Die Nachtseite des Mondes

rotkehlchen

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Die Nachtseite des Mondes

1

Am dreiundzwanzigsten Januar, morgens gegen acht Uhr dreißig, glitt der Immobilienkaufmann Holger Großkopf, 45, verheiratet, Vater einer vierzehnjährigen Tochter, auf dem Weg zur Garage über einer vereisten Stelle aus, verlor das Gleichgewicht, stürzte und schlug mit dem Hinterkopf hart auf dem Betonboden auf.
Eine Weile blieb er benommen liegen. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er in das bärtige Gesicht eines ihm unbekannten Mannes, der sich über ihn beugte.
„Wohnen Sie hier?“, fragte der Mann, und da Großkopf nicht sofort antwortete, half er ihm auf, ging mit ihm zur Haustür und drückte die Klingel. Kurz darauf öffnete sich die Tür, Frau Großkopf erschien und blickte die beiden Männer verwundert an.
Noch ehe sie etwas fragen konnte, sagte ihr Mann: „Da vorne liegt jemand, ruf bitte eine Ambulanz an!“ Die Frau trat einen Schritt vor, sah aber niemanden liegen. Der Fremde, unschlüssig hinter Großkopf stehend, schüttelte ratlos den Kopf.
„Jetzt brauch ich aber erst einmal eine ordentliche Tasse Kaffee“, sagte Großkopf, ließ die beiden wortlos stehen und ging in die Küche. In der Annahme, es handele sich um einen Bekannten ihres Mannes, fragte die Frau: „Möchten Sie auch einen Kaffee?“ Der Mann lehnte dankend ab, erklärte kurz, was geschehen war, grüßte und ging weg.
Großkopf hatte inzwischen am Küchentisch Platz genommen, eine dampfende Tasse Kaffee vor sich. „Liegt der Mann immer noch da?“, fragte er, als seine Frau in die Küche trat.
„Da liegt kein Mann“, erwiderte sie.
Großkopf schwieg.
„Du bist gestürzt?“, fragte Frau Großkopf nach einiger Zeit und sah ihren Mann aufmerksam an.
„Ich? Gestürzt? Wie kommst du denn darauf? Der Mann da draußen, der ist gestürzt! Jetzt erinnere ich mich! Ich hab´ ihm aufgeholfen. Deshalb liegt er nicht mehr da! Er wird nachhause gegangen sein.“
Großkopf trank seinen Kaffee aus, stand auf und sagte: „So, ich muss jetzt ins Büro.“ Er sah sich um. „Weißt du, wo meine Aktentasche ist?“
„Du kannst doch jetzt nicht ins Büro fahren!“, rief seine Frau entsetzt, „und mit dem Auto schon gar nicht!“
„Wieso denn nicht?“ Er ließ sich nicht aufhalten. „Ich komme eh schon zu spät.“ Entschieden drückte er ihr einen Kuss auf die Wange. Noch bevor sie weiter Einspruch erheben konnte, fiel die Haustür ins Schloss. Durchs Küchenfenster sah sie, wie er sich über die Hecke beugte und mit der Aktentasche in der Hand wieder hoch kam. Kurz darauf hörte sie, wie er das Auto anließ und davonfuhr.
Frau Großkopf ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Das sieht nicht gut aus“, murmelte sie und seufzte.

2

Die Immobilienfirma Salzmann & Sohn, in deren Firmenlogo der Hinweis: 'Seit 1949' unbedingte Seriosität und andauernden Erfolg andeutete, war eine der ältesten und umtriebigsten ihrer Art in der Stadt. Wenn irgendwo eine hochpreisige Immobilie zu vermarkten war, prangte meist in einem Fenster oder auf einem Aushängeschild im Vorgarten:

Salzmann & Sohn
seit 1949.

Der alte Salzmann, so hieß es, sei nach dem Kriege mit alten Heizkörpern reich geworden, die er aus zerbombten Häusern abmontierte und den Kunden seiner Baufirma anschließend teuer verkaufte. Obwohl diese Version von einigen als neidischer Klatsch verworfen wurde, so war doch zumindest so viel Fakt: Salzmann senior, ein vierschrötiger Kerl mit eine Figur wie ein Schrank, war ein unangenehmer Geselle gewesen, ständig auf seinen Vorteil bedacht und immer hinterm Geld her. Aber er habe wenigstens seine Angestellten anständig behandelt, so hieß es weiter, was man von seinem Sohn Rüdiger nicht gerade behaupten könne.
Dessen Steckenpferd war es, von den Provisionen seiner Leute wegen angeblich von ihm erbrachter Leistungen einiges in seine eigene Tasche zu leiten. Dabei hatte er es gar nicht nötig. Das große Geld machte er nicht mit der Vermaklung von Wohneigentum, sondern mit Industriebauten in Ostdeutschland, und dabei ging sicherlich nicht alles mit rechten Dingen zu. Wenn die jährliche Steuerprüfung anstand, lief er schon Tage vorher wie ein angeschossener Eber und mit Schweißtropfen auf der Stirn durchs Haus.
Das Betriebsklima war also denkbar schlecht, und auch Holger Großmann hatte darunter zu leiden. Allerdings nicht unter dem Chef, sondern wegen der Angestellten. Die hielten ihn für einen Darmparasiten Salzmanns und ließen es ihn auch spüren.
Allerdings, so Unrecht hatten die Damen nicht. Großkopf stand mit Salzmann auf du und du und war im selben Tennisclub wie er. Aber nicht das war es, was die beiden fast zu Freunden hatte werden lassen. Es war Großkopfs skrupellose Überredungskunst, die sogar in schwierigsten Fällen zum Kaufvertrag führte, eine Kunst, die sogar einem Chef wie Salzmann ein anerkennendes Brummen abnötigte. Wie zum Beispiel diese Schrottimmobilie, die schon mehrmals zur Zwangsversteigerung angestanden hatte und trotzdem immer noch oder schon wieder wie ein fauler Apfel im Schaufenster hing. Großkopf hatte sie endlich an den Mann gebracht beziehungsweise an die Frau, die in diesem Falle eine ältere Dame war, und zwar mit der Bemerkung, im alten gebrechlichen Häusern fühle sich der Mensch selbst weniger alt und gebrechlich. Und solange sich Großkopf in der Gunst des Chefs wusste, störte ihn das Gerede hinter seinem Rücken nicht.
Man kann sich sicherlich die verdutzten Gesichter vorstellen, als Großkopf an diesem Vormittag
den beiden Damen je eine langstielige rote Rose überreichte. „Herr Großkopf, was ist Ihnen denn passiert?“, fragte Frau Naujukat, die Leiterin des Abteilung Eigentumswohnungen verdutzt. Ihre Kollegin, Frau Holzhäuser, sagte nichts. Sie blickte Großkopf nur mit ihren großen, braunen Rehaugen skeptisch an und schnalzte mit der Zunge.
„Ach nichts“, sagte Großkopf leichthin, „ich dachte nur, es wäre mal an der Zeit, ein Zeichen der Versöhnung auszusenden. Außerdem liebe ich Frau´n, ob blond oder braun!“ Sprach´s und tänzelte ab in sein Büro.
Als Großkopf am späten Nachmittag in die Küche trat, staunte seine Frau nicht schlecht. Ihr Mann hielt einen Strauß langstieliger roter Rosen in der Hand, den er ihr bis auf eine, die er herausnahm, galant überreichte. „Für wen ist die denn?“, fragte sie, da ihr vor Überraschung nichts Besseres einfiel.
„Für Silke.“

