Die rote Blume (6)

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Die rote Blume


von Rolf-Peter Wille


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[Teil 6]


Coda


W. war allein zurückgeblieben in einer unwirklichen Stille. Er befand sich in einem tranceähnlichen Zustand. Aus dem reglosen Körper in der Ecke ertönte die Melodie eines vertrauten Liedes.
[ 8] ‘Das Handy.’ dachte W. Plötzlich bemerkte er, daß Maria noch immer das winzige Handy bei sich hatte, welches sie nach dem Gespräch mit dem Arzt eingesteckt hatte.
[ 8] W. war verwirrt. Er nahm das Handy aus ihrer Tasche und antwortete. Er vernahm eine ihm vertraute Stimme. Es war die Stimme von Michael. "Do you like the house?" fragte Michael. "Would you like to buy it?"
[ 8] "Es hat einen Unfall gegeben." sagte W.
[ 8] "No problem. Just relax." Michael hatte das Gespräch beendet.
[ 8] W. zögerte. Sollte er das Krankenhaus anrufen?
[ 8] In diesem Moment vernahm er das Knirschen eines Schlüssels. Die Tür schien sich von selbst zu öffnen, und ein Gesicht, das von einer häßlichen roten Narbe durchschnitten war, zuckte ruckartig hinter der Tür hervor.
[ 8] Sam musterte die Szene im Wohnzimmer des Chateaus. "Maria. Drinking, no good." sagte er, als er den reglosen Körper in der Ecke sah.
[ 8] "Kennen Sie Maria?" fragte der Ausländer.
[ 8] "Miss Ma." sagte Sam. "She pregnant. You buy house?" Er blickte fragend auf den Ausländer.
[ 8] Dieser verstand nicht.
[ 8] "Let’s go." sagte Sam. Er packte den Körper unter den Achseln und schleifte ihn aus der Ecke. W. griff die Beine unter den Kniehöhlen, und zusammen trugen sie Maria nach draußen.
[ 8] W. war recht verwirrt, denn der Morgen dämmerte bereits. Offensichtlich war er sehr betrunken und hatte sein Zeitgefühl verloren.
[ 8] Sie betteten den Körper auf die Betonauffahrt. Unten stand ein schäbiges Auto bereit, der Motor lief, die Tür weit geöffnet. Sam ging zurück ins Haus und räumte auf.
[ 8] W. versuchte, Maria anzusprechen. Ihre Reglosigkeit erschien wie eine Trotzhaltung, und man konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie bei Bewußtsein war. ‘Vielleicht hat sie nicht alle Tabletten erbrochen.’ dachte W.
[ 8] Sam hatte die Fenster zugemacht. Man hörte das Summen der Klimaanlage. Er hatte sich wieder als Polizist verkleidet und hielt Angeln, Kescher und diverse andere Utensilien in der Hand.
[ 8] Er ging grinsend an Maria und W. vorüber und verstaute die Utensilien im Kofferraum des Wagens. Dann kam er zurück, und mit der Hilfe des Ausländers trug er den Körper Marias zum Auto und legte ihn auf die Rücksitze.
[ 8] Maria ließ alles mit sich geschehen.
[ 8] "Don’t worry." sagte Sam. "Dr. Michael very good." Er machte eine Faust mit seiner rechten Hand, streckte den Daumen empor und fuhr los.
[ 8] W. saß auf dem Beifahrersitz. Er drehte sich um und beobachtete die Gestalt Marias. Sie lag auf dem Rücksitz. Ihre Augen waren weit geöffnet und starrten unbeweglich nach oben. Auch Sam saß völlig unbeweglich am Steuer. Die lähmende Stimmung im Auto wurde noch erhöht durch die unwirklichen Fassaden der Betonhäuser, die im Morgengrauen an ihnen vorüberhuschten. Um diese Uhrzeit waren die Straßenschluchten fast leer, und das Fahren wirkte ungewohnt monoton. Es war eigenartig statisch, als wenn sich W. ein Bild im Photoalbum betrachtete: Das Bild zeigte ein schäbiges Auto, das sich mit rasender Geschwindigkeit einem parkenden Taxi näherte. Es fuhr in der falschen Spur ohne auszuweichen und wurde wie von einem Magneten in das schreiende Gelb des fremden Taxis gezogen.
[ 8] Der Ausländer blickte nach links und erkannte, daß Sam eingeschlafen war. Ruckartig lehnte er sich nach links, um das Steuer zu ergreifen. Im Rückspiegel blieben seine Augen an Marias schwarzen Pupillen haften. Sie hatte sich in jäher Panik aufgerichtet. Die Szene hatte etwas eigenartig Vertrautes. ‘Ich wußte es schon immer.’ dachte W. Die Augenhöhle des verunglückten Bauern starrte ihn an. Unzählige blutige Würmer entsprossen zitternd der Augenhöhle. Einer von ihnen hatte das widerwärtig eingeschrumpfte Gesicht eines Zwerges. Angestrengt und mit puterrotem Kopf schmetterte sein Gesichtchen den unendlich heulenden Hupton aus einer sich stets verlängernden Trompete.
[ 8] Alles brannte.



