Die rote Blume (2)

Die rote Blume


von Rolf-Peter Wille


zurück: zum Anfang der Erzählung (Teil 1)


[Teil 2]


Maria


"Herr Lehrer!" ertönte eine helle Stimme. Aber es war die Frequenz des Kulturzentrums und nicht des Success-Krankenhauses.
[ 8] "Herr Lehrer!" Die Stimme befand sich in unmittelbarer Nähe des Ausländers; aber erst als ihn eine Hand leicht am Arm berührte, bemerkte W., daß er die Quelle der Stimme fälschlicherweise in seiner eigenen Augenhöhe gesucht hatte. Es war jedoch eine Gestalt im Rollstuhl, und W. erkannte seine Schülerin Maria.
[ 8] Maria hieß übrigens nicht Maria und war auch nicht religiös. Zumindest wußte der Ausländer nichts bestimmtes. Maria erschien blaß und krank — die Vision eines Heiligenbildes. Und deshalb nannte W. sie Maria. Er erinnerte sich nun auch daran, Maria längere Zeit nicht in seinem Seminar gesehen zu haben. Er hatte Gerüchte gehört, daß Marias Krankheit sehr ernst sei, und er hatte es nicht ausgeschlossen, sie im Krankenhaus zu besuchen. Später hatte er die Angelegenheit und die Gerüchte vergessen.
[ 8] "Ich bin im 89. Stock, Zimmer 117." sagte Maria.
[ 8] "Da hätte ich lange suchen können…" sagte W. Maria erschien enthusiastisch und sie wirkte im Rollstuhl eigentlich viel gesünder und wirklicher als im Kulturzentrum. W. konnte übrigens keine Krankenschwester sehen und wußte nicht, wie Maria in ihrem Rollstuhl zu ihm gelangt war. Er zögerte. Er hätte den Rollstuhl zum Fahrstuhl schieben können. Aber Maria hatte sich bereits aus ihrem Rollstuhl erhoben. Sie schien gar keinen Rollstuhl zu benötigen, denn sie ging sicher.
[ 8] "Läßt Du den Rollstuhl hier?" fragte W.
[ 8] Maria lachte plötzlich. "Der Rollstuhl ist immer hier. Es ist ein Sitzplatz."
[ 8] "Ein sehr romantischer Platz…" sagte W.
[ 8] "Ich habe auf Sie gewartet." sagte Maria etwas ironisch. Sie stützte sich beim Gehen leicht auf den Ausländer. Diese Geste erschien durch ihre Krankheit gerechtfertigt; aber W. bemerkte nun, daß Maria naiv genug war, an seinen Besuch zu glauben. Maria ging mit großer Selbstverständlichkeit und einer gewissen Anmut durch die chaotisch an- und abschwellende Menschenmenge und, obwohl sie sich auf W. stützte, war es doch sie, die ihn führte.
[ 8] Sie waren durch eine große weiße Tür in ein Treppenhaus gelangt. Maria hatte diese Tür nicht mit ihren Händen berührt sondern sich nur leicht an sie gelehnt. Es war sicher ein Notausgang und das Treppenhaus war auch ein Nottreppenhaus und wurde nicht von den Patienten benutzt. Die plötzliche Stille in dem Treppenhaus war überraschend und wurde nur durch einen leichten Zigarettengeruch gestört.
[ 8] "Nur zum 89. Stock?" fragte W.
[ 8] "Zum 6. Stock." sagte Maria. "Können Sie gehen?"
[ 8] Der Ausländer verstand nicht. "Vielleicht brauche ich den Rollstuhl…" sagte er; aber es stellte sich heraus, daß ein Spezialfahrstuhl vom 6. Stock in die oberen Stockwerke des Success-Krankenhauses fuhr. Auch dieser Fahrstuhl wurde nicht von Patienten oder Besuchern benutzt, und W. erkannte nun, daß seine Schülerin einen Geheimweg im Labyrinth des Krankenhauses gefunden hatte, um den ungeheueren Menschenstrom zu vermeiden.
[ 8] "Du kennst Dich gut aus." sagte W.
[ 8] "Dies ist mein Zuhause." sagte Maria. Der Ausländer wußte nicht, ob die Bemerkung ironisch gemeint war, denn sie waren vor dem Zimmer 117 angelangt, und die Tür schien sich von selbst zu öffnen.

