Die Professoren I - Versuchsaufbau

Ruriro

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Die Professoren I – Versuchsaufbau

Prof. Dr. Dr. med. Reiner Schmidt, Professor für klinische Psychologie, klopfte an die Bürotür von Prof. Dr. Christoph Kramer, Lehrstuhl für Angewandte Informatik, Schwerpunkt Künstliche Intelligenz.
„Herein“, kam es von drinnen.
Schmidt öffnete die Tür und setzte sich auf einen der Stühle vor Kramers Schreibtisch. Er warf ihm eine Mappe auf den Tisch.
„Und?“, fragte Kramer.
„Abgelehnt“, antwortete Schmidt. „Neben viel unsinnigem Gerede kann man es reduzieren auf ethische Bedenken.“
„Immer diese Apokalypse-Schreihälse“, schimpfte Kramer. „Wenn die sich erst mal schlau machen würden, was überhaupt möglich ist, bevor sie jegliche Form von Künstlicher Intelligenz verdammen, wäre Ruhe im Karton und wir könnten in Frieden forschen.“
„Na na“, meinte Schmidt. „Du weißt schon, dass wir mit diesem Forschungsantrag hier einen Schritt weiter gehen als die bisherige Forschung. Imitation von Menschen ist ja schon länger üblich, aber das hier zielt auf Psychotherapien, die von KI ausgeführt werden. Damit machen wir meinen Berufszweig letzten Endes überflüssig.“
Kramer schnaubte. „Das ist Forschung, Reiner, bisher ist da noch gar nichts überflüssig. Es geht um den Versuch und die Lehren und Verbesserungen, die wir an anderer Stelle verwenden können! Das haben wir doch schon hundert Mal besprochen.“
Schmidt seufzte. „Vielleicht müssten wir ein funktionierendes Projekt erst mal auf die Beine stellen, bevor wir die Forschungsanträge einreichen. Frei nach dem Motto: Guck, das funktioniert, gebt uns Geld, damit es besser wird!“
„Das ist unethisch.“
„Ich weiß.“
Eine Weile saßen sich die beiden Professoren schweigend gegenüber. „Überhaupt“, begann Kramer schließlich. „Wir müssten heimlich geeignete Probanden besorgen, die Technik in unserer Freizeit entwickeln und in unserer Freizeit implementieren und überwachen. Und das neben einer mindestens 40-Stunden-Woche. Das ist unmöglich. Und in welche Richtung sollten wir das überhaupt anlegen?“
Schmidt überlegte. „Wir bräuchten ein Negativbeispiel, damit wir den praktischen Bedarf deutlich machen können. Also KI mit stark negativem Einfluss, damit wir die KI mit stark positivem Einfluss rechtfertigen können.“
„Ist das nicht ein bisschen zu sehr um die Ecke gedacht?“
„Nein, gar nicht“, sagte Schmidt und wirkte immer aufgeregter. „Überleg doch mal: Wenn eine KI einen depressiven Menschen in den Selbstmord treibt, müssen wir doch das Gegenmittel dafür liefern! Diese Maschinen lernen doch irre schnell und effektiv, wenn man sie richtig programmiert, das haben wir doch schon ausprobiert, da kann ein Mensch gar nichts mehr machen. Da ist unser Ansatzpunkt!“
Kramer sah nachdenklich auf das Bücherregal gegenüber. „Hm, da könntest du sogar recht haben. Du müsstest dann allerdings die KI trainieren. Ich bin dann für die Ausführung zuständig. Irgendwie müssen wir das ja an den Mann bringen. Und da wir keine offizielle Erlaubnis dafür haben, können wir das nicht offen tun.“ Er seufzte. „Aber wir haben ja eh keine Probanden.“

Eine Woche später klopfte Prof. Dr. Dr. med. Reiner Schmidt, Professor für klinische Psychologie, an die Bürotür von Prof. Dr. Christoph Kramer, Lehrstuhl für Angewandte Informatik, Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
„Herein“, kam es von drinnen.
Schmidt öffnete die Tür. „Christoph, ich hab da was für dich.“
Er warf einen dünnen Hefter auf Kramers Schreibtisch. Auf dem Deckblatt stand „Benedikt Hauser“.