3

Weder Frau noch Tochter kannten ihren Gatten und Vater wieder. Bisher hatte er meist ziemlich mürrisch seine Mahlzeiten verzehrt und war dann in sein Arbeitszimmer gegangen, um weißgottwas zu erledigen. Wenn seine Frau sich über seine Ungeselligkeit und Maulfaulheit beklagte, meinte er schmallippig, er habe den ganzen Tag von Berufs wegen gesellig sein müssen und schon genug geredet, die Kundschaft werde immer dickfelliger, und jetzt habe er sein rhetorisches Pulver verschossen.
Nun, neuerdings plauderte und scherzte er, dass es eine Art hatte, sprang auf, um dieses und jenes zu holen, was er bisher Frau oder Tochter hatte besorgen lassen, las Frau und Tochter jeden Wunsch von den Augen ab. Immer öfter brachte eine Flasche Sekt mit, die er Abends mit seiner Frau gemütlich vor dem Fernseher leerte. Frau Großkopf hätte die glücklichste Ehefrau der Welt sein können, wenn – ja wenn sie nicht felsenfest davon überzeugt gewesen wäre, dass mit ihrem Mann etwas nicht stimmte. Denn anders konnte sie sich diese krasse Veränderung seinem Verhalten nicht erklären. Sie wusste auch, was daran Schuld war: Es konnte nur der Sturz gewesen sein, von dem der Mann gesprochen, den sie aber selbst nicht beobachtet hatte, und den sie trotz allem immer noch nicht recht glauben mochte.
Die letzten Zweifel an dieser Befürchtung verflüchtigten sich, als er eines Abends barsch verkündete, er habe das ewige Fernsehen satt, er wolle lieber lesen oder klassische Musik hören.
Frau Großkopf, in dem bequemen Fernsehsessel schon fast eingeschlafen, richtete sich alarmiert auf. Ihr Mann hatte außer dem Wirtschafts- und Immobilienteil des Lokalblattes kaum etwas anderes gelesen – ja, natürlich den Sportteil auch –, und seitdem man alles im Internet erfahren konnte, noch nicht einmal das. Und klassische Musik... Der weiß doch noch nicht einmal, wie man klassisch schreibt, dachte sie verwundert. Sie überlegte, ob sie ihm nicht einen Arztbesuch anraten sollte. Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Freiwillig würde er nicht gehen, und zwingen konnte sie ihn nicht.
„Bist du wirklich sicher, dass du das morgen auch noch willst?“, fragte sie vorsichtig.
„Aber natürlich, meine Teuerste!“, war die Antwort.
Tatsächlich brachte Großkopf an einem der nächsten Abende einen Stapel CDs mit barocker Blockflötenmusik mit nach Hause und eine antiquarische Ausgabe von Goethes Gedichten. Auf die verblüffte Frage seiner Frau, warum gerade Blockflötenmusik und Goethe, sagte er, er habe als Kind Blockflöte gelernt, und seine Oma habe ihm den Erlkönig vorgelesen.
Während abends unten im Wohnzimmer der Fernseher lief, rezitierte Großkopf in seinem Arbeitszimmer bei Blockflötenmusik den Erlkönig von Goethe.

4

„Setz dich doch!“, sagte Salzmann. Zum Zeichen seiner freundschaftlichen Verbundenheit berührte er Großkopf mit seiner schildkrötenhaft breiten Hand am Arm.
„Holger, schläfst du gut?“ Sein Blick ruhte aufmerksam auf Großkopfs Gesicht.
„Doch, ich denke schon.“
„Denkst du´s nur, oder tust du es wirklich?“
„Doch, doch, ich kann nicht klagen.“
„Schön, sehr schön!“ Salzmann schnalzte mit der Zunge und versuchte ein gewinnendes Lächeln. „Und wie steht´s an den Wochenenden? Kannst du dich dann von dem Gedanken an die Arbeit frei machen? Mal so richtig ausspannen?“ Doch noch eher der Angeredete etwas erwidern konnte, redete Salzmann schon weiter. „Ich kann´s nicht! Meine Woche enthält fünfundsechzig Arbeitsstunden, selten weniger, meistens mehr.“ Er sah seinen 'Freund' mit grausamer Neugier an. „Übrigens, wie geht´s Monika? Wieder oben auf? Ach, fast hätt´ ich´s vergessen.“ Er griff hinter sich und brachte ein schmales Lederetui zum Vorschein. „Ein Schreibset mit vergoldeten Metallteilen. Ich dachte mir, das wär´ was für Silke. Ich brauch´s nicht, hab´ schon drei. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sie doch bald Geburtstag.“
„Was willst du?“, fragte Großkopf, „du hast dich doch noch nie nach meiner Befindlichkeit erkundigt.“
Die Tür ging auf, und der Kaffee wurde hereingereicht. Als die junge Angestellte wieder ging, sah Salzmann ihr lüstern auf den Hintern.
„Was willst du?“, wiederholte Großkopf.
Salzmann seufzte. „ Also schön. Um es kurz zu machen: Du weißt genau so gut wie ich, dass wir mittlerweile auf einem Berg schwer zu vermarktender Objekte sitzen, und jeden Tag kommen neue hinzu. Anscheinend zieht jeder, der es sich leisten kann, aus diesem Abschnitt des Rheingrabens weg, am liebsten, habe ich mir sagen lassen, nach Berlin-Brandenburg oder in die Lüneburger Heide. Die Gründe kennst du so gut wie ich. Dieser marode Meiler auf der anderen Rheinseite ist in höchstem Maße geschäftsschädigend.“ Salzmann schnaufte leicht. „Dabei ist der Reaktor doch schon seit letztem Jahr stillgelegt und das radioaktive Grundrauschen in seinem Umfeld nicht höher als in der Marktkirche!“ Er lachte dröhnend. „Ja, da staunst du, was? Aber es ist so! Dass Kirchen radioaktive Strahlungen aussenden, wusste ich bisher auch noch nicht! Das Urgestein, habe ich mir sagen lassen, aus dem zumindest der Kirchensockel besteht, enthält alle möglichen radioaktive Elemente. Und trotzdem halten sich in der Kirche ständig Leute auf, und in die Nähe des Atomkraftwerks wagt sich keiner! Ja, so ist der Mensch.“
Salzmann blickte aus dem Fenster, und für diesen Moment verengten sich seine Pupillen zu schmalen Schlitzen. Als er Großkopf wieder ansah, zeigte sein Gesicht die Trostlosigkeit eines zerrissenen Kinderkleidchens.
„Eine abstrakte Bedrohung, die dem Menschen immer wieder eingebläut wird, fürchtet er, eine reale, die er sich schön redet, verdrängt er. Oder anders ausgedrückt: Das Maß der Bedrohung, das die Leute empfinden, hat nur wenig mit der Realität, aber viel mit ihrer Einbildungskraft zu tun. Dabei – “
„Du erwartest also, dass ich Kaufinteressenten das Risiko kleinrede, um den Immobilienberg schneller abzubauen“, unterbrach ihn Großkopf. „Die Häufung von Schilddrüsenkrebserkrankungen in der Nähe des AKW stört dich nicht.“
Salzmann machte ein Gesicht wie ein neugeborenes Kalb. „Ich erwarte gar nichts, mein Lieber, ich stelle mir nur vor. Sieh´s doch mal so: Niemand würde sich über diese Krebserkrankungen aufregen, wenn sie nicht ständig in der Presse breitgetreten würden. Oder regt sich noch jemand über die fünftausend Kehlkopfkrebse jährlich durch Alkohol und Rauchen auf? Na siehst du! Die Zahlen werden einmal im Jahr veröffentlicht – der Staat oder wer auch immer ist ja so um die Gesundheit seiner Bürger besorgt – und dann war´s das schon! Schluss, aus und over! Oder glaubst du, dass die Bildchen auf den Zigarettenschachteln und der Hinweis, Rauchen kann tödlich sein, noch irgendeinen Raucher beeindruckt?“
Plötzlich erfasste Großmann ein abgrundtiefes Widerwillen gegen diesen Menschen, mit dem er schon so manche Flasche geleert hatte. Die Stärke dieser Empfindung überraschte ihn. Salzmann war noch nie anders gewesen, ein Zyniker, Weiberheld und Schwätzer. Warum stieß es ihm, Großkopf, jetzt so plötzlich und so stark auf?
„Nein, ich erwarte gar nichts“, fuhr Salzmann fort, „ich stelle mir nur vor. Ich stelle mir vor, du könntest interessierten Kunden klar machen, dass sie aufgrund eines übertriebenen Gefahrenbewusstsein der hiesigen Bevölkerung eine gute Immobilie weit unter Wert erstehen können, die sie mit unserer Hilfe in zehn Jahren abzahlen und in zwanzig gewinnbringend verkaufen können. Du, mein lieber Holger, besitzt den Drive, die Überzeugungskraft, ja, verzeih, du besitzt den Fanatismus, der dazu nötig wäre.“
Großkopf sprang wütend auf. „Nenne mich nicht noch einmal 'mein lieber Holger'!“ rief er unbeherrscht. „Und mit dir und deinesgleichen will ich nichts mehr zu tun haben! Ich kündige!“

