Die Oberstadt

Es war Winter. Nicht eine meiner Lieblingsjahreszeiten. Ich mag den Herbst, mit seiner Blättervielfalt.

Winter ist die Zeit der Winterschuhe, der großen Anoraks, die einem nicht stehen, den Pullovern und der Handschuhe. Es verhält sich so wie in einer Geschichte von Natalia Ginzburg, die einen ihrer Charaktere als Frau beschreibt, die die 50-Jahresmarke bereits überschritten hat, und blöde gelbe Hausschuhe trägt.

Nachdem tatsächlich vieles falsch gelaufen ist in meinem Leben, kam ich etwas müde in der Marburger Oberstadt an. Ich lief zu Fuß, da ich keinen Führerschein hatte. Ich hatte nur einmal eine wirkliche Depression. Damals konnte ich mich kaum noch regen, das aufstehen viel mir schwer.

Heute fiel mir der Liedtext ein ‚Einige Tage sind besser als andere‘. Ich fühlte mich nur etwas down, mein Selbstwertgefühl war im Keller. Das lag wohl auch an meinem Outfit, dem eben bereits erwähnten großen Anorak und meinen Schuhen.

Ich lief an Cafe Franz vorbei. Die Straße schlängelte sich etwas und war gesäumt von Fachwerkhäusern. Bald hinter dem Felix auf der linken Seite befindet sich das Cafe 1900, wo es jeden 2. Dienstag im Monat einen Schnitzeltag gibt. Dort bin ich auch mit der Depressionsgruppe hingegangen, vor ein paar Monaten.

Ich erinnerte mich an glücklichere Zeiten in meinem Leben. Im Jahr 1996 fing ich an, an der Universität London Romanistik zu studieren. Ich saß in meinem schönen Zimmer in Stockwell, in Südlondon in einem Zimmer, von dem aus man Battersea Power Station sehen konnte. Battersea Power Station liegt ein klein wenig außerhalb von Battersea Park, an der Themse gelegen. Das Zimmer war ideal zum studieren. Ich hatte ein kleines Börd mit Italienisch-Englischen Wörterbüchern und Verbtabellen. Ich mochte auch das Parkett, und den Schrank, der aus gepreßter Pappe zu bestehen schien.

Damals schien das Leben noch perfekt zu sein. Die Beziehung zu Garry hatte zwar einen Riß bekommen, aber noch waren wir zusammen. Er schien wohl doch eher auf meine Freundinnen zu stehen als auf mich. Natürlich war es meine Schuld, und auch mein Problem, dass ich nicht früher mit ihm Schluß gemacht habe. Aber ich mochte ihn halt.

Ich hatte nette Mitbewohner*innen, mit denen ich manchmal auch etwas unternahm. Morgends fuhr ich mit der U-Bahn nach Warren Street Station, zur U-Bahn-Station Warren Street, und ging von dort aus zu Fuß an die Uni. Morgends hatte ich Vorlesungen, zwischendurch und auch am Nachmittag ging ich in den Teil der Unibibliothek, der für die Italianist*innen eingeteilt war.

In Marburg hingegen war es nun kalt. Man mußte aufpassen, dass man nicht ausrutschte. Ich ballte die Hände, verdrossen und mißmutig. Ich verfluchte den Tag, an dem ich beschlossen hatte, meine Koffer in London zu packen, um wieder nach Deutschland zu kommen. Ich ging in Richtung Weltladen, um dort zwei Kerzen für eine alte Bekannte von mir zu kaufen. Es sollten vorweihnachtliche Kerzen sein, ähnlich wie die Schabbatkerzen, die am Freitag Abend gezündet werden. Ich hoffte sehr auf den Frühling, der der klirrenden Kälte etwas entgegenzusetzen hat.
 



 
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