Kriminalkommissar Harald Esser saß auf der Kante seines Schreibtisches im Büro und starrte schon seit zwei Stunden die vor ihm liegende Wand an. Daran hingen, akribisch geordnet, alle Unterlagen zum Fall Benedikt und Lisa Hauser.
Am Anfang erschien alles ganz eindeutig: Erweiterter Suizid. Hauser hatte erst seine Frau erwürgt und war dann vom Dach des achtstöckigen Hauses gesprungen, in dem die beiden eine Wohnung hatten.
Dann erst wurde die Sache kompliziert. Benedikt Hausers Eltern wollten nicht an den erweiterten Suizid glauben und hatten mit anwaltlicher Hilfe eine Obduktion durchgesetzt. Diese fand Spuren von bisher nicht zugelassenen Medikamenten in seinem Blut: Stimmungsaufheller und wahrnehmungsverändernde Substanzen. Der Konzentration nach zu urteilen, musste Hauser sie über einen Zeitraum von mehreren Monaten regelmäßig zu sich genommen haben. Die Chemiker des Labors waren sich sicher, dass diese Medikamente aller Wahrscheinlichkeit nach starke bewusstseins- oder sogar persönlichkeitsverändernde Nebenwirkungen hatten. Hausers Hausarzt hatte noch nie von diesen Medikamenten gehört, nirgendwo war ein Beleg über eine Teilnahme an einer Studie, ein entsprechendes Behältnis, oder eine Quittung aus dem Ausland gefunden worden. Möglicherweise hatte er sich die Dinge online besorgt – deswegen wurde sein Computer gerade durchsucht.
Die Beziehung von Benedikt und Lisa Hauser wurde von allen befragten Zeugen als außerordentlich harmonisch und glücklich beschrieben. Sie hatten erst sechs Monate vor ihrem Ableben geheiratet.
Das einzige, was sie finden konnten, war eine psychiatrische Behandlung von Benedikt Hauser wegen Panikattacken und depressiven Stimmungsschwankungen vor mehreren Jahren, die er den Unterlagen zu Folge jedoch hervorragend gemeistert hatte, keine Medikamente mehr nahm und nicht rückfällig geworden war.
Esser hatte große Lust die Wand anzuschreien. Das ergab alles einfach überhaupt keinen Sinn. Er zweifelte nicht am rekonstruierten Tathergang, aber den Grund für das alles sah er nicht. Ein befreundeter Psychologe hatte ihn wissen lassen, dass es manchmal einfach keinen Grund gab. Für den war die Vorerkrankung ausreichend.
Für Esser nicht.
Da musste es mehr geben.