5

Obwohl Salzmann die Kündigung zunächst ignorierte, blieb es dabei. Großkopf erschien nicht mehr in der Firma. Stattdessen begab er sich nach dem Frühstück in sein Arbeitszimmer und blieb dort bis zum Tee. Ein Mittagessen nahm er nicht ein. Nach dem Tee fuhr er bei trockenem Wetter weg und kam nicht selten erst bei Einbruch der Dunkelheit wieder zurück. Über Ziel und Zweck seiner Aktivitäten hüllte er sich in Schweigen. Allerdings deutete er an, er wolle sich selbstständig machen, und dazu seien allerhand Vorbereitungen nötig.
Seine Frau war von der neuerlichen Entwicklung kaum noch überrascht. Ihr Mann war ein derart anderer geworden, dass sie mit allem rechnete. Manchmal grauste es ihr sogar. So bestand er darauf, jeden Abend abzuwaschen, Strümpfe zu stopfen, staubzusaugen und dergleichen klassische Hausfrauenarbeit zu übernehmen. Zudem begann er, wieder Blockflöte zu spielen. Sein dilettantische Gepiepse führte dazu, dass der Fernseher lauter gestellt werden musste.
In finanzielle Bedrängnis geriet die Familie noch nicht, denn es waren genug Rücklagen da, und Salzmann hatte seinem ehemaligen Angestellten, von schlechtem Gewissen geplagt, einen größeren Betrag überwiesen, der wohl als freiwillige Abfindung gedacht war.
Seltsamerweise kam Großkopf eines abends nach Hause und behauptete mit ernster Miene, aber gut gelaunt, er stehe kurz davor, eine Immobilie zu verkaufen.Ob das Geschäft gelinge, hinge nur noch von einer Kleinigkeit an, die er aber 'im Griff' habe.
Seine Frau hatte es schon lange aufgegeben, Fragen zu stellen, und so fragte sie auch diesmal nichts.
Eines Tages im Mai – ein wunderbar blauer Himmel wölbte sich über der Terrasse, die Vögel sangen um die Wette, ein warmer Wind verwöhnte Mensch und Tier – druckste Großkopf am Frühstückstisch derartig auffällig herum, dass Silke auflachte und fragte: „Papa, was ist? Hast du die Gans gestohlen?“
Großmann blickte sie schelmisch an. „Das nicht gerade“, sagte er grinsend, „aber ich habe ein Gedicht verfasst.“
„Du hast ein Gedicht verfasst? Du?“ Frau Großkopf machte ein Gesicht, als habe sie gerade von einem siebenstelligen Lottogewinn erfahren. „Du kannst doch nicht mal einen Beipackzettel von einem Auszug aus dem Telefonbuch unterscheiden!“
„Monika, nun übertreib´ doch nicht schon wieder!“ rief Großmann beleidigt, „wollt ihr´s nun hören oder nicht?“
„Na klar, Papa, wir können´s kaum erwarten!“, rief Silke. „Lies vor! Ich denke, wir werden´s überleben“, fügte sie wenig einfühlsam hinzu.
Großkopf holte den Zettel hervor und las:


„Po
Ein musikal´scher Po-
lizist, der spielte gern Po-
saune. Er hielt nicht viel von Po-
litik und war ein großer Po-
kerheld und hatte schon Po-
kale. Er liebte den Po-
dolski sehr und andere nette Po-
len. Meistens war er po-
sitiv gestimmt, doch plagte ihn Po-
dagra. Da fuhr er an den Po-
larkreis und spielte dort Po-
lo. im Haar hatt´ er Po-
made. Dabei erfror er.
Schade!“​

Nachdem er geendet hatte, herrschte eine Weile ungläubiges Schweigen, dann prustete Silke los. „Mann, Alter! Wie geil ist das denn? Das soll ein Gedicht sein? Wo bleibt denn da der Reim?“
„Heutzutage reimt man nicht mehr“, sagte Großkopf ernst. „Man drückt sein Anliegen im freien Versmaß aus.“
„Aha! Und was war in diesem Fall dein Anliegen, wenn diese bescheidene Frage erlaubt ist?“
„Hmm... Nunja... Sagen wir doch mal so: Der Spaß an der Freude etwas zu tun, was nicht unbedingt einen Sinn ergibt. Das ist ja das spezifisch menschliche. Tiere machen nur sinnvolle Dinge, Eier legen, Nester bauen, wiederkäuen. Und es kostet nichts, im Gegensatz zu dem Unsinn, den unsere Politiker manchmal verzapfen.“
„Aber sie schreiben keine sinnlosen Gedichte.“
„Na ja, wenn du es so siehst!“
Seine Frau schüttelte bedenklich den Kopf. Das war ihr völlig neu. Ihr Mann zeigte plötzlich Freude am Sinnlosen. Ein Wesenszug, der ihr offensichtlich bisher entgangen war.
Und plötzlich wusste sie, was mit ihrem Holger los war. Der Sturz hatte sein anderes Ich, die andere, unbekannte, aber helle Seite seines Wesens, die unter der Last des Alltags verschüttet gewesen war, aktiviert. Mit Genugtuung stellte sie fest, dass ihr diese Entwicklung nicht unsympathisch war. Es hätte schlimmer kommen können, dachte sie.
Da wusste sie noch nicht, wie schlimm es noch kommen würde.