"Herr Lehrer!" sagte ein Mann und verbeugte sich auf gefällige Weise.
[ 8] "Mein Vater." sagte Maria.
[ 8] "Entschuldigung. Entschuldigung!" sagte der Vater. "Ich habe viel von Ihnen gehört. Trinken Sie einen Espresso?"
[ 8] "Bitte bemühen Sie sich nicht…" sagte W.
[ 8] "Oh. Sie sind ein sehr berühmter Lehrer. Meine Tochter… nicht gut, nicht gut…"
[ 8] "Was hat sie?" fragte W.
[ 8] "Sie ist sehr faul." sagte der Vater. Der Ausländer verstand nun, daß sich das Gespräch nicht auf die Krankheit Marias sondern auf ihre Qualität als Schülerin bezog. ‘Warum hat er nichts besseres im Kopf als leere Schmeicheleien, wenn seine Tochter bereits todkrank ist?’ dachte W. angewidert. "Einen Espresso!" sagte er.
[ 8] Zum Glück hatte der Vater verstanden und war sofort verschwunden.
[ 8] W. war nun allein mit Maria. Er konnte nicht erkennen, wie groß das Zimmer war und wie viele Patienten sich im Zimmer befanden, aber jedes Bett war behelfsmäßig durch Schiebewände abgesondert, und hierdurch entstand ein gewisser Privatbereich. Man konnte die anderen Besucher und Patienten nicht sehen. Aber das Gemurmel ihrer Gespräche vermischte sich mit der klassischen Hintergrundsmusik. Es waren die Goldbergvariationen gespielt von Glenn Gould, und dem Ausländer wurde es plötzlich bewußt, daß er diese Musik überall im Krankenhaus, sogar im Operationsbereich, im Treppenhaus und Fahrstuhl gehört hatte.
[ 8] Maria saß anmutig auf dem Bett und war nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet. W. konnte sich seltsamerweise nicht daran erinnern, ob sie dieses Nachthemd bereits im Rollstuhl angehabt hatte.
[ 8] "Wie geht es?" fragte er.
[ 8] "Es ist sehr ernst." sagte Maria. Sie entblößte ihre Beine, die mit großen roten Flecken bedeckt waren. Die Geste, mit der Maria ihre Beine entblößte, hatte etwas völlig Selbstverständliches und schien durch ihre Krankheit gerechtfertigt. W. konnte ihren weißen Schlüpfer erkennen und fühlte sich an eine Chirurgenmaske erinnert.
[ 8] "Dies ist nicht von der Krankheit. Es ist von der Bestrahlung. Ich hatte gerade Bestrahlung."
[ 8] "Was für eine Krankheit?" fragte W. Maria erwiderte etwas, aber W. kannte nicht den Chinesischen Ausdruck.
[ 8] "Ich weiß nicht, wie man es ausspricht." sagte Maria und schrieb etwas auf ein Papier, das W. als ‘mycosis fructoides’ entzifferte.
