Die Sache mit der Ent- und Wiedermaterialisierung

Rainer Lieser

Mitglied
Die Sache mit der Ent- und Wiedermaterialisierung

Es war mitten in der Nacht und Julius trank in der Küche ein Glas Milch. Sein Blick wanderte über die vielen Kühlschränke, Geschirrspülmaschinen, Saftpressen und all die anderen Dinge, die hier herum standen. Er erinnerte sich an die Jahre, als er und seine Frau Agnes sich noch nicht im Ruhestand befanden. Ihr großes Ziel war es damals gewesen, den immensen Geräte- und Maschinenpark, den es beinahe in jedem normalen Haushalt gab, auf ein Minimum zu reduzieren. Um das zu erreichen, erfanden sie neue Produkte, welche die Funktionalitäten vieler Anderer in sich vereinten.
Er musste lachen.
Was für eine Ironie: nun lebten sie selbst im größten Geräte- und Maschinenpark von allen.

Julius war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkte, wie er plötzlich anfing mit sich selbst zu reden. »Es gibt keinen Einkaufsbummel, bei dem Agnes nicht an beinahe allen Schaufenstern, Regalen oder Tischen minutenlang stehen bleibt. Jedes einzelne Ding muss sie sich ganz genau ansehen. Haben wir es noch nicht zuhause, und erscheint es ihr nur halbwegs nutzvoll, muss ich es kaufen.« Ihm fiel der solarbetriebene Teigrührer aus rostfreiem Edelstahl ins Auge. »Das ist einer von 26 Teigrührern.«

Während er den Rührer betrachtete, stellte sich Agnes vor einem der großen Schränke auf die Zehenspitzen und öffnete die oberste Tür. Dort ergriff sie eines der unzähligen Einmachgläser, nahm es heraus und stellte es demonstrativ vor Julius auf den Küchentisch. »Hast Du nicht gerade erst letzte Woche die frische Aprikosenkonfitüre über alles gelobt? Ohne die neuen Einmachgläser, wäre die nie und nimmer so lecker geworden.«
»Gut, gegen die neuen Einmachgläser will ich nichts gesagt haben. Aber was hat die Aprikosenkonfitüre mit den 26 Teigrührern zu tun?« Gab Julius leicht trotzig zurück.
Agnes stemmte ihre Hände in die Seite. »Die Konfitüre ist nur deshalb so gut geworden, weil ich unentwegt und an allen Stellen nach Verbesserungsmöglichkeiten gesucht habe.«
Sie holte tief Luft. »Wären die 25 vorangegangen Teigrührer nicht so fehlerbehaftet gewesen, hätten wir natürlich auf den solarbetriebenen Teigrührer aus rostfreiem Edelstahl verzichten können. Die 25 vorangegangenen Teigrührer waren aber sehr wohl fehlerbehaftet, deshalb haben wir den 26. Teigrührer, den derzeit perfektesten, unbedingt benötigt. Defekte Stecker, poröse Kunststoffgehäuse, überhöhter Energieverbrauch und unzuverlässige Wackeltasten gehören jetzt der Vergangenheit an. Das nenne ich: moderne und sinnvolle Technik zum eigenen Wohl und Vorteil nutzen. Sei es, um die Konfitüre leckerer zu machen - oder sich unnötigen Ärger mit fehlkonstruierten Teigrührern zu ersparen. Dagegen gibt es ja wohl kaum etwas zu sagen – oder?«