In diesem Moment klopfte es an die Tür.
„Kann ich Sie kurz sprechen?“, fragte ein junger Mann, den Esser noch nie gesehen hatte.
„Wer sind Sie?“, knurrte Esser unwirsch. Er mochte es ganz und gar nicht, unangemeldet gestört zu werden.
„Jochen Kircher. Ich arbeite unten in der Forensik und bin dort für die technischen Fälle zuständig.“ Der junge Mann trug ein kurzärmeliges Hemd und eine runde Nickelbrille wie Harry Potter. Die Arme waren komplett tätowiert, wie Esser bemerkte.
„Entschuldigung. Kommen Sie herein.“
Kircher nickte und schloss die Tür hinter sich. Esser ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich auf den Bürostuhl, wies gleichzeitig mit der Hand auf die Besucherstühle. „Worum geht‘s?“
„Ich habe die Handys und Computer von Benedikt und Lisa Hauser untersucht“, begann er und knetete die Hände. „ Der Fall war direkt in meiner Nachbarschaft, und… hat mich doch sehr beschäftigt. Deswegen hab ich mich ziemlich rein gekniet“, fügte er entschuldigend hinzu.
„Aha“, sagte Esser und runzelte die Stirn. „Hat es was ergeben?“
„Es gibt einige Dinge, die mir sehr Spanisch vorkommen“, sagte Kircher und klang nun immer sicherer. „Bei Lisas Handy gab es nicht viel zu finden. Das war weitestgehend normal, die Apps und Verläufe, die Fotos. Bei ihrem Computer fing es dann an, seltsam zu werden. Es gab einen Ordner mit dem Namen ‚Bürounterlagen‘. An und für sich nicht merkwürdig, nur war Lisa arbeitslos. Da drin waren Fotos von ihr mit einem Mann, den ich noch nie gesehen habe. Ziemlich -“, er wirkte verlegen, „- intime Fotos, wenn Sie verstehen. Allerdings nichts auf ihrem Handy oder in den sozialen Netzwerken. Ich habe versucht, die Herkunft dieses Ordners zu bestimmen. Ganz konnte ich es nicht zurückverfolgen, aber nach dem, was ich herausfinden konnte, bin ich mir sehr sicher, dass es nicht Lisa war, die diesen Ordner angelegt hat.“
Esser stutzte. „Was meinen Sie damit?“
„Jemand hat diesen Ordner von außen dorthin kopiert. Der Computer war gehackt. Laut den Ermittlungsberichten wurden die Daten zu einer Zeit kopiert, in der weder Lisa noch Benedikt Zuhause waren. Es ist ein klassischer PC, kein Laptop, den man sich unter den Arm klemmen kann. Die Fotos auf der Festplatte sind außerdem hervorragend gefotoshopt.“
„Manipuliert?“
„Zusammengeschnitten. Ich habe nirgendwo ein weiteres Foto dieses Mannes gefunden. Wenn Sie mich fragen, kannte Lisa ihn überhaupt nicht.“
Esser stand auf und begann im Büro auf und ab zu tigern. Er spürte wie sich sein Puls beschleunigte, wie immer, wenn er auf eine Spur gestoßen war.
„Sie meinen also, jemand hat diesen Ordner mit den Fotos absichtlich auf Lisas Computer platziert?“
„Allerdings.“ Kircher nickte. „Da ist aber noch mehr. Ungefähr eine Stunde, nachdem ich die Fotos durchgesehen und bearbeitet hatte, verschwand der Ordner ‚Unikram‘, in dem Benedikt alle möglichen Dateien aufbewahrt hatte. Da wir das vorher kopiert hatten, wissen wir, was drin war. Das ergibt für uns einfach überhaupt keinen Sinn.“
„Da ist einfach so ein Ordner verschwunden?“
Mittlerweile fühlte Esser sich wie eine große, schwerfällige Dampflok, die nur langsam Fahrt aufnehmen konnte. Das klang alles wie aus einem von diesen Science-Fiction-Romanen, die sein Sohn derzeit so gerne las.
„Das ist eine ziemlich komplexe Sache“, sagte Kircher und klang sehr ernst. „Ich glaube mittlerweile, dass das ein Trojaner war, der gezielt auf diesen Ordner programmiert war. Nur warum, das verstehe ich nicht. Ich hoffe, dass ich da noch etwas finden werde. Aber das war immer noch nicht alles.“
„Nicht?“
Kircher schüttelte den Kopf. „Bei Lisa gab es sonst keine Auffälligkeiten. Bei Benedikt ging es dann los. Das Handy war komplett leer. Vollständig leer geräumt, ohne Betriebssystem, ohne alles.“
„Ein Handy hat ein Betriebssystem?“
Auf Kirchers Gesicht schlich sich ein mitleidiges Grinsen. „Natürlich. Oder was meinten Sie, wie das mit den Apps funktioniert? Ist letzten Endes wie ein Computer im Mini-Format.“
Esser brummte unwirsch.
Kircher fuhr fort. „Ich habe versucht, da was zu rekonstruieren. Ich hab alle Register gezogen, die mir zur Verfügung standen, aber ich habe nur Bruchstücke wiederherstellen können. Das meiste davon waren Dateifragmente, fast alles unleserlich. Mein Mann ist auch bei der Kriminaltechnik, arbeitet aber nebenher an der Universität bei den Informatikern, die haben da Zugriff auf ganz andere Sachen und viel bessere Programme. Er hat mir da mal ausgeholfen. Und was wir da gefunden haben, das glauben Sie mir nie. Hier“, er reichte Esser ein Blatt Papier. „Das sind Chat-Ausschnitte, die wir rekonstruieren konnten.“
Zwischen ziemlich viel Zahlen- und Buchstabengewirr, das quer über die DIN A4-Seite verteilt war, waren einige Zeilen mit zwei Farben markiert. Gelb schien von Benedikt zu stammen, die orangenen Markierungen gehörten jemand anderem.
„Wer ist ‚Betty Blue‘?“
„Nach dem, was ich herausfinden konnte, ist das der Bühnenname einer Kollegin von ihm. Benedikt war Schauspieler am Stadttheater, aber Betty Blue, oder Jennifer Winter, wie sie eigentlich heißt, ist im Theater im Moment eine ziemlich große Nummer.“
Esser las:

B.: Bist du sicher, dass du Lisa gesehen hast? Ich meine, sie hat lange braune Haare, das könnte quasi jede gewesen sein.

BB: Na klar, ich kenn sie doch. Den Typen da neben ihr aber nicht. Hast du den echt noch nie gesehen? Warte, ich schick dir mal ein Foto, ich war echt geschockt, das musste ich einfach knipsen.

B.: Oh man, das ist echt Lisa, aber keine Ahnung, wer das da sein soll. Dabei ist sie doch eigentlich zu Besuch bei ihren Eltern! Das glaub ich einfach nicht…

Was soll ich denn jetzt machen?


„Wie geht es da weiter?“, fragte Esser.
„Vom Zwischenteil haben wir nicht so viel, das muss über mehrere Wochen gegangen sein. Erst kurz vor ihrem Tod hat der Löschalgorithmus wieder versagt“, sagte Kircher und reichte ihm ein weiteres Blatt.

