Das Tier mit den zwei Rücken
Du hast durchaus grundsätzlich recht, Tula, -
ich bin ein Romantiker, ein Novalisschüler, ein Schellingstudent: Die Gott=Natur bricht im Genie schöpferisch hervor und bildet Blüte und Fortpflanzung des Universums durch den Menschen hindurch aus.
Aber ich neige immer mehr (seit einigen Jahren) dazu, solche Verhältnisse als zwischenmenschliche Kommunikation, als Dialogsituation, zu "begreifen".
Das bedeutet: Die Künstler müssen mit ihren Rezipienten zusammengefaßt werden, wie ein Liebespaar. Das ist das, was ich meine, wenn ich verkürze: "Der Leser macht das Gedicht". Der Hörer macht den Komponisten. Der Aufmerksame ist Hebamme der Genie-Geburt. Wie der immer junge Sokrates den steinalten Gorgias widerlegt hat. Gorgias kam zu dem Schluß, nichts sei begreiflich, und wenn doch, dann sei es nicht mitteilbar. Also führte Sokrates Dialoge, offene Fragestellungen, Untersuchungen zwischen fragenden und rückfragenden Gedankenmüttern, die ihre Ideen dadurch zur Geburt brachten. Widerlegung des Gorgias durch die Tat.
Und genauso ist es mit unseren Gedichten: genial werden sie erst durch die Aufmerksamkeit von Lesern. Nicht eigentlich durch harte Arbeit (nein, einem Mozart fließts aus der Feder, ein Wagner skizzierte fünfstündige Werke in sechs Wochen, und sogar unsere Schubladen quellen über von sagen wir mal zweihundert Gedichten pro Jahr).
Das mit der "harten Arbeit" sagen wir nur immer den Frischlingen in der Leselupe, um ihnen Achtung vor unseren überreifen Schimmelfrüchten einzuflößen. Wir wissen doch (aber nicht weitersagen!), daß das eine stolze Lüge ist. Dichten macht einen Heidenspaß. Es ist ein Liebesakt mit der lesenden Aufmerksamkeit.
Und (um das Thema zu rhematisieren) Klavierspielen entspricht dem: zum Beispiel als Liebesakt der Pianistin mit dem Komponisten. Erotisch wie mathematische Mandelbrote.
grusz, hansz