»Sehen Sie, so läuft das immer. Ich bemängele etwas. Anschließend verweist meine holde Göttergattin auf einen klitzekleinen positiven Aspekt, innerhalb des von mir kritisierten desaströsen Gesamtsachverhalts. Und PENG! Durch eben jenen klitzekleinen positiven Aspekt, wird meine Kritik als vollkommen ungerechtfertigt und absolut haltlos abgetan. Agnes ist seit jeher diejenige gewesen, für die es keine Schwierigkeiten oder Unwägbarkeiten gab, wohin gegen ich schon immer ein Zauderer und Bedenkenträger war.« Julius wandte sich hilflos gestikulierend von seiner Frau, dem Tisch und dem Einmachglas ab.
Agnes drehte mit ihrer rechten Hand seinen Kopf sanft zu sich, sah ihm milde lächelnd in die Augen und sagte mit dem charmantesten Lächeln das man sich nur vorstellen konnte. »Dann hör einfach auf meine Verhaltensweisen zu kritisieren, liebster Ehemann.«
Diesem Satz hatte Julius noch nie etwas entgegen setzen können, im Berufsleben und auch danach nicht. Er gab ihr liebevoll einen Kuss auf die Wange. Alles war gut.

Betrachtete man die weiteren Räume des Häuschens, Schlaf-, Wohn- und Badezimmer, Keller und Dachstuhl, zeigte sich dort das gleiche Bild, wie schon in der Küche: nirgendwo gab es einen freien Platz.
Aber weil Agnes und Julius ihr gesamtes gemeinsames Leben darin verbracht hatten, war ein Umzug in ein größeres Haus für beide undenkbar, so sehr die Kinder, Minnie und Max, auch darauf drängten. Aus rein finanzieller Sicht, sprach nicht das geringste gegen einen Umzug, denn Agnes und Julius hatten sich aus der gemeinsamen Arbeit ein ordentliches Vermögen erwirtschaftet.
Die Alternative, sich von dem einen oder anderen Stück zu trennen, kam für die Zwei ebenso wenig in Betracht. »Niemals!« Zu viele hoffnungsfrohe Erwartungen, die inzwischen zu lieb gewordenen Erinnerungen geworden waren, verbanden sie mit jedem einzelnen Stück.

Wann immer die Themen Umzug oder Entrümpelung von den Kindern auf den Tisch gebracht wurden, was beileibe nicht selten der Fall war, hielt ihnen Julius stets die gleiche Antwort entgegen. »Es gab hier einmal ein paar Zimmer, die ich schon sehr lange nicht mehr gesehen habe. Nach den Gesetzen der Physik, können die kaum ins Nichts verschwunden sein. Die Türen zu jenen Zimmern werden bestimmt nur von irgendwelchen Möbeln oder Gerätschaften verdeckt, die man davor aus Unachtsamkeit abgestellt hat. Schon Morgen werde ich mich auf die Suche nach diesen Zimmern machen. Vermutlich ist dort die Platznot noch nicht ganz so ausgeprägt, wie überall sonst. Sobald ich die Zimmer gefunden habe, wird damit das Raumproblem behoben sein. Womit ich diese Diskussion als beendet betrachte.« Selbstverständlich machte sich Julius am nächsten Tag NICHT auf die Suche.
Doch die unliebsamen Themen würden früher oder später von den Kindern erneut angesprochen werden. Nichts war sicherer als das.

Es geschah beim ersten Geburtstag von Minnies Tochter, Henrietta, der mangels Platz im Haus der Großeltern, in einem Campingzelt im Garten von Herrn Hibbeling, einem Nachbarn, gefeiert werden musste. Als Minnie gerade die Geburtstagskerze auf der Torte von Henrietta auszublasen versuchte, kam ihr ein Windzug zuvor. Da platzte Minnie der Kragen. Sie liess ihrer Wut freien lauf. »Ich fasse es nicht! Wir sitzen bei strömendem Regen in einem zugigen Zelt. Aller Wahrscheinlichkeit nach, halsen wir dadurch meiner Tochter gerade ihre erste Lungenentzündung auf. Ich kann von Glück reden, wenn sie ihren zweiten Geburtstag überhaupt noch erlebt. Und das nur, weil es nicht einmal für einen Tag möglich ist, eines der Zimmer im Haus meiner Eltern zu entrümpeln und den ganzen Plunder auch nur vorübergehend, statt uns, hier unter zu stellen.«
In Augenblicken wie diesen wünschte Julius, er und Agnes hätten ihrer Tochter deutlich mehr Gelassenheit im Gencode vererbt. Er wollte eben schon wieder an die verloren gegangenen Zimmer erinnern, als ihn der wütende Blick seiner Göttergattin traf. Er kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut und wusste, dass es in Momenten dieses Gesichtsausdrucks besser war zu schweigen.

