Die Oster-Überraschung

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Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Oster-Überraschung


Isolde Rockstroh saß an ihrem Küchenfenster, das einen beschaulichen Blick auf die mit knospenden Linden gesäumte Straße bot. Heute, am Karfreitag, herrschte in der ohnehin ruhigen Gegend kaum Verkehr, sodass es einige Kinder gewagt hatten, ihre vom Winterstaub befreiten Fahrräder dem herrlich glatten Asphalt der Fahrbahn anzuvertrauen. Das war ein ungewohnter Anblick, und Isolde verfolgte das Treiben mit zunehmendem Interesse.

Sie hatte ihr Frühstück beendet und war gerade dabei, sich die obligatorische zweite Tasse Kaffee einzuschenken, als es an der Wohnungstür läutete.
Überrascht hob sie den Kopf und zögerte einen Moment, ehe sie aufstand, ihren Morgenmantel ordnete und dessen Gürtel fester zurrte. Auf leisen Sohlen schlich sie aus der Küche, durchquerte den Korridor, um dann einen misstrauischen Blick durch den Spion zu werfen. Es folgte ein Aufatmen, ehe Isolde das Schloss entriegelte und die Tür öffnete.
Vor ihr stand ihr Etagennachbar, Gisbert Fleischhauer, ein junger, smarter Bankangestellter, der allerdings noch auf der ersten Sprosse seiner Karriereleiter verharrte. Isolde war skeptisch, ob es ihm gelingen würde, Selbige in absehbarer Zeit emporzuklimmen, denn sein Wesen schien von einer kaum zu verhehlenden Schüchternheit geprägt. Ihm fehlte das, was man gemeinhin unter männlicher Ausstrahlung zu verstehen pflegt. Daran vermochten auch seine beiden Statussymbole – nämlich sein todschickes Capriolet und seine nicht minder todschicke Frau – kaum etwas zu ändern.
Isolde fühlte sich für die Abgabe eines derartigen Urteils durchaus prädestiniert, denn sie hatte in ihrer Jugend als ein ausgesprochen flotter Feger gegolten, ehe sie ihren Mann kennenlernte, dem es vorbehalten war, aus ihr eine brave Mustergattin zu formen. Nur knapp zwanzig Jahre blieb ihr ein solches Dasein beschieden. Ein mächtiger Sattelschlepper war es, der das Auto ihres geliebten Gatten in einen Graben und den Herrn Gemahl hochselbst ins Jenseits schob.
Witwe Rockstroh seufzte ungewollt und ein wenig verwirrt. Sie konnte sich nicht erklären, warum ihr derartige Gedanken durch den Kopf schossen, während sie darauf wartete, dass Gisbert Fleischhauer endlich sein schüchternes Lächeln aufgeben und zur Sache kommen würde.
„Ja – bitte?!“ Diese etwas brummig vorgebrachten Worte ließen ihn den Blick heben.
„Guten Morgen, Frau Rockstroh“, begann er verhalten. „Entschuldigen Sie, dass ich sie zu so früher Stunde belästige. Aber ich habe da eine Bitte. Ich … ich bräuchte da mal …“
Sein Blick senkte sich wieder und blieb etwa in Höhe ihrer Oberschenkel hängen, was sie veranlasste, ein wenig an den Schößen ihres Morgenmantels zu zupfen.
Er holte tief Luft, ehe er fortfuhr: „Also, ich wollte sie fragen, ob sie mir vielleicht mit einem Stück Bindfaden aushelfen können.“
„Bindfaden!?“, entfuhr es ihr überrascht. „Wozu …?“
Doch das ging sie ja wohl nichts an.
Er breitete die Arme aus, blickte erst auf seine rechte, dann auf die linke Hand und erklärte: „So lang ungefähr.“
„Aha“, machte Frau Rockstroh, rührte sich aber nicht von der Stelle. „Dünn oder etwas dicker?“
„Na ja, für ein Päckchen halt. Wissen Sie, ich habe Ostergeschenke eingepackt. Und da ist mir der Bindfaden ausgegangen.“
„Ostergeschenke – aha.“
„Ja, wir sind über die Feiertage bei der Schwester meiner Frau eingeladen. Die hat einen Mann und vier Kinder. Da kommt was zusammen – an Geschenken. Meine Gattin ist gestern schon mit dem Zug voraus gefahren, um der Familie bei den Vorbereitungen unter die Arme zu greifen. Das Einpacken der Osterüberraschungen ist dann an mir hängen geblieben. Und nun ...“
„Warten Sie. Ich bin gleich zurück“, versprach Frau Rockstroh und begab sich kopfschüttelnd in ihr Wohnzimmer.
„Geschenkpäckchen mit ordinärem Bindfaden verschnüren“, murmelte sie, während sie eine Schublade öffnete. „Keinen Sinn für Ästhetik, diese jungen Leute.“
Zwei Minuten später stand sie ihrem Nachbarn wieder gegenüber. In der Hand hielt sie eine Rolle grün-gelb gestreiften Geschenkbandes.
„Damit verschnürt man Geschenkpakete“, erklärte sie in einem leicht süffisanten Tonfall. „Da! Schenke ich Ihnen.“
„Oh, herzlichen Dank.“
Während dieses Weichei mit dem martialischen Nachnamen „Fleischhauer“ die Rolle entgegen nahm, überzog ein Lächeln sein Gesicht.
„Vielen Dank“, wiederholte er und deutete eine Verbeugung an. „Und bitte entschuldigen Sie die Störung.“
„Schon gut.“
Die beiden Wohnungstüren klappten fast gleichzeitig zu.

