Die rote Blume

Die rote Blume


von Rolf-Peter Wille


[Teil 1]


(Diese Erzählung entstand im Sommer 1999 kurz vor dem verheerenden Erdbeben auf Taiwan.)


Inhalt: Urwald / Im Krankenhaus / Maria / Fishing /
[ 8]Eine Wanderung / Die rote Blume / Coda


Urwald


Der Urwald brannte auf Sumatra. Hundertjährige Urwaldriesen, feuchte Lianen, die Salamander: alles brannte. Übrig blieb Rauch als das trübe Produkt der Verwüstung und legte sich schwer auf die Nachbarinseln.
[ 8] Auf den Philippinen nannte man ihn ‘smaze’ — eine merkwürdige Verbindung von smoke und haze. Auf anderen Inseln nannte man ihn gar nicht. Smaze war nur eine unwichtige Komponente in dem alltäglichen Nebel der Autoabgase.
[ 8] An besseren Tagen war dieser Nebel nur noch als leichter Dunst wahrnehmbar, und ein ahnungsloser Poet, der am Morgen des 8. 9. in die Tiefe der T.-South Allee geblickt hätte, hätte diesen Dunst vielleicht sogar poetisch nennen können. Motorräder und Autos erschienen in der Ferne des Dunstes, den sie ja auch selbst verursacht hatten, zunächst wie winzige schwarze Punkte, die über der Fahrbahn zu schweben schienen. Erst in unmittelbarer Nähe erinnerten ihre ruckartigen Bewegungen an einen Schwarm aufgeschreckter Schmeißfliegen. Der Rhythmus dieser Fahrzeuge schien ein ständig an- und abschwellendes Chaos; aber in den eleganten Officegebäuden der T.-South Allee wirkte dieses Chaos nur noch als eine beständige Energiequelle. Eine ewige Nationalhymne, welche die Angestellten zu ihren emsigen und unsinnigen Beschäftigungen anspornte.


Im Krankenhaus


In diesem Moment trat der Ausländer W. im Anzug und aus einem dieser Officegebäude auf die Straße. Dabei erhob sich sein Arm, um ein Taxi heranzuwinken.
[ 8] Diese unbedeutende Bewegung schien den energischen Rhythmus der Schmeißfliegen ins Stocken zu bringen. Ein gelbes Taxi schwenkte, wie von einem Magnet angezogen, jäh nach rechts. Eine Meute von Motorrädern, die das Taxi verfolgt hatte, wich kontrapunktisch nach links aus. Die steif lauernden Gestalten auf den Motorrädern wirkten wie kauernde Gottesanbeterinnen.
[ 8] Eine Motorradfahrerin, wie der Ausländer W. erkannte, war nicht ausgewichen und, obschon in einiger Entfernung von dem jäh abbremsenden Taxi, ließ sich die etwas beleibte Fahrerin abgleiten. Ihr Fall hatte etwas entschieden Unauffälliges, etwas faul Routiniertes.
[ 8] ‘Sie hat sich fallen gelassen.’ dachte der Ausländer. Die Szene hatte etwas eigenartig Vertrautes: Die Gottesanbeterinnen waren lärmend vorübergeschossen. Das Taxi stand rechts, die Tür weit geöffnet, der Motor lief, der Fahrer starrte erwartungsvoll auf den Ausländer W. Links lag die Motorradfahrerin plump und unbeweglich, während die Räder ihres Motorrades wie zwei unsinnige Kreisel rotierten.
[ 8] W. zögerte. Er ging auf die Motorradfahrerin zu und bemerkte, daß sie eine Chirurgenmaske trug, wie es einige Motorradfahrer tun, um sich gegen die Autoabgase zu schützen. Hinter der weißen Maske konnte man die Lippen der Fahrerin erkennen, die sich öffneten und schlossen. Öffneten und schlossen, wie das Maul eines geschlachteten Fisches, der nach Luft schnappt. Ihre Augen waren auf W. gerichtet, aber ihr Blick schien die Umgebung zu ignorieren. Neben dem Motorrad hatte sich eine kleine Benzinlache gebildet, und W. zögerte. Er hätte das Motorrad aufrichten können, aber sein Weg war durch die Benzinlache versperrt. Außerdem hatte sich die Fahrerin, die völlig unverletzt schien, bereits erhoben.
[ 8] W., der sich in seinem Anzug fehl am Platz fühlte, stieg rasch in das noch immer wartende Taxi.

