Die Reise

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molly

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Eine Reise

Meine Freundin Sara begleitete mich zum Zug. Der ICE nach Hamburg stand schon bereit, ich ging zu meinem reservierten Platz, diesmal in einem Abteil. Nur eine alte Frau saß da. Sie blickte mich über den Rand der Zeitung so an, als wollte sie sagen: „Stör mich bloß nicht, ich will lesen." Meinen Gruß erwiderte sie mit einem flüchtigen Kopfnicken. Ich stand am Fenster und winkte meiner Freundin zu. Dann wuchtete ich den Koffer ins Gepäcknetz und hängte meinen Mantel auf. Die Oma las noch immer.

„Ich komme gleich wieder", murmelte ich und verzog mich sofort ins Bordrestaurant. Diese Strecke kannte ich sehr gut, nichts Neues war da zu entdecken. Ich langweilte mich sehr und trödelte beim Kaffee trinken. Das würde eine lange Fahrt werden, denn auch im Speisewagen hatten die Menschen keine Lust zum Plaudern. Entweder starrten sie aus den Fenstern oder versteckten sich hinter einer Zeitschrift, wie die Oma in meinem Abteil. Nun, langweilen konnte ich mich dort bequemer, ich würde die Füße ausstrecken und eben auch lesen. Die alte Frau empfing mich mit vorwurfsvollem Blick.

„Habe schnell einen Kaffee getrunken", erklärte, ich.

"Ja, hatten Sie denn gar keine Angst um den schönen Lederkoffer und um den herrlichen Mantel?"

„Aber warum denn, Sie saßen doch da und ich dachte, Sie würden selbstverständlich auch ein wenig auf meine Sachen achten!"

Sie schüttelte den Kopf. "Wieso ist das selbstverständlich? Ich bin doch eine alte Frau und kann mich gegen Räuber und Diebe nicht wehren. Außerdem hätte ich Ihnen den Mantel klauen können.“ Aber das glaubte ich nicht, der Mantel war viel zu groß und auffallend. Ich lachte laut, sie aber stand auf, griff sich meinen Mantel und hängte ihn gefaltet über ihren Arm.

"Es hätte wunderbar geklappt, ohne mit der Wimper zu zucken, wäre ich mit dem Mantel verschwunden", sagte sie.

Nun, da sie so vor mir stand, sah ich erst, wie klein und zierlich sie war. Doch von Schwäche oder Hilflosigkeit keine Spur. Ich gab meinen Leichtsinn zu, die alte Dame drückte mir meinen Mantel in die Arme und setzte sich zufrieden wieder hin. Sie freute sich auf die Fahrt durch den Harz, da hatte sie einmal mit den Eltern gelebt und auch die Jugendzeit verbrachte sie im Harz. Ich wollte wissen, warum sie Kindheit und Jugendzeit getrennt nannte, Elternhaus blieb doch immer Elternhaus, ob als Kind oder als Jugendlicher.

"Das trifft aber nicht auf mich zu“, sagte sie, und schaute mich wieder mit ihrem "Lass mich in Ruhe Blick“ an. Doch dann lächelte sie, öffnet ihre Tasche, holte Brote und eine Thermoskanne heraus.

"Ich muss mich erst einmal stärken, wollen Sie auch eine Schnitte? Nehmen Sie eine, mit Salami, die schmeckt doch jedem", ermunterte sie mich.

„Ich spendiere uns dann frischen Kaffee.“ Sie fand das wunderbar und stellte ihre Kanne zur Seiter, für später. Für sie war ganz sicherlich nichts selbstverständlich, auch nicht Kaffee und Salamibrote.

Während wir aßen und tranken, erfuhr ich einiges aus dem Leben dieser alten Dame, die ich von Kilometer zu Kilometer mehr mochte. Sie hieß Lene und wuchs als einziges Kind wohlbehütet und geliebt auf. Doch bei der Geburt des zweiten Kindes starb die Mutter und ein halbes Jahr später verunglückte der Vater tödlich. Die achtjährige Lene kam ins Waisenhaus. Tröstlich für Lene war, dass da viele kleine Mädchen lebten, die sich im Schlafsaal unter der Bettdecke verkrochen und heulten, genau wie sie.

Anfangs suchte sie im Waisenhaus die Nähe von Frauen, die ihrer Mutter ähnelten. Zuerst war es die Lehrerin, doch dieser wurde die Anhänglichkeit des kleinen Mädchens bald lästig. Dann entdeckte sie in der Küche eine Helferin, die so verflixt schnell wie die Mutter Kartoffeln schälen konnte. Aber auch in der Küche hieß es, sie solle den Leuten nicht immerzu vor die Füße laufen. Im ganzen Haus gab es keine Frau, der sie nicht nach drei Wochen auf die Nerven ging.

Lene suchte weiter und fand die Gärtnersfrau. Zu ihr brachten die Kinder die Küchenabfälle und sie fütterte damit die Schweine. Als die Frau nach vier Wochen noch immer gleich freundlich und geduldig war, beschloss Lene, in dieser Frau ihre Mutter zu sehen. Das Leben, fand Lene, wurde damit wieder leichter. Die meisten Kinder bekamen zu Festtagen ein Päckchen von Verwanden, Lene nicht. Einmal beklagte sie sich deshalb bei der Gärtnersfrau. Diese jedoch band sich die Stallschürze um und bat freundlich wie immer:

„Komm, Lene, hilf mir die Schweine füttern, hab keine Zeit für Selbstmitleid.“

„Aber was soll ich tun, wenn ich traurig bin"? fragte Lene weinend.

