seiner Heimatstadt, aber er wird satt.

Zwei Tische weiter giggeln seit einiger Zeit vier junge Frauen. Heike, Susanna, Luise und Jeanette, ‚beste Freundinnen‘ seit Kindheitstagen, planen einen gemeinsamen Ausflug nach Mallorca und sind eben bei dem heiklen Thema ‚Geld‘. Drei von ihnen können es sich leisten, aber Jeanette ist nur Friseurinnen-Azubi (Lehrling, wie man es hier immer noch nennt). Wenn sie von ihrem Lohn das Kostgeld bei ihrer alleinstehenden Mutter abgeliefert hat, bleibt für sie selbst praktisch nichts mehr übrig.

Susanna, immer die freundlichste und spendabelste, hasst Jeanette insgeheim seit dem Tag im Kindergarten, als diese ihr im Streit um eine Puppe ein Büschel ihrer schönen Locken herausgerissen hat. Seitdem trachtet sie danach, es der ‚Freundin‘ auf jede erdenkliche Art heimzuzahlen. Vordergründig sieht es dann aus wie reine Gutherzigkeit, aber das Ergebnis ist fast immer ein hinterfotziger Arschtritt.

Seit einer Weile beobachtet sie nebenbei den jungen Mann in der Ecke, dann erhellt ein Blitzen ihre Augen, und sie wirft ein: „Jeanette, ich leih dir das Geld! Du kannst es ja zurückzahlen wenn Du nächstes Jahr ausgelernt hast und die dicke Kohle machst. Aber es gibt eine Bedingung!“

„Ja?“, das Gesicht der Freundin leuchtet auf: „welche denn?“

Susanna beugt sich tief über den Tisch, macht es noch ein wenig spannend und raunt dann in die Runde: „Bring uns bis morgen früh die Unterhose des jungen Mannes dort in der Ecke!“

Die drei Anderen sind erstmal baff, linsen dann gemeinsam und deutlich unauffällig in Richtung des Genannten und beratschlagen flüsternd dieses ungeheure Ansinnen. Nach einer Weile gibt sich Jeanette schließlich einen Ruck und verkündet: „Ich mach das!“

Zwei kurz hintereinander gekippte Schnäpse später öffnet sie einen weiteren Knopf an ihrer auch so schon offenherzigen Bluse, stöckelt in Richtung der Garderobe, nestelt an ihrer Jacke und kommt auf dem Rückweg rein zufällig am Platz des ahnungslosen Opfers vorbei. Direkt neben dem Ziel setzt sie einen Fuß etwas schräg, knickt prompt den hochhackig beschuhten Fuß ab, und fällt direkt über den Tisch des völlig überraschten Lehrers. Der Inhalt des gerade frisch gefüllten Bierglases ergießt sich, bereichert um die Reste vom fast leeren Teller, über den Schoß des Opfers. Jeanette macht ein entgeistertes Gesicht, stammelt etwas wie „tut mir leid! Entschuldigung! Das wollte ich nicht! Lassen sie mal sehen!“, beugt sich weit über das Malheur und versucht, mit bloßer Hand die Reste von Bier, Soße und Blumenkohl von den Schenkeln zu wischen. Er, wehrlos mit der Nase tief in ihrem Ausschnitt, lässt es eine Weile über sich ergehen, legt aber dann doch zaghaft seine Hände auf ihre Hüften und schiebt sie weg: „Lassen sie man, das geht schon so!“

Jeanette, jetzt wieder ein wenig gefasst, setzt sich auf dem gegenüberstehenden Stuhl, sieht ihn an und verkündet: „Ich mache das natürlich wieder gut.“ Und in Richtung Tresen: „Martha, zwei große Bier und zwei Doppelte!“.

Zwei Stunden und etliche Runden später wanken beide, sich gegenseitig stützend, heimwärts.





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Am nächsten Morgen erwacht Jeanette mit dickem Kopf, pelziger Zunge und einem Magen, der sich anfühlt wie der Inhalt eines Klo’s während der Spülung. Ganz langsam dämmert der Ablauf des vorherigen Abends in das trübe Bewusstsein, und vorsichtig schielt sie zur anderen Seite ihres Bettes. Nichts! Scheinbar auch unbenutzt. Welch ein Glück!

Nach längerer Leidenszeit werden Durst und Druck auf der Blase dann doch übermächtig. Mühsam kämpft sie sich auf die Bettkante und von dort auf die Füße, schlüpft in die Hausschuhe und schlürft vorsichtig Richtung Flur. Dort verschwindet ihre Mutter gerade vor ihr im Badezimmer. Dafür zeigt ein Blick durch die weit offene Tür zu deren Schlafzimmer einen verstörenden Sachverhalt: Männerkleidung überall verstreut, obenauf und nicht zu übersehen: ein Paar rotbraun bekleckerte Hosen!

Jeanette, jetzt ein ganzes Stück wacher, erfasst die Situation, schleicht in Richtung der Schande, findet das gesuchte Kleidungsstück und stopft es sich unter das kurze Nachthemd. Gerade steht sie wieder im Flur, da kommt ihre Mutter aus dem Bad, lächelt sie verlegen an und verschwindet schnell in ihrer Lotterbude.

Kurze Zeit später liegt Jeanette wieder in ihrem Bett, erleichtert und froh über den guten Ausgang des Abenteuers und mit Vorfreude auf die dummen Gesichter ihrer Freundinnen. Als sie es viel später endgültig verlässt, ist der Besuch weg. Weder sie noch ihre Mutter werden dieses Thema jemals zur Sprache bringen.





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Einige Monate später ist bei Jeanette der sich rundende Bauch nicht mehr zu übersehen. Das Dorf, selbstverständlich über die Modalitäten der gemeinsam absolvierten Mallorca-Reise informiert, bringt dies natürlich in Verbindung mit der Beschaffung des unsäglichen Kleidungsstückes. Dabei wird ausgiebig darüber spekuliert, ob der vermeintliche Erzeuger wohl die Verantwortung übernimmt, oder ob das arme Kind, wie heutzutage leider üblich, als Alleinerziehende endet. Als man keinerlei Anzeichen einer Annährung der Beteiligten feststellen kann, geschweige denn von den Plänen für eine Eheschließung hört, verliert der Zugereiste doch einiges an Wohlwollen, und auch die Portionen im Dorfkrug werden merklich kleiner.

Erst als das Kind mit pechschwarzen Haaren geboren wird, und auch aus der Amtsverwaltung durchsickert, das als Vater ein „Juan Soundso“ eingetragen wurde, erholt sich das Ansehen des Herrn Lehrer langsam wieder.
 



 
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