6

Der erste Hinweis, dass sich etwas Böses zusammenbraute, kam mit der Post, und zwar vom Amtsgericht und gegen Empfangsbestätigung. Es war ein gelber Umschlag mit Sichtfenster und allerlei geheimnisvollen Stempeln: Ein amtlicher Bußgeldbescheid. Frau Großkopf legte ihn gut sichtbar auf seinen Schreibtisch. Als er abends nach Hause kam, sagte sie erst einmal nichts und wartete ab. Wie gewöhnlich ging er, nachdem er abgelegt hatte, nach oben, um die Aktentasche in seinem Zimmer abzulegen und sich frisch zu machen. Wieder unten, war ihm nichts anzumerken, obwohl er den Brief gesehen haben musste. Er schwieg sich wieder einmal aus.
„Wieso musst du Bußgeld bezahlen“, fragte seine Frau nach einer Weile, „wo haben sie dich denn erwischt?“
„Mich?“ Großkopf blickte sie ungläubig an. „Niemand hat mich erwischt. Wie kommst du denn darauf?“
„Und wieso steht dein Name auf dem Brief?“
„Auf welchem Brief?“
„Auf dem da!“
„Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich eine Verwechselung.“
„Holger, sei bitte nicht kindisch! Sie schicken dir doch nicht aus Spaß einen Bußgeldbescheid!“ Frau Großkopf trat an ihren Mann heran und nahm seine Hand. „Mein Gott, was ist denn schon dabei! Du hast vergessen, die Mahngebühr zu bezahlen. Das kann doch mal passieren! Du bezahlst, und damit ist die Sache aus der Welt.“
„Einen Teufel werd´ ich tun!“ rief er aufgebracht und machte sich los, „ich bezahl´ doch nicht die Strafgebühr für einen wildfremden Kerl!“
Frau Großmann verlor allmählich die Geduld. „Und wer ist deiner Meinung der wildfremde Kerl“, rief sie, „der anscheinend ohne dein Wissen mit deinem Auto zu schnell gefahren ist und sich ein Knöllchen eingehandelt hat?“
„Na wer wohl? Dieser Mensch, der damals behauptete, ich sei gestürzt! Dabei war es doch genau umgekehrt! Er lag am Boden, und ich hab´ ihm geholfen! Mir kam der gleich verdächtig vor! Und jetzt versucht er, mir einen Bußgeldbescheid anzuhängen. Das ist nun der Dank!“
Die Frau stand eine Weile wie betäubt. Dann zog sie den Bescheid heraus und las. Vielleicht ist es ja tatsächlich eine Verwechselung, dachte sie dabei, allerdings wenig überzeugt.
Es erwies sich, dass Großkopf trotz wiederholter Aufforderung das Verwarnungsgeld weder bezahlt noch Einspruch erhoben, auch nicht wegen des Einspruchs nicht gezahlt hatte.
Was dann folgte, ließ ihr die Knie weich werden, und sie musste sich setzten. Da stand etwas von gerichtlicher Einziehung des Bußgeldes zuzüglich Mahn- und Verwaltungsgebühren, von eidesstattlicher Erklärung der Zahlungsunfähigkeit, von Erzwingungshaft...
Frau Großkopf ließ das Schreiben sinken und fragte tonlos. „Mann, bist du noch normal?“
Die Haustür ging, Silke kam nach Hause.
„Was ist denn mit euch los?“, fragte sie, als sie die versteinerten Gesichter der Eltern sah, „ist euch die Petersilie verhagelt?“
In diesem Moment geschah mit Großkopf etwas Eigenartiges, das in den nächsten Wochen bei ähnlichen Gelegenheiten noch öfters an ihm zu beobachten war: Seine verkrampften Gesichtszüge lichteten sich, er wirkte, als habe er eben ein großartiges Erlebnis gehabt und sei nun bester Laune. Er ging auf Silke zu, nahm sie in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „So, jetzt hab´ ich aber Kohldampf!“, flötete er, „was gibt´s denn heute, Mutter?“
Bei Tisch plauderte er munter drauf los, als sei nichts gewesen. Er berichtete lang und breit, was der- oder diejenige gesagt oder nicht gesagt und was er darauf erwidert oder nicht erwidert hatte. Frau Großkopf musste ihre gesamten inneren Kräfte aufbieten, um sein Geschwätz auszuhalten. Nach dem Essen stand sie auf und ging ins Wohnzimmer, derweil Großkopf die Küche aufräumte und abwusch. Silke hatte offenbar nichts bemerkt und half ihm.

8

Am nächsten Morgen stand Frau Großkopf erst auf, nachdem ihr Mann und Silke aus dem Haus waren. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und begrübelt.
Nach einem lustlosen Frühstück füllte sie den Zahlschein aus und brachte ihn zur Bank. Sie warf ihn nicht in den Briefkasten, sondern gab ihn am Schalter ab. Jetzt wollte sie kein Risiko eingehen. Auf dem Nachhauseweg kaufte sie sich ein schickes leichtes Sommerkleid. Nun war ihr leichter.
Doch schon als die Haustür hinter ihr zufiel, war von Erleichterung nicht mehr viel zu verspüren. Stattdessen breitete sich eine andere Empfindung aus: Misstrauen. Seine vollmundigen Ankündigungen, er sei auf dem besten Wege, Salzmann das Wasser abzugraben, nahm sie nicht ernst. Salzmann das Wasser abgraben! Auf diese Idee konnte nur ein Irrer kommen! Aber sein geheimnisvolles Getue um angebliche Immobilienverkäufe machte sie stutzig. Je länger sie über diese Ankündigungen nachdachte, desto verdächtiger erschien sie ihr.
Eine Weile stand sie unschlüssig. Was sie jetzt vorhatte, war ein ungeheurer Vertrauensbruch. Bisher war sein Schreibtisch für sie immer tabu gewesen, nie hatte sie seine Post geöffnet. Bis zu seiner Kündigung war der Schreibtisch ja auch mehr oder weniger ein aufgeräumter Landeplatz für Fliegen gewesen, denn gearbeitet hatte er in der Firma. Selten hatte er Unterlagen mit nachhause gebracht. Und das war es, was sie so verwirrte, je mehr sie darüber nachdachte. Was treibt er da oben die ganze Zeit, dachte sie, irgendetwas stimmt da nicht. Ihr fiel die Tragödie einer Bekannten, einer ehemaligen Schulfreundin ein, in deren Küchenschublade der Gerichtsvollzieher stapelweise unbezahlte Rechnungen zutage gefördert hatte.
Sie gab sich einen Ruck und stieg die Treppe hoch. Wie immer war sein Schreibtisch aufgeräumt. Neben dem PC lag seine Digitalkamera. Sie trat näher und sah, dass die Kamera mit dem PC verbunden war. Er lädt Bilder hoch, war ihr erster Gedanke. Der zweite: Bilder von Frauen. Sein übertrieben höfliches verhalten Frauen gegenüber hatte sie bisher amüsiert als kleinen Tick zur Kenntnis genommen, ohne dahinter eine Intrige zu vermuten. Nun ja, sie hatte ihn ja auch ganz anders kennengelernt: Als einen eher schüchternen, aber verlässlichen Partner, der froh war, endlich in den Hafen der Ehe eingelaufen zu sein. Doch nun stieg in ihr ein fürchterlicher Verdacht auf. Sie setzte sich an den Schreibtisch und schaltete das Gerät ein.