[ 8] "Ist es Krebs?" fragte W. Er fühlte sich etwas unangenehm, denn das Chinesische Wort für Krebs klang ihm sehr ähnlich wie das Wort ‘Liebe’.
[ 8] "Es ist Krebs." sagte Maria. "Aber ich kann weiterstudieren. Nach einem Monat kann ich das Krankenhaus verlassen und brauche nur einmal wöchentlich zum check-up."
[ 8] "Was sind die Symptome?" fragte W.
[ 8] "Nichts Besonderes. Müdigkeit…"
[ 8] W. wunderte sich, daß der Vater noch nicht mit dem Espresso erschienen war. "Hast Du viele Besucher?" fragte er.
[ 8] "Mein Vater." sagte Maria.
[ 8] "Wo ist Deine Freundin?" fragte W. Er erinnerte sich plötzlich daran, Maria im Kulturzentrum stets in Begleitung einer Freundin gesehen zu haben. Diese Freundin wirkte etwas dicklich und untersetzt an der Seite von Maria. W. hatte das Paar scherzhafterweise ‘Chi-Yueh, Pa-Yueh’ genannt, weil es ihn an zwei volkstümliche Gottheiten und Tempelhüter erinnerte.
[ 8] "Meinen Sie Pa-Yueh?" fragte Maria lächelnd. "Sie weiß nichts von meiner Krankheit."
[ 8] "Sie weiß nichts von Deiner Krankheit? Aber es ist sehr ernst." sagte W. ungläubig.
[ 8] "Es ist sehr ernst. Meine Heilungschance ist nur sehr gering. Sie würde sich sehr freuen."
[ 8] "Pa-Yueh? Aber ist sie nicht Deine Freundin?"
[ 8] "Sie ist meine beste Freundin."
[ 8] "Deine beste Freundin würde sich sehr freuen, wenn Du Krebs hast?"
[ 8] "Natürlich."
[ 8] "Wieso?"
[ 8] "Herr Lehrer…, Chinesen sind so."
[ 8] Der Ausländer verstand nicht. Das Mißtrauen Marias erschien absurd. Vielleicht war auch die Geschichte ihrer Krankheit übertrieben.
[ 8] "Entschuldigung. Entschuldigung!" sagte der Vater und reichte dem Ausländer einen Plastikbecher mit Espresso.
[ 8] "Trinkst Du Espresso?" fragte W. seine Schülerin zum Spaß. Sie nahm jedoch seinen Becher in der Tat und trank mit großer Selbstveständlichkeit einen Schluck Espresso.
[ 8] W. blickte schüchtern auf den Vater, aber dieser hatte bereits einen Photoapparat gezückt. "Say cheese." sagte er lächelnd.
[ 8] Der Ausländer fühlte sich plötzlich fehl an seinem Platz. "Kannst Du noch wandern?" fragte er seine Schülerin.
[ 8] "Ja." sagte Maria.
[ 8] "Ruf’ mich an, wenn Du aus dem Krankenhaus kommst. Wir werden mit den anderen Berge steigen gehen."
[ 8] "Berge steigen! Herr Lehrer, ich organisiere das!" rief Maria enthusiastisch.
[ 8] W. verabschiedete sich und wurde von seiner Schülerin und ihrem Vater bis zum Fahrstuhl begleitet.