Nachwort


Wie versprochen ein paar Gedanken zur "roten Blume".

Zum Hintergrund:

Nach einem Klavierstudium in Hannover ging ich 1978 nach Taiwan. Ein übersensibler, philosophisch spekulierender Jüngling "landete" in einem sehr praktischen, realistischen Land. Einem Land von sprühender Energie und brutaler Skrupellosigkeit, in dem der Puls des Lebens und Sterbens merkbar lauter und schneller schlägt als im betulichen Deutschland. Taipei ist eine Stadt, in der Tote wieder wachgerüttelt werden, aber jede sensiblere menschliche Regung im Abfall erstickt.
[ 8] Der Kontrast zu Europa ist so unglaublich, daß eine Identifikation mit dieser Welt ausgeschlossen erscheint. Andererseits aber erscheinen westliche Werte in Taiwan wie Karikaturen im Zerrspiegel, so daß man sich bald selbst als ausländische Karikatur empfindet.
[ 8] Östliche und westliche Werte prallen hier unbarmherzig aufeinander, verformen sich bis zur Unkenntlichkeit und verschmelzen zu neuartigen bizarren Gebilden, wie zwei Autowracks nach einem Frontalzusammenstoß.
[ 8] Die Energie dieses Vorgangs gibt Kraft und Inspiration zum Schreiben. Die resultierende Absurdität schafft gleichzeitig die notwendige Distanz, aus der die Imagination ihre eigene Perspektive entwickelt. Das Produkt ist eine surrealistische Welt.
Zur Erzählung:

einige Leitmotive:

Der Brand ("Alles brannte auf Sumatra", die "rote Blume", die plötzlich aufflammende "Liebe" des Ausländers, der plötzliche Haß, der Autounfall);

sexuelle Archetypen (das Fischmaul hinter der Chirurgenmaske, die rote Narbe, der weiße Schlüpfer und die roten Flecke, die Augenhöhle, das Fischig-Schweinische", der Finger im "Gentler", die "Kröte" im Klo, usw.);

religiöse und kultische Archetypen (Maria, "fructoides" statt "fungoides", eine Anspielung auf Ave Maria: "…benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui…", buddhistisches Hakenkreuz, die segnende Gebärde aus der die "rote Blume" entsprießt);

der Urwald (in der Natur, sich selbst verdauend, in der Stadt, in den Personen);

fremde Apparate (Motorrad, Rollstuhl, Gentler, Handy, Auto);

häufig wiederkehrende Wort-Formeln ("in seinem Anzug", "fehl am Platz", "durchzuckte", "tranceähnlicher Zustand", usw.)
Die Ambiguität der Personen:

Der Ausländer W. (ein Opfer der Umwelt? ein Opfer des Autors? ein wankelmütiger, schwacher Charakter: Wenn er seine Liebe zeigen könnte, macht er lieber ein scheußliches psychologisches Experiment?);

Maria (eine Heilige? sie wird W. retten? zerbrechlich? aggressiv? schizoid? schwanger und sucht einen Mann?);

Marias Vater (höflich? ein Angeber? beutet seine Tochter aus?);

Michael (ein netter Arzt? sucht einen Dummen, der sein Haus kauft? mit Maria liiert?);

Sam (ein Polizist? ein Gangster? ein Butler?); die Motorradfahrerin (ein Verkehrsopfer? läßt sich fallen?);

der Taxifahrer (ein Taxifahrer? ein Uhrenverkäufer? ein alter Kuomintang Soldat?);

der Autor (berichtet autobiographische Erlebnisse? konstruiert Absurditäten? jemand, der seine Helden recht willkürlich umbringt und versucht, seine Leser in einer "Ölsardinendose" zu ersticken?).
Ich habe natürlich keine (bzw. zu viele) Antworten auf diese Fragen. Kurz nachdem ich die Erzählung beendet hatte, traf uns das verheerende Erdbeben hier. Plötzlich sprachen alle miteinander. Für einen Moment gab es nur noch Opfer und keine Ausländer.

Rolf-Peter Wille


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herb

Mitglied
mein Eindruck

Hallo Rolf-Peter,
wieder ohne Denkpause, smile
gut, dass ich weiter gelesen habe. Diese Hektik und Menge von Details der ersten drei Teile, die mich zum Ersticken brachten, sind in den Teilen 4 bis 6 in einem ruhigen Erzählfluß übergegangen und vieles wird deutlicher, die Personen und ihre verstrickten Beziehungen schälen sich heraus. Du bist ja in dem Sinne gar kein Ausländer mehr nach so langer Zeit wäre warhrscheinlich Deutschland für dich Ausland. Dein Held, den du auch Ausländer nennst, muss es ähnlich wie dir gehen, was die Zeit seines Aufenthaltes betrifft. Ein Tourist würde so nie schreiben können, du benennst das Abscheuliche abscheulisch, das Eklige eklig,
entdeckst unsymphatische Menschen und dann wieder die Gegensätze wie Schönheit der Berge, die Atmosphäre dort ist nachfühlbar. Und liebenswerte Menschen.
Ein sensibler Tourist vielleicht noch, hätte andauernd Probleme, es ist ja rassistisch von mir, wenn ich so denke, aber er sieht und traut sich nicht zu sehen.
Du steckst mittendrin und sagst ganz einfach die Wahrheit, so ist es, das Gefühl habe ich
 
Hallo herb,

vielen Dank fuer's Durchlesen und fuer die Kommentare. Die "Wahrheit", die ich beschreiben, oder besser neu erfinden moechte, ist sehr viel komplexer geworden. Kurz nach meiner Ankunft hier (vor einer Generation) hatte ich sehr klare Theorien ueber das Land und die Gesellschaft, die Unterschiede zu Europa. Ich war vielleicht, wie Du sagst, noch ein halber Tourist. Je laenger ich blieb, desto unklarer wurden meine Theorien. Und je unklarer meine Theorien wurden, desto mehr konnte ich sehen.

Viele Gruesse,
Rolf-Peter
 
B

Barbarella

Gast
Nun auch gelesen ...

Hi RP,
ich kämpfe mich durch den Wust der Neuveröffentlichungen (incl. meiner ;) ) und habe nun auch das Ende Deiner Geschichte gefunden ... leider konnte ich nicht ganz folgen; liegt wohl an der mir fremden Kultur und ihren manchmal abstossenden Bildern von Würmern und ähnliches.
Aber trotzdem, weiter so ... wie es scheint, bist Du nun etwas in die Musikecke gegangen.
Gruß von
Barbarella
 



 
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