9

Großkopf hatte inzwischen sein Ziel erreicht: Die alte Generalsvilla. Diese heruntergekommene Immobilie lag ein knappe halbe Stunde Autofahrt auf verschlungenen Wegen von der Stadt entfernt, abseits eines kleinen Dorfes, umgeben von Wiesen und Feldern. Diese Abgeschiedenheit hatten nach dem zweiten Weltkrieg alliierte und deutsche Generäle – die allerdings mehr als Statisten – genutzt, um ungestört die Waffenstillstandsbedingungen vorzubereiten. Seitdem hatte die Villa mehrmals den Besitzer gewechselt, war als historische Gedenkstätte ins Spiel gebracht, dann aufgegeben worden. Nun verharrte sie schon seit Jahrzehnten unbewohnt im Dornröschenschlaf. Doch der Prinz, der sie wach küssen wollte, war schon unterwegs.
Da die Villa keine Adresse besaß und der Navi deshalb unbrauchbar war, musste Großkopf ein paarmal umkehren. Endlich tauchte die Villa hinter einer Wegbiegung auf. Er stellte den Wagen in der Einfahrt zu einer Kuhweide ab und ging die restlichen hundert Meter zu Fuß. Inzwischen hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Das große Gebäude war von einem Gatter umgeben, und er brauchte eine ganze Weile, bevor er eine Stelle fand, wo er sich hindurchzwängen konnte. Jetzt fielen ihm Fußspuren auf, die zu einem Hintereingang führten. Die verquollene Tür war nur angelehnt, und er trat ein.
In dem Flur war es kalt, und es roch muffig nach faulendem Holz und verschimmelnden Tapeten. Die Dielen waren morsch und gaben bei jedem Schritt nach. In einem Raum, der einst als Küche gedient haben musste, befanden sich mehrere Matratzen, Schlafsäcke, leere Flaschen, allerlei Abfall und noch einiges mehr. Eine trostlose Absteige von Obdachlosen.
Eine der Matratzen war bewohnt. In einem Schlafsack lag ein Mann, nur der bärtige und verfilzte Kopf ragte heraus. Großkopf ging auf den Schläfer zu, versetzte ihm einen Tritt und sagte: „Aufstehen und raus hier. Die Villa wird verkauft. In zwei Stunden ist ein Besichtigungstermin.“
Der Mann hatte nicht wirklich geschlafen, sonder nur gedöst und bei Großkopfs Erscheinen nichts Gutes erwartet. Trotzdem überraschte ihn dessen unfreundliches Gehabe.
„He, du Arschloch“, grummelte er, „tritt mich nicht nochmal!“ Seine Stimme klang rau, wie verrostet.
Doch Großkopf hatte sich schon abgewandt und mit der Besichtigung der unteren Etage begonnen. Auch diese Zimmer waren in dem gleichen vergammelten Zustand wie die Küche und der hintere Flur. Irgendwo gluckerte Wasser. Missmutig schüttelte er ein paarmal den Kopf. „Es wird nicht leicht sein“, murmelte er, „da ist Kreativität gefragt.“
Er kehrte wieder zu dem Mann zurück, der wieder in seinem Schlafsack eingerollt dalag. „Also was ist?“, sagte er, „fang schon mal an zu packen. Wenn du in zwei Stunden noch da bist, ruf ich die Polizei.“