Isolde nahm erneut ihren Platz am Küchenfenster ein und freute sich, dass der Kaffee halbwegs heiß geblieben war. Sie schlürfte ihn langsam und genießerisch. Dabei beobachtete sie wieder das Geschehen auf der Straße. Die Rad fahrenden Kinder waren aus ihrem Gesichtsfeld entschwunden. Dafür hatten sich vier Rentnerinnen direkt vor dem Hauseingang zu einem ausgiebigen und lautstark geführten Plausch zusammengefunden. Man sah, wie die Frauen nur widerwillig Platz machten, als Herr Gisbert Fleischhauer mit zwei schweren Koffern in den Händen aus dem Haus trat und damit die kleine Rentnertraube für einen Moment lang sprengte. Er verstaute das Gepäck im Kofferraum seines ferrariroten Cabrios, fuhr dann aber wider Erwarten nicht los, sondern kehrte ins Haus zurück. Nur wenige Minuten später sah Isolde von ihrem Beobachtungsplatz aus, wie er, nun auch noch mit zwei schweren Reisetaschen bepackt, erneut zum Auto ging.
„Der hat ja ein Gepäck, als würde er ausreisen wollen“, murmelte Witwe Rockstroh und schüttelte ein wenig den Kopf.
Sie sah, wie er die Taschen auf den Rücksitz warf und sich dann hinter das Steuer klemmte.
Sie schickte ihm halblaut ein „Gute Reise“ hinterher. Dann blickte sie zur Küchenuhr, erschrak und sputete sich, unter die Dusche zu kommen.