B.: Ich glaub echt nicht, dass ich das tue. Lisa ist nicht da. Und ich kenne ihr Passwort.

BB: Wenn du das jetzt nicht machst, wirst du nie die Wahrheit erfahren.

B.: Da ist was dran.

Wie soll ich das denn erkennen?

BB: Guck nach irgendwas, was nicht passt, dir komisch vorkommt, oder so. Glaub mir, ich hab da Erfahrung – und frag mich jetzt bitte nicht, wieso.

B.: Oh Gott, ich glaub das nicht. „Bürounterlagen“ hat sie den Ordner genannt. Haha. Der Kerl ist drin. Bestimmt zwanzig Fotos. Schon mehrere Monate alt.

BB: Oh Gott. Wie unglaublich mies.

Das tut mir echt mega Leid! Was machst du jetzt?


„Danach haben wir nichts mehr gefunden“, sagte Kircher.
Esser schluckte. „Was sagen Ihnen diese Buchstaben drumherum hier? Hat der Salat da was zu bedeuten?“
"Das sind die Reste der technischen Angaben für den Messengerdienst, die Übertragungen und solche Sachen“, sagte Kircher. „Ich weiß nicht, ob wir davon noch was brauchen können. Benedikt hatte den Messengerdienst nicht verschlüsselt, dummerweise. Deswegen war die Rekonstruktion von diesem Gespräch so einfach.“
Esser ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. „Und das haben Sie einfach so herausbekommen?“
„Das war harte Arbeit und hat fast zwei Wochen gedauert“, sagte Kircher und klang fast beleidigt.
„Also gibt es einen gefälschten Ordner auf Lisas Computer, in dem sich Fotos befinden, die man als mögliche Affäre deuten könnte. Einen Ordner mit belanglosen Informationen, der von einem Trojaner gezielt gelöscht wird. Und dann haben wir Benedikt, der seine Ehekrise, die auf gefälschten Fotos beruht, mit einer Kollegin diskutiert, die von diesen Fotos weiß. War sie dafür verantwortlich, oder wie?“, fragte Esser hilflos. Dieses Thema überstieg seinen Verstand.
Kircher nickte. „Ich nehme an, dass Lisa zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich bei ihren Eltern war?“
Esser bejahte. Er überlegte einen Moment. „Sie glauben, dass Benedikt zum Mord an seiner Frau gedrängt wurde?“
Kircher nickte ernst. „Allerdings glaube ich das. Ich würde vorschlagen, dass wir tiefer bohren.“
Esser lief noch immer auf und ab. „Gut, das ist immerhin ein Anhaltspunkt. Ich werde mich mal mit dieser Betty Blue unterhalten.“ Er hielt inne und drehte sich um. „Auf Ihrem Handy müssten man diesen Chat dann ja finden können, oder nicht?“
Kircher nickte. „Es sei denn, sie hätte den Chat gelöscht. Aber selbst dann könnten wir wahrscheinlich noch was finden.“
„Meinen Sie, dass Sie aus diesem ganzen… Datensalat da noch irgendwas Nützliches herausbekommen? Also überall, Computer, Handy, was Sie sonst noch finden?“
Kircher zuckte die Schultern. „Versuchen kann ich es, aber das ist wahrscheinlich verschlüsselt, dafür werde ich ganz schön lange brauchen.“
„Mir egal. Das ist ab jetzt Teil der Ermittlung. Gute Arbeit, Kircher.“

Harald Esser gab sich alle Mühe, mehr über Benedikt und Lisa Hauser herauszufinden. Er sprach erneut mit den Eltern der beiden Toten, mit ihren Freunden und Kollegen. Niemand kannte einen Programmierer, der etwas gegen die beiden hatte.
Eine alte Freundin von Benedikt wusste aber, dass er darüber nachdachte zu studieren, um endlich ein festes Einkommen zu haben, und deswegen verschiedene Vorlesungen an der Universität besucht hatte. Sie war sich sicher, dass mindestens eine davon mit Informatik zu tun hatte. Eine weitere war wahrscheinlich aus dem Bereich Psychologie. Da Benedikt nicht offiziell eingeschrieben oder als Gasthörer registriert war, würde es schwierig werden, da an nähere Informationen zu gelangen. Ein Anruf an der Universität und Gespräche mit verschiedenen Sekretärinnen ergab, dass die Herren und Damen Institutsdirektoren erst in einer Woche wieder Termine frei machen konnten.
Aber Esser hatte sich in den Fall verbissen. Deswegen schob er einen Termin mit Benedikts Kollegin Betty Blue dazwischen. Sie gastierte derzeit in der Rolle der Julia in der Stadt. Die Intendantin des Theaters schickte Esser zur Probe.


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