"Kulturzentrum." Sagte W.
[ 8] "Huhh?" sagte der Fahrer. Er konnte nicht den falschen Akzent des Ausländers verstehen. Oder die Musik war zu laut. Wahrscheinlich jedoch sagte er immer ‘huhh?’
[ 8] "Kulturzentrum." sagte W. Der Taxifahrer sagte nichts. Zum Glück war es keiner von den gesprächigen Taxifahrern. W. vermied es, ihn zu beobachten. Dies war übrigens nicht schwierig: Der Fahrer war einer jener widerlichen Zwerge, die völlig in ihrem ausgesessenen Sitz versinken; absorbiert werden, sozusagen. Man konnte sich vorstellen, in einem fahrerlosen Auto zu sitzen, wenn man das speckig schwarze Skalp des Fahrers ignoriert hätte. Offensichtlich war er hauptberuflich ein Uhrenverkäufer. An der Decke des Taxis und sogar an den Fensterscheiben klebten durchsichtige Plastikhüllen mit gefälschten Uhren.
[ 8] Das Gesicht des Zwerges, der den Ausländer verstohlen im Spiegel gemustert hatte, zuckte ruckartig wie ein Flaschenteufelchen hinter der Rückenlehne des Fahrersitzes hervor und verkrampfte sich zu einem Grinsen. Er drückte W. eine besonders kitschige Rolex Imitation in die Hand.
[ 8] W. ignorierte die Uhr in seiner Hand. Durch die Uhren, die am Fenster klebten, konnte er nun auf dem gegenüberliegenden Fußweg die Motorradfahrerin sehen, Sie hatte ihr Motorrad an einen Baum angelehnt geparkt und saß apathisch wie ein Mehlsack und mit hängenden Armen darauf.
[ 8] "Sie ist selbst schuld." sagte der Taxifahrer und nahm dem Ausländer die Uhr aus der Hand. W. hörte nun deutlich einen fremden Akzent. Es war die dunkle Art, in der das ‘selbst’ ausgesprochen wurde, die auf eine andere Provinz schließen ließ.
[ 8] ‘Es ist ein ausgedienter Soldat.’ dachte W. angewidert. Er würde einen Hund überfahren, ohne mit der Wimper zu zucken. Wahrscheinlich hatte er früher hunderte von Menschen abgeschlachtet. Sein Haß steigerte sich derart, daß W. dem Fahrer nach einigen Minuten befahl anzuhalten.
[ 8] "Schon da!"

Beim Aussteigen erkannte W. überrascht, daß er sich direkt vor dem Success-Krankenhaus befand. Er hatte dieses Krankenhaus früher wegen einer Harnleiterentzündung aufgesucht. Es war nicht ohne weiteres zu verstehen, ob W. hier aus Haß oder nur aus Gewohnheit ausgestiegen war.
[ 8] W. zwängte sich durch die Reihe der eng aneinander parkenden Motorräder auf den Fußgängerweg und stieß beinahe mit einem Polizisten zusammen, der mit seinem Motorrad auf dem Fußgängerweg patroullierte.
[ 8] "Dies ist ein Fußgängerweg." sagte der Ausländer zu dem jungen Polizisten in einer Anwandlung von Bösartigkeit. Aber W. bereute seine heroische Tat sofort. Die uniformierte Gottesanbeterin starrte ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. Eine häßliche Narbe durchzog das Gesicht, und die Zigarette, die im Maul des Polizisten stak, wirkte wie eine Verlängerung dieser Narbe.
[ 8] ‘Er wird mich abknallen.’ dachte W. Aber das Gesicht des Polizisten verkrampfte sich zu einem Grinsen.
[ 8] "You speaka Chinese. — Very good." Er betrachtete den Ausländer wie ein amüsierter Zoobesucher, der im Begriff steht, seinem Söhnchen eine besonders possierliche Affenart zu präsentieren.
[ 8] ‘Was für ein Arschloch.’ dachte W, in seinem Anzug und fühlte sich fehl am Platz. Offensichtlich versperrte er die Einfahrt zur Unfallsabteilung des Success-Krankenhauses. Ein Auto hupte ungeduldig in seinem Rücken, und W. betrat rasch die Unfallsabteilung.

