Die Niemandin

Tanshee

Mitglied
Morgens steht sie eine Stunde vor ihrem Mann auf, um sich zurechtzumachen. Das, glaubt sie, ist sie sich und ihm schuldig. Ja: schuldig. Gefrühstückt haben sie beide noch nie, gemeinsames Frühstücken ist keine Beschäftigung für zwei Morgenmuffel. Daß sie sich im Gegensatz zu vielen seiner Kollgenfrauen weigert, ihm ein Vesper zum Mitnehmen zu machen, findet sie stillschweigend relativ emanzipiert von sich, zu mehr aber reicht ihr Mut nicht. Sie wohnen außerhalb der Stadt, das bedeutet jeden Morgen eine Stunde Autofahrt. Unterwegs schweigt man sich an, ab und zu muß sie ihm eine angezündete Zigarette reichen. Vor der Firma setzt er sie ab, mit den Fingern ungeduldig auf dem Lenkrad trommelnd, wenn sie wieder eine ganze Weile braucht um ihre Sachen zu sammeln: Handtasche, Handy, Zeitung. Auf dem Handy hat er bestanden, damit sie erreichbar ist. Die Zeitung bringt sie immer der Kollegin mit, die hat selber keine, das ist zu teuer.
Im Betrieb ist sie der Niemand, der versucht es allen recht zu machen – hinter ihrem Rücken wird mit mildem Spott über sie gelästert. Allgemein ist man der Meinung sie sei ein bißchen umständlich, ein bißchen sehr bemüht und – irgendwie – arm dran. Warum, könnte keiner näher erklären, sie macht einfach den Eindruck eines Menschen, der in seinem Leben vom Schicksal einige Male heftig gebeutelt wurde und dabei etliche bleibende Schrammen davongetragen hat. Narben wäre schon zu viel, zu dramatisch. Tragödie paßt nicht zu ihr, dafür ist sie zu, tja: banal.
Sich in die tägliche Routine in ihrem Büro einklinken zu können beruhigt sie jeden Morgen aufs Neue. In die vorgegebenen Abläufe schlüpft sie wie in ein Paar warme Pantoffeln. Was sie tut ist nicht sonderlich aufregend. Hauptsächlich sind es Sortierarbeiten, die sie für die anderen Mitarbeiter erledigt, denen das nicht kreativ genug, zu zeitaufwendig oder schlicht lästig ist. Als ihr die Chefin angeboten hat, einen Fortbildungskurs zu machen, hat sie sich mit Händen und Füßen gewehrt. Das Unbekannte, die Herausforderung macht ihr Angst. Manchmal fängt sie während der Arbeit an zu träumen. Über einen Ordner gebeugt, die Blätter mit der abzuheftenden Korrespondenz in der Hand, driftet sie davon. Ihre Schultern sind dabei abwehrbereit nach vorne gezogen, falls jemand kommt. Tief in ihrem Inneren wohnen ein paar wilde Träume von Freiheit und Abenteuer. Aber die Kammer ihrer Seele hat sie gut verschlossen. Einmal ein Adler sein? Mit ausgebreiteten Schwingen durch die Luft zu segeln, majestätisch... Sie? Ihr Mann nennt sie in zärtlichen Momenten Spätzchen – absurd, sie als Adler.
Vor Jahren war sie mal heftig in einen Kollgen verschossen. Er hat davon nichts gemerkt, sie war wie immer: von verhuschter Freundlichkeit, wie allen anderen gegenüber auch. Hat unauffällig, für ihn noch mehr als für andere, Zusatzarbeiten erledigt, und einem freundlichen Nicken und einem Dankeschön von ihm entgegengefiebert. Wenn er versetzt worden wäre, hätte sie ein paar heimliche Tränen vergossen, so hat sie sich nur eines Tages die unerwiderte Liebe in sich gemordet und ist noch stiller geworden. Hat sich irgendwann gewundert, daß das Gefühl nicht mehr da war.
In der Mittagspause erledigt sie die Einkäufe, das ist so eine plausible Erklärung dafür, nicht mit den anderen in die Kantine zu gehen. Pünktlich nach einer Stunde sitzt sie wieder am Schreibtisch. Macht brav die angeforderten Memos fertig. Manchmal überkommt es sie, dann tippt sie mitten im Text ein paar trotzige Zeilen, die besagen, wie sehr ihr beengtes Leben sie anwidert. Die löscht sie erst vor dem Abspeichern wieder raus, und immer ist dann die Panik da, so einen Ausbruch übersehen zu haben.
Früher hat sie sich nichts daraus gemacht länger dazubleiben und Liegengebliebnes noch zu erledigen. Aber ihr Mann holt sie pünktlich ab, er schätzt die gemeinsame Rückfahrt, da kann er sich über seinen Tag ausjammern, dafür braucht er sie, als Zuhörerin. Er weiß nicht, daß sie nur automatisch bestätigende Geräusche von sich gibt und in Gedanken ganz woanders ist. Wo?
Sobald sich das Auto in die Karawane der Pendler eingereiht hat, badet sie in dem tröstlichen Gefühl Teil eines Ganzen zu sein. Ihr Auto steht in der gleichen Schlange wie die Fahrzeuge davor und dahinter; die Schlange windet sich aufs flache Land hinaus, wo sie wohnen. Sie ist Teil dieser Prozession, sie gehört dazu und bleibt doch anonym. In dieser Stunde im Auto, in der sie sich der Gemeinschaft zugehörig fühlt, sich fühlt wie in einem Kokon, nur in genau dieser Stunde brächte sie den Mut auf, einfach fortzugehen und ein Einzelwesen zu sein. Sie kann sich doch nicht einfach aus dem fahrenden Wagen werfen. Und sobald sie daheim aus dem Auto steigt ist alles wie immer.
 