10

Obwohl er fröstelte und möglichst schnell seine klamme Kleidung ablegen wollte, sprang Großkopf unterwegs aus den Wagen und kaufte zwei Schachteln Pralinen der Marke 'Abendküsschen' ein. Seine Fantasie schoss Purzelbäume. Er sah Monika dankbar in seine Arme sinken und hörte Silkes schnippische, aber anerkennende Bemerkung. Dann würde er ein Bad nehmen, und dann –
Als er die Wohnung betrat, war niemand zuhause. Leicht verwundert legte er ab, ging nach oben und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Dann stellte er die Aktentasche mit den Pralinen neben seinen Schreibtisch. Dabei fiel sein Blick aus das Tablet. Er hätte schwören können, dass es heute morgen, als er den Computer ausschaltete, anders lag. Aber hundertprozentig sicher war er sich nicht. Also dachte er nicht weiter darüber nach und stieg in die Wanne. Allmählich gewöhnte sich seine Haut an die Wassertemperatur, und er fing an, lauthals zu singen.
Unten klappte die Haustür zu. „Ich bin im Ba-ad!“ rief er überflüssigerweise, denn sein Gepruste und Geplantsche war auch unten zu hören.
Keine Reaktion.
Er stieg aus dem Bad, zog sich an, parfümierte sich dezent, nahm die große Schachtel 'Abendküsschen' aus der Tasche und ging nach unten in die Küche. Seine Frau schnitt gerade Brot. „Schau mal, Schatz, was ich hier Schönes habe!“, flötete er.
„Ich komme komme gerade von Salzmann“, sagte Frau Großkopf, ohne ihren Mann anzusehen.
Großkopf stand wie vom Donner gerührt. „Von Salzmann?“, echote er, „was soll das denn?“
„Ich habe mir heute morgen erlaubt, deine Website aufzuschlagen.“
Großkopf setzte sich. Die Pralinen legte er achtlos beiseite. „Ach ja, die Fotos!“, sagte er leichthin. „Das siehst du völlig falsch! Ich –“
„Ach nee, das seh ich also völlig falsch!“ Seine Frau knallte wütend das Messer auf den Tisch. „Sag mal, für wie blöd hältst du mich eigentlich? Du hast Fotos von Salzmanns Immobilien eingestellt, um sie auf eigene Faust an den Mann zubringen!“
„Je nun – “
„Je nun, je nun! Ich konnte Salzmann nur mit Mühe davon abhalten, hier aufzukreuzen und dich zur Sau zu machen! Er sagte, wenn er noch eine einzige dieser Offerten im Internet entdeckt, zeigt er dich an!“
Großkopf hatte sich wieder etwas gefasst. „Mein Gott, Monika, du regst dich für nichts und wieder nichts unnötig auf! Das sind doch alles Ladenhüter, alles mehr oder weniger Abrisskandidaten! Und Salzmann ist ohne mich nicht flexibel genug, diese Dinger loszuwerden. Vielleicht weißt du es nicht. Aber die Russen und Chinesen kaufen momentan alles auf, was noch halbwegs gerade Wände hat. Wenn ich –“
„Rede keinen Unsinn! Niemand hat dich beauftragt, Salzmanns Häuser zu vermarkten, und damit Schluss der Diskussion!“
„Stimmt nicht! Zumindest nicht, was die Villa betrifft, die ich heute besichtigt habe.“
„Welche Villa?“
„Na die alte Generalsvilla bei Schönhausen.“
„Und wer hat dir da den Auftrag gegeben?“
„Wer? Na dieser Mann, dem ich damals aufgeholfen habe. Ich war heute dort und hab mir den Kasten mal angesehen. Ein schwieriger, aber kein hoffnungsloser Fall. Da ist Kreativität gefragt. Aber bisher ist alles verkauft worden. Ist nur eine Frage des Preises. Der Mann war übrigens auch da. Er war wieder gestürzt und lag auf dem Boden. Ich wollte ihm aufhelfen, aber er wollte lieber liegenbleiben. Ich denke, dass er mir morgen den Auftrag –“
Frau Großkopf hatte der Rede ihres Mannes mit wachsendem Entsetzten zugehört. Was sie bisher nicht wahrhaben wollte, war jetzt Gewissheit: Er ist wahnsinnig geworden.
Der fühlte sich großartig. „Siehst du, Moni, so klärt sich alles auf!“ rief er erleichtert. „Und ein Abschluss rückt in greifbare Nähe!“ Er griff hinter sich und holte die 'Abendküssen' hervor. „Schau, meine Teuerste, das hab ich dir mitgebracht. Ich konnte nicht widerstehen. 'Abendküsschen', wie verlockend! Die kosten wir nachher im Bett! Und dann, hahaha!“ Begeistert klatschte er sich auf die Schenkel.
„Danke“, sagte seine Frau. Irgendwo meinte sie gehört oder gelesen zu haben, dass man Verrückte, um sie nicht zu reizen, am besten in ihrem Wahn bestärkt. Außerdem hoffte sie, ihn auf diese Weise zu einem Arztbesuch bewegen zu können. Sie legte die Pralinen beiseite und tischte weiter auf.
Silke kam herein und setzte sich. „Na, wie war´s im Stall?“, frage Großkopf gut gelaunt.
„Na ja, so wie immer. Der Hengst von Meike hat Schlundverstopfung. Sag mal, sind die Pralinen da für mich?“
„Ach herrje, deine liegen noch oben! Ich hol sie gleich!“
„Holger, lass uns doch erst mal essen“, mahnte Frau Großkopf.
Großkopf aß mit gutem Appetit und reichlich, Silke, um ihre Figur besorgt, weniger, und seine Frau noch weniger.
„Monika, du isst ja garnichts“, sagte Großkopf nach einer Weile, „denk an heute Abend, da musst du bei Kräften sein!“
Frau Großkopf schrie auf, warf Messer und Gabel beiseite und lief, gefolgt von Silke, hinaus. Im Schlafzimmer warf sie sich aufs Bett uns starrte an die Decke, neben ihr Silke, die nicht recht wusste, was plötzlich in ihre Mutter gefahren war aber aus Solidarität ihre Hand hielt. Aus der Küche erklang das Geklapper von Geschirr. Holger wusch ab. Dann war es eine Weile still im Haus, bis auf einmal über ihr die bekannten Blockflötentöne erklangen.
Frau Großkopf richtete sich abrupt auf und schüttelte die Faust zur Zimmerdecke.. „Du bist doch wahnsinnig!“ schrie sie, „willst du uns alle ins Irrenhaus bringen? Du elender Versager!“
Die Flötentöne brachen ab, dafür erklang nach einiger Zeit Barockmusik. Frau Großkopf warf sich in die Kissen und brach in hemmungsloses Schluchzen aus.

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Zeit heilt Wunden, sagt man, und Gras wächst über Gräber. Doch die Zeit heilt keine Wunden, die immer wieder aufbrechen, und das Gras wächst nicht über Gräber, aus denen immer wieder neue Boten des Unheils auferstehen.
Zunächst schien es, als sollten sich die Verhältnisse im Hause Großkopf wieder einigermaßen normalisieren. Großkopf löschte die Seite, und von selbstständigen Hausverkäufen war nicht mehr die Rede. Ja, er stellte sogar das Blockflötespielen ein, nachdem ihm seine Frau mehrmals gesagt hatte, das ständige Gepiepse mache sie noch wahnsinnig. Das Wichtigste aber war: Salzmann, der in gewissen Dingen ein Hallodri, aber sonst anscheinend doch kein übler Kerl war, vermittelte ihm eine Stelle bei einem befreundeten Unternehmer, indem er Großkopfs Fähigkeiten als Verkäufer anpries, mit der Aussicht auf Festanstellung.
Großkopf, an dem der Reinfall mit der Seite und der Generalsvilla anscheinend abgeperlt war wie Regenwasser von einem Rosenblatt, lief wieder zu alter Form auf. In der neuen Stelle redete er mit Engelsgeduld auf die 'gnädige Frau' ein, brachte seinen perfiden Augenaufschlag zum Einsatz, der alles andeutete, aber nichts versprach, scharwenzelte hier, dienerte da – und die Kundin kaufte, entweder überzeugt oder genervt. Zeigte sich jedoch der Gatte oder näherte sich ein Mann, dann verstummte er.
Morgens ging er aus dem Haus und kam am späten Nachmittag wieder. Wie ein Storch, der ja bekanntlich nie ohne Präsent zu seiner Störchin zurückkehrt, und sei´s auch nur ein kleiner, dünner Zweig, brachte er seinen 'beiden Frauen', wie er sich ausdrückte, jeden Arbeitstag ein kleines Geschenk mit. Dann, beim Abendessen, plauderte er unbeschwert und breitete den jüngsten Klatsch aus der Firma aus. Was er nicht sagte, war dies: Der Chef hatte ihn schon mehrmals dringend ermahnt, die männliche Kundschaft genau so höflich zu bedienen wie die weibliche.
Endlich ließ er sich herab, die eine oder andere Fernsehsendung mit anzusehen, allerdings erst nach zehn Uhr. Die Zeit bis dahin, meinte er, sei ihm zum Vertrödeln vor der Glotze zu schade. Er wolle sich lieber mit der Liebeslyrik des Barock beschäftigen. Er habe ja nie geahnt, was es das alles zu entdecken gebe.
Ein wiedererstandenes Familienidyll?