‘Ich habe Glück, daß ich Marias Geheimweg kenne.’ dachte W. im Fahrstuhl. Als er jedoch im 6. Stock ausstieg, bemerkte er, daß es einen Aufruhr im Treppenhaus gab. Es stank nach Alkohol und man hörte unflätige Flüche im Lokaldialekt. Der Ausländer erkannte, wie ihm ein brüllendes Wesen mit affenartiger Behendigkeit entgegenhetzte. Mit Entsetzen erkannte er den entstellten Körper des Unfallopfers, der offensichtlich vom Operationstisch entflohen war. Eine Pinzette stak ihm noch in der Augenhöhle. Das ältere Paar mit den ausdruckslosen Gesichtern und den Handys war ihm dicht auf den Fersen. Zwei Stockwerke darunter folgten die Krankenschwester und hinterdrein der junge Arzt mit weichen Knieen. Sie flitzten mit winzigen Trippelschritten und kicherten rhythmisch in sich hinein.
[ 8] ‘Was für Arschlöcher!’ dachte der Ausländer. ‘Wahrscheinlich sind sie eingeschlafen bei der Operation.’ Aber er war nun ziemlich besorgt, denn das wahnsinnige Unfallsopfer hatte ihn erreicht. Es blieb jedoch stehen, als es den Ausländer mit seinem einen betrunkenen Auge erblickte. Der Ausdruck des Auges veränderte sich, und der Mund öffnete sich. Dieses Maul war eine abscheuliche Höhle, und das grelle Rot, hervorgerufen durch Betelnußsaft, übertraf das Dunkelrot der Augenhöhle, die im Vergleich zu dem größeren Loch nur wie eine unbedeutende Nebensonne wirkte. Die Englischkenntnisse dieser Höhle waren jedoch anscheinend recht gering. Es entkrächzte ihr nur ein gepreßtes "Hellooo" mit starkem Akzent auf der zweiten Silbe.
[ 8] "Hi." sagte der Ausländer. Aber nun waren auch die Verfolger des Körpers angekommen und blieben ebenfalls stehen, als sie den Ausländer erblickten. Mehrere Sekunden lang herrschte eisiges Schweigen. Dann jedoch überwand sich der junge Arzt und überreichte dem Ausländer seine Visitenkarte. "Just call me Michael." sagte er. Die anderen Personen überreichten ebenfalls ihre Visitenkarten, und der Körper und seine zwei Angehörigen wiederholten in einem fort "Hellooo!"
[ 8] Der Ausländer, der zunächst wie erstarrt dastand, entschied sich, zum Fahrstuhl zurückzukehren, fand seinen Weg jedoch von Marias Vater versperrt.
[ 8] "You forgot your Espresso!" sagte der Vater und drückte dem Ausländer einen Plastikbecher in die Hand. Dieser war unschlüssig und zögerte. Aber der Vater hatte bereits seinen Photoapparat gezückt. "Say cheese!" sagte er.
[ 8] Der Arzt und sein Patient gruppierten sich um den Ausländer, welcher die beiden um einen Kopf überragte. Das ältere Paar stellte sich daneben. Sie sprachen nicht mehr in ihre Handys, posierten aber doch und hielten sie demonstrativ ans Ohr. Die Krankenschwester stritt mit dem Vater um die Ehre, photographieren zu dürfen. Endlich gewann die Schwester. Der Vater stellte sich zwischen den Körper und den Ausländer. Er nahm die ausländische Hand mit dem Plastikbecher und hielt sie in die Höhe. Der Körper sagte "Hellooo!" und die Krankenschwester "Say cheese!" Aber der Blitz funktionierte erst beim zweitenmal.
[ 8] Der Vater wollte noch einen frischen Espresso für den Ausländer kaufen. Aber der Arzt, der die entsetzliche Verlegenheit des Ausländers bemerkte, nahm diesen an den Arm und sagte: "Let’s go fishing. I love fishing."
[ 8] Der Vater überreichte dem Ausländer seine Visitenkarte, der Körper, völlig besänftigt, ließ sich von der Schwester an der Hand führen, und Michael verließ mit dem Ausländer das Krankenhaus.


weiter: (Teil 3)
 
B

Barbarella

Gast
Kontraste

Tja, so würde ich das mal nennen, liegen Zerbrechlichkeit und viele blutige Szenen nebeneinander.

Frage: warst Du schon mal in diesem Land ?

Gruß
Barbarella :)
 
Hallo Barbarella,

Du hast ja schnell gelesen... Entschuldige uebrigens, dass ich aus Versehen Barbara schrieb, vorhin. In Taiwan lebe ich mehr oder weniger seit 1978. Es ist wirklich ein sehr verruecktes und kontrastreiches Land.

Viele Gruesse,
Rolf-Peter (Wei Le-Fu)
 
B

Barbarella

Gast
Hello again

Na, dann kennst Du Dich ja wirklich in dem Land bestens aus. Und nur nicht nervös werden, ich lese auf alle Fälle Teil 3 auch noch :).
Ach ja, "Barbara" ist auch okay, ist ja mein bürgerlicher Name :).
Gruß zurück
Barbarella
 



 
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