Vitelli
Mitglied
Es geschah Mitte der 80er, und ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein.
Wie jeden Sommer, verbrachte ich die Ferien mit meiner Familie auf dem Campingplatz.
Es war frühabends, und wir saßen draußen um den großen Tisch herum. Meine Tante, Mutter und Oma spielten Canasta, während mein Vater und Onkel lauthals darüber stritten, ob Rambo II besser als Rambo I sei. (Mein Vater war dieser Ansicht, mein bierseliger Onkel argumentierte dagegen; mein Opa fand sie beide gut.)
Ich, das einzige Kind, las Lucky Luke.
Doch mir ging nicht aus dem Kopf, was ich am gestrigen Abend gesehen hatte. Ich war wie besessen. Ich wollte, nein, musste es mit eigenen Augen sehen. Aus einem Impuls heraus sprang ich auf und schnappte mir Schaufel und Spaten, die sich in dem kleinen Schuppen hinter dem Wohnwagen befanden.
Nachdem ich den Sandkasten von sämtlichen Utensilien und Spielzeugen befreit hatte, begann ich inmitten des Sandkastens ein Loch zu graben. Es dauerte nicht lang, bis ich meine Mutter rufen hörte: „Kannst du mir mal verraten, was du da machst?“
„Ich schaufle ein Loch“, sagte ich wahrheitsgemäß, wohlwissend mir nur einen kurzen Aufschub erkauft zu haben.
„Und was soll das bitte schön werden, wenn es fertig ist?!
Ich rief entnervt zurück: „Ich grabe ein Loch zum Mittelpunkt der Erde!“
Allgemeines Gelächter.
Normalerweise mochte ich es, wenn ich etwas sagte und die Erwachsenen dann lachten. Oft wiederholte ich sogar das soeben gesagte, um zu schauen, ob es nochmal den gleichen Effekt haben würde. Aber dieses Lachen war anders; es gefiel mir nicht.
Meine Oma, die als einzige nicht gelacht hatte, fragte meine Mutter, was ich denn gesagt hätte, dass alle lachten. Meine Mutter erklärte ihr daraufhin, dass wir gestern diesen alten Film – Die Reise zum Mittelpunkt der Erde – geschaut hatten, indem ein Forscherteam eine Höhle fand, die zum Mittelpunkt der Erde führte, und ich nun auf der Suche nach dieser Höhle sei, um auch zum Mittelpunkt der Erde zu gelangen.
Diesen Film, hatte meine Mutter abschätzig gesagt. Diesen. Es war der ZDF-Wunschfilm! Bis zu einer Stunde vor der Ausstrahlung, konnte man samstags per Televoting zwischen drei Filmen wählen, und Die Reise zum Mittelpunkt der Erde hatte sich durchgesetzt. (Zur Wahl standen noch: Die Höllenfahrt der Poseidon sowie Sebastian Kneipp – Ein großes Leben.) Mein Vater und ich waren fast eine halbe Stunde unterwegs gewesen, um via der Campingplatz-Telefonzelle am Tele-Dialog teilzuhaben. Und auch wenn es meiner Stimmabgabe nicht bedurft hätte - Die Reise zum Mittelpunkt der Erde siegte mit absoluter Mehrheit -, war es doch etwas Besonderes, ‚mitverantwortlich‘ für die Ausstrahlung eines – dieses - Filmes gewesen zu sein.
„Hör jetzt auf zu buddeln und komm her“, rief meine Mutter.
„Nein!“
„Mensch, Jan, lass den Quatsch. Das war doch nur ein Film.“
Ich verstand nicht. Nur ein Film? Klar war das ein Film, aber die waren halt dort und wurden dabei gefilmt – so funktioniert das doch, oder nicht?“ Während ich noch nachdachte, wand mein Onkel ein: „Lass ihn doch buddeln. Dann ist er bald müde und schläft früh.“
Ich konnte nicht glauben, was ich da soeben vernommen hatte. Und von wem. Du, mein Onkel, Held und Freund, wie konntest du nur?
Wie viele Carrera-Rennen haben wir zusammen bestritten? In wie vielen Playmobilschlachten haben wir Seite an Seite gekämpft? Unzählige Stunden verbrachten wir gemeinsam am Flipperautomaten. Und nun fällst du mir so in den Rücken …
Aber dennoch, schoss es mir in den Kopf, hatte mir mein Onkel mit seinen Worten die Legitimation erteilt, meine Mission fortzuführen. Hm.
