Die Revolution

hades

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Die Revolution

Endlich hatte ich ein Auto.
Beinahe eine Woche lang war ich auf dem Trockenen; jetzt hatte ich endlich den Käfervertrag unter Dach und Fach; das, was man so Vertrag nennt.
Mein Schwager sah in meinem soeben erworbenen Führerschein die Chance, seine Schrottkarre an den Mann zu bringen. Den frisch gedruckten Schein in der Tasche wurde ich zuhause bereits von ihm empfangen. In meinem Kopf drehte sich alles nur noch um das Thema: wo bekomme ich für die paar Kröten in meinem permanent hungerleidenden Portemonnaie ein brauchbares Gefährt her? Mein Schwager stand für ein intensives Brainstorming zur Verfügung. Ein Kassensturz fixierte meine Möglichkeiten: fünfhundert und fünfzig Mark – cash! Davon standen Fünfhundert für das Heißersehnte und Fünfzig für Sprit bis zum Monatsende.
Mein Schwager überzeugte mich fast, dass ich ein nicht lösbares Problem hätte. Meine Hoffnung, in einigermaßen annehmbarer Zeit noch Autobesitzer zu werden, sanken auf den Nullpunkt. Doch dann durchzuckte den Mann meiner Schwester ein Blitz des Geistes:
„Ich könnte mir denken...vielleicht...ein neues Auto für mich wäre auch nicht schlecht...dann wäre meins ja übrig. Fünfhundert sind eigentlich schlapp, aber es bleibt ja in der Familie.“
Ich fand die Idee mit dem neuen Auto für meinen Schwager genial; neu ist natürlich relativ.
Auf jeden Fall saß ich nun sechs Tage nach dem Erhalt der Fahrerlaubnis in meinem ersten Auto; der erste Käfer mit großer Heckscheibe, Baujahr Neunzehnhundertsiebenundfünfzig.
Bevor Sie lachen: die Geschichte spielt im Jahre Neunzehnhundertachtundsechzig.
Ein Auto muss gefahren werden; ich nahm dieses Prinzip sehr ernst.
Es störte fast gar nicht, wenn das Vehikel die Rechtskurven nur in Deltasprüngen nahm; Linkskurven bewältigte es einwandfrei. Ich fuhr vom frühen Morgen bis zum späten Abend, drei Tage lang.
Am Nachmittag des vierten Tages stand eine fünfköpfige Gruppe am Rande der Steeler Straße und streckte die Daumen. Als stolzer Eigentümer einer Nobelkarosse stoppte ich natürlich, weil unter ihnen auch zwei Mädchen unmissverständlich anzeigten, dass sie gerne mit mir fahren würden.
„Sei gegrüßt, Freund!“
Ein blonder Mann mit einer schwarzen Mütze und Haaren bis zu den Hüften lächelte mich an und hatte eine Hand erhoben, als er sich durch das heruntergekurbelte Fenster meines kakifarbenen Wagens lehnte.
„Fährst du zur Demo?“
Es schien überhaupt nicht schlimm zu sein, dass ich nicht wusste, wovon er redete.
„Achim“, vertraute er mir an, „und du?“
„Erich.“
„Erich, da musst du hin. Es geht um die Demokratie.“
Achim überlegte nicht lange. Er zog die Beifahrertür auf und ließ vier Leute hinten einsteigen. Er selbst setzte sich nach vorne zu mir.
„Bist ein echter Genosse“, sagte er, was so viel heißt wie: ‚GEIL’.
Fortan musste ich nicht mehr ziellos durch die Gegend irren. Achim wusste, wo es lang ging.
„Übrigens“, seine rechte Hand wies zum Rücksitz, von links nach rechts, „Tacke, Maus, Alice und Matze.“
Maus und Alice trugen beide ein schwarzes Stirnband, vom selben Händler. Maus blinzelte mich vielsagend an und ihre Mausezähne fand ich auf Anhieb süß.
„Wir lassen morgen früh die Bild nicht raus“, erläuterte Achim.
„Springer kontrolliert achtzig Prozent der Presse und muss gestoppt werden. Wir blockieren die Ausfahrt. Bist doch dabei?“
„Klar“, ich konnte mir vor Maus keine Blöße geben und durchblicken lassen, dass ich keinen Schimmer hatte, was er wollte.
Bereits in der Innenstadt wurde das menschliche Knäuel immer dichter, sodass ich nicht mehr weiterfuhr; Demonstranten blockierten die Fahrbahn. Achim sprang raus und schrie in die Menge:
„Hey, Genossen, wir sind die Front; macht Platz, weitergeben!“