12

Für den kommenden Sonnabend waren sie zu einer Abendgesellschaft eingeladen. Frau Großkopfs beste Freundin, seit einem Jahr wieder verheiratet, feierte ihren vierzigsten Geburtstag. Sie wollte gerne hingehen, er wollte nicht. Der Bekanntenkreis dieser Freundin bereitet ihm Magenschmerzen, denn es waren hauptsächlich Philologen, und sein Sinn stand jetzt weder nach Small Talk noch nach tiefschürfenden Gesprächen. Schließlich ließ er sich breit schlagen, und sie gingen hin.
Als sie leicht verspätet ankamen, standen die Gäste schon mit Sektgläsern in der einen und belegten Schnittchen in der anderen Hand herum und unterhielten sich. Das Geburtstagskind kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und rief: „Schön, dass ihr doch noch gekommen seid!“ Sie umarmte erst Frau Großkopf und dann deren Mann. Der überreichte ihr mit großartiger Geste den Strauß mit den vierzig Teerosen und nahm ihren Dank mit heiterem Augenspiel entgegen.
Jetzt erschien auch der Gatte des Geburtstagskindes. Sofort verfinsterten sich Großkopfs Gesichtszüge. Er gab sich keine Mühe, seine Abneigung zu verbergen und wandte sich nach kurzer Begrüßung ab. Eine Weile dachte er an Flucht, doch dann drückte ihm die Tochter des Hauses ein Sektglas in die Hand, und er blieb.
Inzwischen war ein weiterer Gast eingetroffen. Es war der Cellist Barckhausen, Musikerzieher und Dirigent eines Laienorchesters, den Großkopf von einer früheren Abendgesellschaft her kannte. Er hielt ihn für einen eingebildete Laffen und Erz-Egozentriker. Besonders seine Manierismen beim Reden und seine Art, sich die Haare seiner dichten Mähne mit allen fünf Fingern aus der Stirn zu streichen, ärgerten ihn. Barckhausen redete viel und übertrieben laut, dehnte manche Wörter unanständig lang und wiederholte sich häufig. Er war eine bühnenreife Erscheinung mit großem Schädel und wallendem Haar. Heute war er mit einem Dreitagebart erschienen. Meist hatte er schnell ein Publikum um sich geschart. Da Großkopf ahnte, was jetzt kam, öffnete er die Terrassentür und ging hinaus in den Garten.
Es hatte gerade geregnet, der Boden dampfte. Die Luft war mild, und am Himmel tauchten die ersten Sterne auf. Er ging ein paar Schritte auf und ab und zog die würzig duftende Luft gierig durch die Nase ein. Dann blieb er stehen und schlug sich mehrmals mit der flachen Hand gegen die Stirn. Es sah aus, als versuchte er sich krampfhaft an etwas zu erinnern. Er stöhnte auf, schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg fort.
Von drinnen wurden Töne laut. Großkopf ging zurück und blickte in das Wohnzimmer. Die Gastgeberin saß am Klavier, Barckhausen saß hinter seinem Cello. Einige Gäste saßen ebenfalls, andere standen an den Wänden. Auf den Gesichtern der meisten lag erwartungsvolle Ergebenheit. Barckhausen sagte, dass sie eine Sonate von Brahms spielen wollten, hob den Cellobogen, und die Gastgeberin versenkte ihre Hände in der Klaviatur.
Noch bevor sich Großkopf abwenden konnte, berührte in jemand an der Schulter. Seine Frau. „Warum kommst du nicht herein?“, fragte sie, „die beiden spielen nicht schlecht, und du liebst doch klassische Musik!“
Großkopf erwiderte: „Ich mag diesen Mann nicht, und seine Musik erst recht nicht.“ Noch während er die Worte sprach, bereute er sie schon wieder. Er sah das Gesicht seiner Frau, heiter und jugendfrisch, und erkannte, dass sie immer noch schön war, trotz aller Enttäuschungen, die er ihr bereitet hatte. Er fühlte einen Stich im Herzen und dachte: Sie fühlt sich wohl, und ich bin kurz davor, ihr alles zu verderben! Nun wollte er kein Spielverderber sein und sagte: „Gut, gehen wir hinein!“
Die Kammermusiker waren jetzt beim zweiten, dem langsamen Satz der Sonate angekommen. Großkopf hörte eine Weile zu, dann flüsterte er seine Frau etwas zu und verließ den Raum.
Als er wieder zurück ins Wohnzimmer kam, stand seine Frau inmitten einer Gruppe Wissbegieriger, die mit leuchtenden Augen den Cellisten umlagerten und seinen Worten lauschten. Das Cello wie eine Gans, der man den Hals umdrehen will, am Griffbrett haltend, redete Barckhausen auf die Leute ein.
„Soo ein Talent, sag´ ich euch!“, rief er gerade begeistert. Da er auch noch an der Musikschule tätig war, wusste er immer viel zu erzählen. „Und sooo ein Ton! Uuun-glaub-lich! Solch ein Talent habe ich lange nicht mehr unterrichtet. Und das mit zwölf! Herrje, mit zwölf! Und dieser Ton! So einen Tooon erreichen die meisten im Leeben nie!“ Seine linke Hand fuhr durch den dichten Haarschopf. Jetzt dämpfte seine Stimme geheimnisvoll. „Nun ja... Das rechte Handgelenk ist noch etwas steif, aber das kriegen wir auch noch hin! Die Kleine wird es mal weit bringen!“
Jemand wagt schüchtern zu bemerken, die Jungen spielten manchmal besser als die Alten.
Barckhausen rudert mit dem freien Arm wie ein Eisläufer, der mit dem Gleichgewicht kämpft, verzieht das Gesicht und blickt die Dame böse an. Wer unterbricht ihn da? Und schon redete er mit erhöhter Stimmlage weiter. Dieser Schüler kommt weniger gut weg, anscheinend ein hoffnungsloser Fall.
Großkopf steht, gegen ein Bücherbord gelehnt, etwas abseits und blickt vor sich hin. Er sieht aus, als denke er angestrengt über etwas nach. Und jetzt geschieht das Unerwartete. Mit dem Ausruf: „Warum hab´ ich das nicht gleich gesehen!“, stößt er sich von dem Bord ab, rennt zu Barckhausen hin und versetzt ihm mit dem Ruf. „Verräter!“ eine schallende Ohrfeige. Dann stürzt er wutentbrannt aus dem Haus.
Seine Frau, auf dem Nachhauseweg, fragte nichts. Er fing von selber an. Er habe ihn nicht sofort erkannt, sagte er, aber jetzt wisse er Bescheid. Der Mann verfolge ihn schon seit einiger Zeit, immer wieder in anderen Verkleidungen. Erst als angeblich gestürzter Passant, dann als Obdachloser, jetzt als Cellist. Außerdem habe er ihm die Villa versprochen und aus irgendeinem Grund einen Rückzieher gemacht. Der Ohnmachtsanfall damals sei eine Finte gewesen, mit der er sich sein, Großkopfs, Vertrauen erschlichen habe.
Es ist jetzt nicht nötig, die Stimmung zu schildern, in der Frau Großkopf nach Hause kam, und die in den nächsten Tagen und Wochen ihr gesamtes Denken und Trachten beherrschte. Es ist aber nötig, die Geschichte bis zu bitteren Ende zu erzählen. Und das sieht nicht gut aus.