Während ich also noch überlegte, ob mein Onkel nun Freund oder Feind war, stieß ich beim Buddeln auf Erde, sodass ich die Schaufel gegen den Spaten tauschte. Allerdings war die Erde so fest, dass ich den Spaten nur mit erheblichen Krafteinsatz in den Boden bekam. Mit dem Mut und der Wut der Verzweiflung, rammte ich den Spaten immer wieder in den Boden. Aber es nützte nichts – mir wurde bewusst, dass mein Vorhaben gescheitert war, ich den Mittelpunkt der Erde nicht erreichen werde. Und auch wenn ich Begrifflichkeiten wie Scheitern und Schamgefühl noch nicht kannte, empfand ich genau das. Um meine Blöße zu bedecken, täuschte ich eine Verletzung vor, die mich vom Weitermachen abhielt. Das darauffolgende Gelächter und die schnippischen Kommentare meiner Familie waren nicht zu ertragen; mit Tränen in den Augen rannte ich zum Wohnwagen.
„Ey!“, schrie mein Vater, „hast du nicht was vergessen, Freundchen?!“ Ich blieb stehen, verstand aber nicht. „Schaufel und Spaten – dahin zurück wo du sie hergeholt hast, aber dalli!“ Wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Ich schmiss Schaufel und Spaten so laut in den Schuppen, dass es jeder hören konnte.
Grimmig, meine Gefühlswelt nach außen kehrend, passierte ich meine Familie. „Nun komm schon her und setzt dich zu uns“, sagte meine Mutter versöhnlich. Doch ich würdigte sie keines Blickes. Im Wohnwagen angekommen, machte ich mich bettfertig, legte eine TKKG-Hörspielkassette ein und deckte mich zu. Ich dachte noch kurz an diesen blöden Sandkasten, doch versank ich immer tiefer in die beruhigende Welt der TKKG-Fiktion.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, sah ich freudig dem neuen Tag entgegen. Keinen Gedanken verschwendete ich an gestern. Heute weiß ich: Nichts ist vergänglicher als ein Gestern in Kindheitstagen.
Wie jeden Sommer, verbrachte ich die Ferien mit meiner Familie auf dem Campingplatz.
Es war frühabends, und wir saßen draußen um den großen Tisch herum. Meine Tante, Mutter und Oma spielten Canasta, während mein Vater und Onkel lauthals darüber stritten, ob Rambo II besser als Rambo I sei. (Mein Vater war dieser Ansicht, mein bierseliger Onkel argumentierte dagegen; mein Opa fand sie beide gut.)
Ich, das einzige Kind, las Lucky Luke.
Doch mir ging nicht aus dem Kopf, was ich am gestrigen Abend gesehen hatte. Ich war wie besessen. Ich wollte, nein, musste es mit eigenen Augen sehen. Aus einem Impuls heraus sprang ich auf und schnappte mir Schaufel und Spaten, die sich in dem kleinen Schuppen hinter dem Wohnwagen befanden.
Nachdem ich den Sandkasten von sämtlichen Utensilien und Spielzeugen befreit hatte, begann ich inmitten des Sandkastens ein Loch zu graben. Es dauerte nicht lang, bis ich meine Mutter rufen hörte: „Kannst du mir mal verraten, was du da machst?“
„Ich schaufle ein Loch“, sagte ich wahrheitsgemäß, wohlwissend mir nur einen kurzen Aufschub erkauft zu haben.
„Und was soll das bitte schön werden, wenn es fertig ist?!
Ich rief entnervt zurück: „Ich grabe ein Loch zum Mittelpunkt der Erde!“
Allgemeines Gelächter.
Normalerweise mochte ich es, wenn ich etwas sagte und die Erwachsenen dann lachten. Oft wiederholte ich sogar das soeben gesagte, um zu schauen, ob es nochmal den gleichen Effekt haben würde. Aber dieses Lachen war anders; es gefiel mir nicht.
Meine Oma, die als einzige nicht gelacht hatte, fragte meine Mutter, was ich denn gesagt hätte, dass alle lachten. Meine Mutter erklärte ihr daraufhin, dass wir gestern diesen alten Film – Die Reise zum Mittelpunkt der Erde – geschaut hatten, indem ein Forscherteam eine Höhle fand, die zum Mittelpunkt der Erde führte, und ich nun auf der Suche nach dieser Höhle sei, um auch zum Mittelpunkt der Erde zu gelangen.