Die Nachricht von der Front verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und wie bei Moses öffnete sich das Meer; es bildete sich eine Schneise. Achim stand in der Beifahrertür auf dem Trittbrett und entrollte eine Flagge:
Che Guevara lebt
Tausende von Händen schlugen auf das Dach meines kostbaren Besitzes und winkten Achim zu; er schien alle zu kennen. Obwohl ich mir Sorgen um meine Neuerwerbung machte, erfüllte mich Stolz.
„Zur Girarded Straße“, befahl er und deutete mir den Weg.
„Stopp“, er zeigte auf das große Tor der Presse.
„Stell den Wagen quer davor, die dürfen nicht vorbei.“
Ich gehorchte. Kaum hatte ich den Käfer abgestellt und den Zündschlüssel herausgezogen, rannten mindestens fünfzehn Polizisten auf uns zu.
„Macht sofort, dass ihr hier verschwindet, oder wir schleppen den Wagen weg!“
Das hörte sich für meine Ohren sehr bedrohlich an. Doch Achim schaute mich ruhig an und sagte:
„Lass dich nicht provozieren, die Polizisten sind nicht unsere Feinde. Sie sind selbst Opfer des Establishments.“
Ich hatte nicht vor, mich provozieren zu lassen und startete den VW.
„Wo willst du hin?“
Achim blickte mich verwundert an.
„Weg“, sagte ich.
„Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich nicht provozieren lassen. Du hast doch nicht etwa Angst um das Auto?“
Maus und Alice kicherten. Eine von ihnen fuhr mit ihrer Hand unter mein Hemd und streichelte meine Brust.
„Natürlich nicht“, log ich.
„Lass das Auto stehen“, sagte Achim, „und ruhig bleiben, nicht provozieren lassen!“
Als ich den Motor wieder stoppte, winkte der Sprecher der Polizeibeamten weitere Polizisten herbei. Eine Minute später umzingelten über zwanzig Grüne mein Auto.
„Wir tragen es hier weg“, sagte der Sprecher und wenig später schwebte mein Auto samt seiner Insassen in der Luft. Achim steckte seinen Kopf aus dem Fenster und rief in die Menge:
„Genossen, wir brauchen eure Solidarität!“
Es rotteten sich mindestens Hundert der Anhänger Achims zusammen und schoben mein Auto auf Polizeibeinen wieder zurück zum Tor. Mir war nicht recht wohl bei der Sache, doch sie – es war Maus – hatte meine Brust noch immer nicht losgelassen; so ließ ich es geschehen.
Achim jubelte: „Das ist die Revolution.“
Die hatte ich mir, ehrlich gesagt, immer etwas anders vorgestellt, zum Beispiel ohne mein Auto; doch Achim musste es wissen. Mein Käfer hatte auf jeden Fall seine revolutionäre Position wieder eingenommen.
Der Sprecher der Establishmentopfer steckte nun sein rotes Gesicht durch das Fenster auf meiner Seite und brüllte mich an:
„Verschwinden Sie, oder ich lasse die Kiste hier wegschleppen!“
„Freund“, flötete Achim, „ich weiß, du kannst nichts dafür; du kannst doch mit der Machtkonzentration von Axel Springer nicht einverstanden sein.“
„Freundchen“, zischte der ‚Freund’ nun zu Achim, „die einzige Machtkonzentration, die ich hier sehe, sind wir, und wenn Ihr nicht hier verschwindet, werden wir noch mächtiger.“
„Ruf den Ruppert“, raunte der ‚Freund’ nun einem anderen Establishmentopfer zu, „störendes Objekt muss entfernt werden.“
„Lass dich nicht provozieren“, sagte Achim, „es geht um die sozialistische Idee; wir bleiben hier.“
Maus’ Hand fingerte nun an meiner Hose.
Draußen riefen die Genossen der sozialistischen Demokratie jetzt immer deutlicher:
“Ho, Ho, Ho Chi Minh ...“
Achim bölkte aus dem Fenster: „Ho Chi Minh, Ho Chi Minh.“
Die Menge skandierte zurück: „Ho, Ho, Ho Chi Minh...“
Auch die fünf in meinem Wagen schrien wie verrückt: „Ho, Ho, Ho Chi Minh...“
Maus hatte inzwischen ihr Ziel bei mir erreicht und ich spürte den Takt von: „Ho, Ho, Ho Chi Minh“.
Achim blickte mich herausfordernd an und ich rief mit ihm und dem Rhythmus in meiner Hose: „Ho, Ho, Ho Chi Minh.“

© Erich Romberg, Mai 2001
 



 
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