Zefira

Mitglied
Hallo Tanshee, hallo Elke,
ich glaube, das Problem in diesem - übrigens sehr schönen - Text besteht darin, daß die Schere zwischen Emanzipationswillen und bravem Hausmütterchen zu weit sperrt.
Wenn sie allen Ernstes eine Stunde früher aufsteht, um sich zurechtzumachen - da muß für sie ja die Fassade alles sein. Das ist einfach unrealistisch. Was um Himmels willen tut sie denn da eine Stunde lang?
Wer sich so lange bepinselt, um gut auszusehen - für sich und "für ihn" - der bzw. die schmiert dann auch noch das Frühstücksbrot für den Herrn. Sonst paßt es einfach nicht zusammen.

Die Gedanken bei der Arbeit andererseits sind unglaublich typisch. In der Passage

Manchmal überkommt es sie, dann tippt sie mitten im Text ein paar trotzige Zeilen, die besagen, wie sehr ihr beengtes Leben sie anwidert. Die löscht sie erst vor dem Abspeichern wieder raus, und immer ist dann die Panik da, so einen Ausbruch übersehen zu haben.

habe ich mich selbst in gewisser Weise wiedererkannt, und so geht es sicher vielen. Das hat auch nicht unbedingt mit Emanzipation zu tun, das ist einfach entfremdete Arbeit. Insoweit würde die Identifikation mit der Figur noch leichter fallen, wen sie sich sonst stimmiger verhalten würde.
Alles Liebe,
Zefira
 

Tanshee

Mitglied
Hallo, Zefira!

Danke für das ausführliche feedback!
Mir ging es eigentlich nicht um den vorhandenen oder nicht vorhandenen Emanzipationswillen, sondern um diese totale Selbstentfremdung, die einen manchmal am Wickel hat -
Stimmt, in der ersten Passage kommt das nicht so raus. Gedacht war es mehr so: sie macht sich nicht "für ihn" oder "für sich" schön, sondern für "die anderen", die sie mehr bestimmen, als sie sich selber
(eine Stunde ist, zugegeben, wohl wirklich seeehr lang ;)) .
Wo hakt es Deiner Meinung nach noch mit der Stimmigkeit?

Liebe Grüße!
Tanshee
 

Tanshee

Mitglied
Hallo, Elke!

Leider habe ich Deine Antwort nirgendwo gefunden -
möchtest Du Dich nochmal dazu äußern? Ich würde mich freuen!

Grüßle,
Tanshee
 
L

loona

Gast
Sehr genau beobachtet... Und das mit der einen Stunde ist eben so ein "Recherchefehler", weil es das ist, was wir nicht sehen und messen, wenn wir "Solchen" begegnen... Ich denke, wenn sie eine Stunde vorher aufsteht, dann macht sie sich zurecht und räumt auch nochmal die Wohnung auf - auch wenn eigentlich kein Mensch zu Besuch kommt und wenn, dann nur mit 2 Wochen Voranmeldung...

Einen Gruß

loona
 

Zefira

Mitglied
Hallo Tanshee,

Du hast recht, ich habe den Text nochmal genau angesehen - Fremdbestimmtheit durch den Mann ist nicht das Thema, sondern Fremdbestimmtheit durch die Macht der anonymen Routine.
Ich habe mich irreführen lassen durch den ersten Satz. Sie steht eine Stunde früher auf als ihr Mann - das ist (für mich) so ziemlich das denkbar größte Opfer. Und schwupps, war der Mann für den Rest des Textes der Böse. So hab ich das gesehen.
Vielleicht sehen andere Leser das anders, aber ich persönlich würde den Mann aus diesem Kontext ganz herausnehmen. Sie steht eine Stunde früher auf (früher als wer? - was ergibt sich dann sowieso), um sich und das Haus perfekt herzurichten. So in der Art.

Alles Liebe,
Zefira
 

Tanshee

Mitglied
Hallo, Zefira!

Du hast recht: schmeißen wir den Mann aus der Geschichte.
Wenigstens aus dem Anfang, er wird ja später noch gebraucht...
Werde mir da noch was überlegen!

Liebe Grüße,
Tanshee
 



 
Oben Unten