Diesen Film, hatte meine Mutter abschätzig gesagt. Diesen. Es war der ZDF-Wunschfilm! Bis zu einer Stunde vor der Ausstrahlung, konnte man samstags per Televoting zwischen drei Filmen wählen, und Die Reise zum Mittelpunkt der Erde hatte sich durchgesetzt. (Zur Wahl standen noch: Die Höllenfahrt der Poseidon sowie Sebastian Kneipp – Ein großes Leben.) Mein Vater und ich waren fast eine halbe Stunde unterwegs gewesen, um via der Campingplatz-Telefonzelle am Tele-Dialog teilzuhaben. Und auch wenn es meiner Stimmabgabe nicht bedurft hätte - Die Reise zum Mittelpunkt der Erde siegte mit absoluter Mehrheit -, war es doch etwas Besonderes, ‚mitverantwortlich‘ für die Ausstrahlung eines – dieses - Filmes gewesen zu sein.
„Hör jetzt auf zu buddeln und komm her“, rief meine Mutter.
„Nein!“
„Mensch, Jan, lass den Quatsch. Das war doch nur ein Film.“
Ich verstand nicht. Nur ein Film? Klar war das ein Film, aber die waren halt dort und wurden dabei gefilmt – so funktioniert das doch, oder nicht?“ Während ich noch nachdachte, wand mein Onkel ein: „Lass ihn doch buddeln. Dann ist er bald müde und schläft früh.“
Ich konnte nicht glauben, was ich da soeben vernommen hatte. Und von wem. Du, mein Onkel, Held und Freund, wie konntest du nur?
Wie viele Carrera-Rennen haben wir zusammen bestritten? In wie vielen Playmobilschlachten haben wir Seite an Seite gekämpft? Unzählige Stunden verbrachten wir gemeinsam am Flipperautomaten. Und nun fällst du mir so in den Rücken …
Aber dennoch, schoss es mir in den Kopf, hatte mir mein Onkel mit seinen Worten die Legitimation erteilt, meine Mission fortzuführen. Hm.
Während ich also noch überlegte, ob mein Onkel nun Freund oder Feind war, stieß ich beim Buddeln auf Erde, sodass ich die Schaufel gegen den Spaten tauschte. Allerdings war die Erde so fest, dass ich den Spaten nur mit erheblichen Krafteinsatz in den Boden bekam. Mit dem Mut und der Wut der Verzweiflung, rammte ich den Spaten immer wieder in den Boden. Aber es nützte nichts – mir wurde bewusst, dass mein Vorhaben gescheitert war, ich den Mittelpunkt der Erde nicht erreichen werde. Und auch wenn ich Begrifflichkeiten wie Scheitern und Schamgefühl noch nicht kannte, empfand ich genau das. Um meine Blöße zu bedecken, täuschte ich eine Verletzung vor, die mich vom Weitermachen abhielt. Das darauffolgende Gelächter und die schnippischen Kommentare meiner Familie waren nicht zu ertragen; mit Tränen in den Augen rannte ich zum Wohnwagen.
„Ey!“, schrie mein Vater, „hast du nicht was vergessen, Freundchen?!“ Ich blieb stehen, verstand aber nicht. „Schaufel und Spaten – dahin zurück wo du sie hergeholt hast, aber dalli!“ Wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Ich schmiss Schaufel und Spaten so laut in den Schuppen, dass es jeder hören konnte.
Grimmig, meine Gefühlswelt nach außen kehrend, passierte ich meine Familie. „Nun komm schon her und setzt dich zu uns“, sagte meine Mutter versöhnlich. Doch ich würdigte sie keines Blickes. Im Wohnwagen angekommen, machte ich mich bettfertig, legte eine TKKG-Hörspielkassette ein und deckte mich zu. Ich dachte noch kurz an diesen blöden Sandkasten, doch versank ich immer tiefer in die beruhigende Welt der TKKG-Fiktion.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, sah ich freudig dem neuen Tag entgegen. Keinen Gedanken verschwendete ich an gestern. Heute weiß ich: Nichts ist vergänglicher als ein Gestern in Kindheitstagen.