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Nicht einmal Hubertus Schönwald selbst wusste, ob sein Name ihn dazu inspiriert hatte, Forstwirtschaft zu studieren. Im Grunde ist das auch egal. Sein Studium lag schon fünf Jahre hinter ihm, und seit zwei Jahren regierte er als Revierförster nicht nur über tausende Buchen, Erlen, Eschen, Eichen, Kiefern und etlichen Baumsorten mehr, sondern er achtete auch darauf, dass es all den Tieren, die in seinem Revier ihre Unterkunft gefunden hatten, auch wirklich gut ging.
Es war sein Wald geworden. Und so muss man sich nicht wundern, dass er schon am frühen Oster-Samstagmorgen durch das Gehölz pirschte und die Augen offen hielt. Hund und Flinte hatte er mitgenommen, wer weiß – vielleicht überbekam ihn auch noch die Lust, ein wenig auf dem Anstand zu verweilen, um dem edlen Weidwerk nachzugehen. Eventuell ergab sich die Gelegenheit zu einem guten Schuss, mit dessen Hilfe man der wachsenden Trophäensammlung im Forsthaus, das er gemeinsam mit seiner Mutter bewohnte, ein neues Stück hinzufügen könnte.
Als er einen breiten Waldweg kreuzen musste, schreckte er zwar kein Wild auf, aber dafür eine Formation aus leicht bis mittelschwer beleibten Damen - die in ihrem letzten Lebensdrittel das Nordic Walking für sich entdeckt hatten. Die Gruppe stockte, und alle Frauen blickten wie auf Kommando auf den stattlichen Hubertus in seiner schicken Uniform.
„Was für ein schöner Mann!“, schrie es aus glänzenden Augen.
Für Sekunden gönnte man sich diesen Anblick, ehe sich die Truppe neu formierte und Schritt aufnahm. Na ja, forsches Ausschreiten sah anders aus. Die meisten der angejahrten Mädels zogen ihre Stöcke mehr hinter sich durch den Dreck, als dass sie sie ernsthaft gebrauchten.
Hubertus überquerte gerade den Weg, als sich von links eine Joggerin näherte. Oijoijoi - das war ein ganz anderes Kaliber. Gleichmäßig atmend zog das durchtrainierte Geschöpf an ihm vorüber. Während Hubertus wieder in den Wald eintauchte, sah er sich noch einmal kurz nach ihr um.
‚Was für eine Edeltanne!‘, dachte er, während seine Augen blitzschnell Rückenpartie, Beine und vor allem den Po scannten.
„Aua!“
Mit dem Hinterkopf hatte er einen tief hängenden Ast gerammt. Der Schreck und der Schmerz gemahnten ihn nachdrücklich daran, dass es sich für ihn nicht gezieme, anderen Frauen nachzuglotzen. Seine Blicke hatten nur der liebreichen Sieglinde zu gelten und keiner anderen – auch nicht sekundenweise.
„Sieglinde“, seufzte er auf. Seit sie vor einem knappen Jahr den Schritt in sein Leben gewagt hatte, war nichts mehr wie früher. Sehnsucht überkam ihn, obwohl es noch keine drei Tage zurücklag, als er mit diesem göttlichen Geschöpf sein Lager auf einer Lichtung – unweit von hier - geteilt hatte. Es gab etliche solcher Lichtungen und ebenso viele Gelegenheiten deren Eignung für heiße Liebesspiele zu testen. Nur das eine Mal, als Sieglinde ihren zarten Po direkt auf einer Ameisenstraße geparkt hatte, tat das ihrer beider Lust ein wenig Abbruch.
„Ach Sieglinde“, hauchte er ein zweites Mal. „Wenn es doch schon Dienstag wär.“
Ihn beutelte nicht nur die Sehnsucht nach der schönen Frau, sondern auch die Ungeduld, endlich zu erfahren, wie Sieglindes Mann das Geständnis ihrer Liebe zu dem wackeren Forstmann aufgenommen hatte.
„Spätestens am Montag, wenn wir von meiner Schwester zurück sind, werde ich es ihm sagen“, hatte sie beim letzten Treffen versprochen und auch die Zusicherung nachgeschoben, dass sie sich definitiv von ihrem Schüchterling trennen würde.
Hubertus hatte es mit Freude vernommen, aber so richtig würde er erst daran glauben können, wenn Sieglinde dieses Versprechen eingelöst haben würde.
„Hoffentlich rastet dein Mann nicht komplett aus, wenn du ihm von uns erzählst“, hatte er bei ihrem letzten Treffen zu bedenken gegeben.
„Gisbert?!“ Sie hatte schrill aufgelacht. „Er wird in Tränen ausbrechen und mich anwinseln, ihn nicht zu verlassen.“
Dann war sie nachdenklich geworden, hatte durch die Baumkronen hindurch in den Himmel geschaut, ehe sie ihren Blick eindringlich auf Hubertus richtete.
„Ob das gut geht mit uns? Ist unsere Liebe stark genug?“
„Zweifelst du daran?“, hatte er entgegnet und dann in begeisternder Vorfreude ein Bild von ihrem künftigen Zusammenleben gemalt – farbenfroh und in den zartesten Pastelltönen. Danach hatten sie sich heftig geliebt, diesmal in der uralten Jagd-Hütte, denn es hatte zu regnen begonnen.