13

Großkopf wurde wegen Beleidigung und Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt. Aus der Firma flog er raus. Er hatte einen Kunden beschimpft. Dass dies geschah, weil der Kunde einen starken Haarwuchs aufwies, konnte niemand ahnen.
Es war seltsam: Auch diese Ereignisse und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten konnten ihm seine gute Laune nicht nehmen. Er vermittelte den Eindruck, als ginge ihn das alles gar nichts an. Als ihn seine Frau einige Tage nach der Ohrfeige fragte, ob er sich nicht doch in therapeutische Behandlung begeben wolle, fiel er aus allen Wolken. „Wieso denn das?“ rief er erstaunt, „wenn du die Ohrfeige meinst – die war schon längst überfällig! Vielleicht lässt er mich jetzt endlich in Ruhe!“
Allerdings machten sich jetzt in zunehmendem Maße nachdenkliche Phasen bei ihm bemerkbar. Mitten im Geplauder hielt er plötzlich inne und blickte grübelnd vor sich hin. Wenn ihn seine Frau fragte, worüber er denn nachdenke und ob ihn etwas bedrücke, sagte er: „Ach, da ist nichts.“
Auch wirtschaftlich sah es mittlerweile nicht gut aus. Auf die Familie kamen schwere Zeiten zu. Und Großkopf machte keinerlei Anstalten, sich arbeitslos zu melden. Seine Frau indes zog Erkundigungen ein, wo sie in ihrem erlernten Beruf als Sekretärin wieder Fuß fassen könnte. Die Aussichten standen nicht schlecht. Gute Kräfte wurden händeringend gesucht.
Da trat Großkopf mit einer neuen, unbegreiflichen Tat die kleine Flamme der Hoffnung, die in den Herzen von Frau und Tochter noch gebrannt hatte, endgültig aus.
Um die Zeit totzuschlagen, hatte er sich neuerdings angewöhnt, ausgedehnte Spaziergänge durch die Stadt zu machen oder mit dem Auto in der Gegend herumzufahren. Eines Tages, es war ein Sonnabend im September – Datum und Uhrzeit sind in den Polizeiakten genau vermerkt – hörte seine Frau, wie er den Wagen in der Garage abstellte und pfeifend ausstieg. Kurz darauf trat er ins Wohnzimmer, wo sie gerade das Fernsehprogramm studierte.
„Monika, endlich hab´ ich ihn erledigt“, sagte er mit geheimnisumwitterter Miene, „jetzt ist ein für alle Mal Ruhe!“
Seine Frau ließ die Zeitschrift sinken. „Was ist geschehen?“ fragte sie voll böser Ahnungen.
Großkopf zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. „An seinen Haaren hab´ ich ihn wiedererkannt. An irgendetwas erkennt man einen Menschen immer, weißt du, auch wenn er sich noch so verstellt. Bei dem einen sind´s die Augen, bei einem anderen ist´s die Art, wie er sich bewegt, und bei dem hier waren es eben die Haare, Weißt du, Moni, diese Haare –“
„Holger, rede jetzt keinen Schwachsinn!“ fauchte Frau Großkopf aufs Äußerste aufgebracht, „was hast du getan?“
Großkopf stutzte. So erregt hatte er seiner Frau noch nie erlebt. „Monika, warum schreist du so? Was ich getan habe? Das will ich dir ja gerade erklären! Aber nur, wenn du nicht mehr schreist!Also, als ich an der Gruppe vorbeifuhr, blickte er genau in meine Richtung. Ein Irrtum war nicht möglich. Ha! Der hat mich lange genug hinters Licht geführt. Weißt du noch, damals, als ich mich selbstständigen machen wollte?“ Großkopf schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht fassen. „Wer hat da wohl meine Seite gelöscht, na? Er natürlich! Und dann das mit der Generalsvilla! So ein gemeiner –“
Es klingelte. Großkopf sprang auf. „Ich geh´ schon!“
Trotz ihrer Betäubung hörte Frau Großkopf deutlich, wie sich jemand mit knarrender Stimme als Hauptkommissar Heiland vorstellte. Alles weitere nahm sie nur noch verschwommen wahr. Die Stimme fragte: „Sind Sie Herr Holger Großkopf? Sie sind vorläufig festgenommen wegen versuchten Mordes in drei Fällen.“

14

Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen erbrachten zum Tatmotiv keine Klarheit. Großkopf machte ausgiebig von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch und verwies auf Erinnerungslücken. Der Hauptkommissar mit der knarrenden Stimme tischte der Öffentlichkeit einen geistig verwirrten Täter auf, der aus Fremdenhass mit seinem Auto in eine Gruppe von jungen Asylanten gefahren sei. Ein terroristischer Hintergrund könne vermutlich ausgeschlossen werden.
Großkopf wurde zu sechseinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt, verbunden mit der Maßgabe, sich während der Halft in therapeutische Behandlung zu begeben. Seine Frau besuchte ihn regelmäßig, denn sie liebte ihn immer noch, und jetzt, in seiner Krankheit, vielleicht noch mehr als zuvor.
Die Therapie jedoch hatte wenig Erfolg. Wie schon bei dem knarrenden Hauptkommissar und in der Gerichtsverhandlung schwieg er sich aus. Seiner Frau, die händeringend in ihn drang, sich doch endlich zu öffnen, flüsterte er zu, das sei völlig nutzlos, denn schließlich würde ihn ja doch keiner verstehen. Außerdem geschehe ihm himmelschreiendes Unrecht. Sein Peiniger liefe noch frei herum, er dagegen sei eingesperrt.
Allerdings begann er wieder, ermuntert von seiner Therapeutin, Gedichte zu verfassen. Insgeheim hoffte sie, wenigstens auf diesem Wege etwas über die Beweggründe dieses seltsamen Mannes zu erfahren. Aber diese Gedichte waren entweder so banal, so dass ihr manchmal den Verdacht aufkam, er wolle sie auf den Arm nehmen, oder auf eine hintergründige Art zweideutig. Eines dieser Gedichte lautete:

die nachtseite des mondes

das herz des menschen gleicht der nachtseite des mondes
übersät mit den kratern versteinerter erinnerungen
und erfüllt mit der bangen sehnsucht nach helligheit

nicht gewillt seine geheimnisse freiwillig zu offenbaren
harrt es der entdeckung durch liebevolle eroberer
welche die klirrende einsamkeit mit sanfter gebärde vertreiben

o hätte ich doch die unbekümmertheit des wolfes
der seiner fähe das schaf zur morgengabe bringt
und die kraft zu glauben dass alles gut wird​

Frau Schröder-Knopf, die Therapeutin, ließ den Zettel sinken. Sie dachte: Ja, in der Tat, er macht Fortschritte. Aber nicht auf dem Gebiet, wo ich´s gern hätte.
 



 
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