"Mir hilft beten und arbeiten, dabei bleibt mir keine Zeit für Selbstmitleid“, sagte die Gärtnersfrau bestimmt.

Solange Lene im Waisenhaus lebte, bekam sie diese Sprüche vom Selbstmitleid und vom Beten und Arbeiten noch öfters zu hören. Sie hat die Worte nie vergessen, nicht, als ihr Mann im Krieg fiel und sie mit einem kleinen Jungen allein zurück blieb, nicht, als der Sohn vor fünf Jahren starb. Sie lebte von ihrer bescheidenen Rente und bewohnte zwei Zimmerchen, ein einfaches aber sauberes kleines Reich, wie sie sagte. Einmal im Jahr fuhr sie zu ihrem Enkelsohn nach Bayern, die Fahrkarte für die Reise besorgte er für sie.

Ich hätte der alten Dame gerne weiter zugehört, doch sie sagte:

„Wir beide müssen uns jetzt rüsten, gleich fährt der Zug in Hamburg ein.“

Ich brachte die alte Dame zu ihrem Zug nach Pinneberg. Zum Abschied reichte ich ihr die Hand. Sie aber drehte mir die Handfläche nach oben und legte einen Geldschein darauf.

“Ein Gruß aus Ihrer Manteltasche.“

Sie umarmte mich, stieg ein und ich winkte ihr lachend nach, bis ich den Zug nicht mehr sah.
©Monika Rieger
 
Zuletzt bearbeitet:

ThomasQu

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Servus molly,

eine nette kleine Geschichte, ein wenig traurig und ein wenig lustig zugleich.

Ein paar Änderungsvorschläge:

„Ich komme gleich wieder", murmelte ich nach einiger Zeit und verzog mich in den Speisewagen.

Sie schüttelte den Kopf. "Wieso ist das selbstverständlich? (Ich bin doch eine alte Frau und kann mich gegen Räuber und Diebe nicht wehren.) Der Satz könnte raus. Außerdem hätte ich Ihnen den Mantel klauen können.“ Jetzt neue Zeile.
Aber das glaubte ich nicht, der Mantel war viel zu groß und auffallend. Wieder neue Zeile
Ich lachte laut, sie aber stand auf, griff sich meinen Mantel und hängte ihn gefaltet über ihren Arm.

Bis eben wäre ich jede Wette eingegangen, dass sie überhaupt keinen Mantel vom Haken holen konnte. M.E. auch überflüssig. Und warum sollte sie das nicht können?

Für sie war ganz sicherlich nichts selbstverständlich, auch nicht Kaffee und Salamibrote. Woher will das die Ich-Erzählerin wissen?

… und heulten, genau wie sie. Neue Zeile Anfangs suchte sie …

… auf die Nerven ging. Neue Zeile Lene suchte weiter …

… Lene weinend. Neue Zeile "Mir hilft beten und arbeiten …

… Gärtnersfrau bestimmt. Neue Zeile Solange Lene …

… besorgte er für sie. Hier die neue Zeile
Ich hätte der alten Dame gerne weiter zugehört, doch sie sagte: „Wir beide müssen uns jetzt rüsten, gleich fährt der Zug in Hamburg ein.“ Neue Zeile

Ich brachte die alte Dame zu ihrem Zug nach Pinneberg. Zum Abschied reichte ich ihr die Hand. Sie aber drehte MIR die Handfläche nach oben und legte einen Geldschein hinein.

So so. So eine ist das also …

Viele Grüße, Th.







 

molly

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Hallo Thomas,

vielen Dank fürs Lesen und die guten Tipps, einiges habe ich davon übernommen.

Ich wünsche Dir eine gute Woche.

Liebe Grüße

molly
 

Ji Rina

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Liebe molly,

Der letzte Satz hat mich sehr amüsiert, denn er macht die Geschichte rund und man merkt, was das für eine Sorte Frau ist.
Ich habe mich an der Stelle an meine Oma erinnert, die ganz genauso war. Einmal hat sie eine Scheere (die meine Mutter irgendwo im Garten liegengelassen hatte) einen Monat lang in einer Schublade aufbewahrt, während meine Mutter fast wahnsinnig geworden ist und sie überall gesucht hat. Hier, meine liebe (meinte meine Oma) damit du lernst, die Dinge nicht irgendwo liegen zu lassen. Meine Mutter hat ihr das nie verziehen.:D

Ein paar wertvolle Tipps hat Thomas dir gegeben. Besonders wichtig finde ich den Beginn der neuen Zeilen, wie er dir rät.
Und hier:
Bis eben wäre ich jede Wette eingegangen, dass sie überhaupt keinen Mantel vom Haken holen. Finde ich auch überflüssig. Der Leser denkt sich das selber.
Da ich dich kenne, wirst du die Geschichte sicherlich sehr bald überarbeiten und neu einstellen. Und dann ist sie wollkommen rund.;)
Liebe Grüsse,
Ji
 



 
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