Ganz von seinen Gedanken, aus Hoffnungen gespeist und von Zweifeln zernagt, stand Hubertus, ohne es gewollt zu haben, plötzlich vor eben dieser Hütte. Eigentlich handelte es sich eher um einen windschiefen Schuppen aus wurmstichigem Holz, dem Wind und Wetter im Laufe von Jahrzehnten arg mitgespielt hatten. Auch an der kärglichen Inneneinrichtung hatte der Zahn der Zeit deutliche Spuren hinterlassen. Sie bestand aus einem wackligen Tisch, zwei uralten Stühlen und einem knarzenden Schrank. Nur das Sofa vermittelte einen durchaus soliden Eindruck. Hubertus hatte es im vergangenen Herbst den häuslichen Überbeständen entnommen und in die Hütte bugsiert. Und immer, wenn er mit Sieglinde im Arm auf diesem Möbel lag, verwandelte sich die erbärmliche Kate in ein Märchenschloss.

Hubertus öffnete die Tür, trat ein und ging über knarrende Dielen ein paar Schritte in den im Halbdunkel liegenden Raum hinein. Durch die blinde Scheibe des Fensters drang nur wenig Licht. Lediglich durch eine relativ saubere Stelle im Glas zwängten sich einige Sonnenstrahlen und zauberten einen hellen Kringel auf die staubige Tischplatte. Und genau in diesem Lichtkreis stand oder lag etwas, das dort nicht hingehörte.
Hubertus trat staunend näher und erkannte ein großes Päckchen – man hätte es auch ein kleines Paket nennen können. Ein nackter Karton, aber mit einem grün-gelben Band umschlossen und mit einer hübschen Schleife verziert. Er ahnte sofort, von wem dieses Geschenk stammen musste. Außer ihm besaß nur Sieglinde einen Schlüssel für die Hütte.
Eine Osterüberraschung!
Er freute sich, dass sie es noch vor ihrer Abfahrt fertig gebracht hatte, hier an dem Ort so vieler glücklich verbrachter Stunden, für ihn ein Ostergeschenk zu platzieren. Zugleich fühlte er sich beschämt, weil er es versäumt hatte, ihr eine ähnliche Überraschung zu bereiten. Aber das ließ sich ja am Dienstag nachholen.
Lächelnd nahm er das ziemlich schwere Päckchen in die Hand und knüpfte in fast andächtiger Langsamkeit das Band auf. Der Karton besaß einen abnehmbaren Deckel. Darunter entdeckte er ein mit wenigen Zeilen beschriebenes Blatt Papier. Während er mit der Linken das Behältnis gegen die Brust drückte, griff er mit der anderen Hand nach dem Zettel, führte ihn auf Grund des Dämmerlichts dicht vor die Augen und las:

Mein über alles geliebter Hubertus,

bei diesem kleinen Geschenk handelt es sich um etwas, das du in deinem Arbeitszimmer getrost an die Wand nageln kannst, denn es ist als Erweiterung für Deine Trophäensammlung gedacht. Ich glaube es wird Dir gefallen und Dir das Gefühl meiner permanenten Anwesenheit vermitteln.

Fröhliche Ostern wünscht Dir
Dein Osterhäschen.

Hubertus las noch ein zweites Mal und war sichtlich gerührt. Dann entfernte er das feine Seidenpapier, auf welchem der beschriebene Zettel gelegen hatte. In dem Moment wurde er starr. Sein markerschütternder Schrei brachte die Hütte zum Beben. Polternd fiel der Karton zu Boden, platzte dort auf, und heraus rollte das süße goldgelockte Köpfchen seiner Sieglinde.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ralph,

hahaha - wie gemein! Locker flockig geschrieben, wie immer bei Dir - und von daher ein Lesegenuss.

Jaja, unterschätze nie einen schwächlichen Jüngling. Wenn er einen passenden Namen trägt, schon gar nicht! :)

Frohe Ostern nachträglich,

DS
 



 
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