Ein Aufruhr entstand hinter ihm. Das Auto war ein Unfallwagen, und man trug eine Bahre mit einem menschlichen Körper in die Unfallsabteilung. Es war eine Bauer, der in volltrunkenem Zustand von seinem Motorrad gestürzt war. Er hatte bei dem Sturz ein Auge eingebüßt.
[ 8] "Eyeball rapture."
[ 8] "Gosh!" sagte die Krankenschwester.
[ 8] ‘Warum sprechen sie plötzlich Englisch?’ dachte der Ausländer angewidert.
[ 8] Die Schwester trat an die Bahre und stellte dem reglosen Körper routinemäßig einige Fragen, die sie von einem Notitzbuch ablas: "Fühlen Sie sich unwohl? Tut es Ihnen irgendwo weh? Haben Sie heute etwas außergewöhnliches gegessen? Haben Sie besondere Allergien?"
[ 8] Eine Kopfhälfte des Ohnmächtigen war behelfsmäßig mit einem weißen Tuch bandagiert. An der Stelle des Auges war ein dunkler schmutzig-roter Fleck.
[ 8] Ein älteres Paar, vielleicht Angehörige des Unfallopfers, war erschienen. Beide schrieen mit ausdruckslosen Gesichtern in ihre Handys, die ihnen am Ohr klebten. Ohne auf den Körper des Unfallopfers zu blicken, folgten sie der Bahre, die bereits in einen angrenzenden Operationsraum geschoben wurde und nunmehr als Bett fungierte.
[ 8] Der Ausländer bemerkte, daß es eigentlich kein richtiges Zimmer, sondern nur ein durch Schiebewände behelfsmäßig abgegrenzter Operationsbereich war. Die Angehörigen des Körpers standen neben dem Bett und schrieen in ihre Handys. Ein junger Arzt war erschienen, die Bandage wurde von der Schwester entfernt, und der Arzt träufelte irgendeine Flüssigkeit in die Augenhöhle des Körpers. Dieser zuckte zusammen und stieß ein tierisches Gebrüll aus. Es waren unflätige Flüche im Lokaldialekt, wie der Ausländer bemerkte. Plötzlich stank es nach Alkohol.
[ 8] "Entspannen Sie sich." sagte der Arzt zu dem Körper, "take it easy", mit einem kurzen Lächeln auf den Ausländer.
[ 8] W. verließ angewidert den Operationsbereich.


weiter: (Teil 2)
 

anemone

Mitglied
Ich lese deine Storys sehr gerne, freue mich schon auf die Fortsetzung. Kleine Anmerkung: Heißt es nicht Trage?

liebe Grüße
anemone
 
Von der Wiege bis zur Bahre...

Vielen Dank, Anemone!

Die (etwas grauenvolle) Fortsetzung folgt morgen (hoffentlich). Du meinst die "Bahre" oder? Ja, stimmt, Bahre klingt schon etwas nach Leiche. Es war mir nicht ganz bewusst. Aber, wenn es diesen Anklang hat, waere mir das nicht unrecht ;-)

Viele Gruesse,
RP
 
B

Barbarella

Gast
Vielversprechend ...

Hallo Rolf-Peter,
Deine Geschichte fessselt mich, werde mich gleich daran machen, Teil 2 zu lesen :). Du sprichst in ausdrucksstarken Bildern und ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Gruß von
Barbarella :)
 
Hallo Barbara,

es freut mich sehr, dass Dich meine Geschichte fesselt. Jetzt werde ich natuerlich etwas nervoes, denn ich weiss nicht, ob die Geschichte ihr Versprechen halten wird...

Gruss,
RP
 



 
Oben Unten