Nach der Geburtstagsfeier erzählte Julius seiner Frau unter vier Augen, dass er bei dem Wutanfall von Minnie einen Entschluss gefasst hatte. Einen Entschluss, der zu einer grundlegenden Veränderung ihrer beider Leben führen werde. »Ich will ein neues Forschungsprojekt beginnen. Ich möchte einen Weg finden, Objekten die Körpermasse zu entziehen, ohne dadurch ihr räumliches Erscheinungsbild zu verändern.«
Agnes sah ihn an. »Es geht also um die Ent- und Wiedermaterialisierung von Objekten. Das ewige Thema, an dem wir uns früher schon die Zähne ausgebissen haben. Und das kam Dir wieder in den Sinn, als das Gesicht unserer Tochter die Farbe von Vulkanlava hatte?«
»Offen gestanden halte ich es nicht für einen Zufall, dass unser Haus so vollgestopft ist, wie es ist. Insgeheim haben wir beide doch ganz zielbewusst auf den heutigen Tag hingearbeitet.« Er nahm ihre Hand und ging ganz sachte vor ihr in die Knie. »Bist Du dabei, altes Mädchen?«
Natürlich kannte Julius die Antwort bereits, bevor er die Frage gestellt hatte.

Als Versuchsobjekte wählten sie die Briefbeschwerer aus. Die hatten sie gemeinsam angehäuft – und auf die konnte ohne größere Not verzichtet werden, seit Agnes und Julius all ihre Kommunikation über Computer abwickelten, was seit etwa 15 Jahren der Fall war.
Natürlich endete das erste Experiment anders als erhofft. Statt die Körpermasse der ausgewählten Objekte in Null zu verwandeln, erhöhte sich die Anzahl der Briefbeschwerer um das achtfache. In Folge wurde das Zelt, in welchem Henriettas erster Geburtstag gefeiert worden war, jetzt in den Hauptwohnsitz von Agnes und Julius umgewandelt. Für Herrn Hibbeling war das als kurzfristige Lösung völlig in Ordnung.
»Also mir ist das ja schon ein wenig unangenehm, Agnes.« Beichtete Julius nach dem Gespräch mit dem Nachbarn.
»Mir auch. Doch was sollen wir tun? Lass uns das kleine Missgeschick einfach als Ansporn dafür nehmen, in Zukunft umso konzentrierter an unserem Projekt zu arbeiten.«

Drei Tage später musste Julius Herrn Hibbeling darum bitten, ein zweites Zelt in seinem Garten errichten zu dürfen, weil das Erste mit Briefbeschwerern inzwischen überfüllt war.
Nach zwölf Tagen gab es im Garten von Herrn Hibbeling keinen Platz mehr für ein weiteres Zelt.
Julius sprach daraufhin bei Frau Ebbeling, der Nachbarin zur anderen Seite, vor.

Tochter Minnie und Sohn Max schämten sich in Grund und Boden, als sie die erste Geburtstagsfeier von Theodor, dem Sohn von Max, in einem Zelt im Garten von Frau Ebbeling verbringen mussten.

Den ersten Geburtstag von Minnies zweiter Tochter, Wilhelmine, feierten sie einige Zeit später in der Wohnung von Minnie und ihrem Mann Moritz. Mittlerweile gab es dafür selbst im Garten von Frau Ebbeling einfach keinen Platz mehr.
Im Taxi auf der Fahrt nach Hause, sah Julius Agnes ratsuchend an. »Es war diesmal eine ungewohnt streitarme Feier, findest Du nicht? Ich hatte den Eindruck, die Kinder haben ziemlich abgeschlossen mit uns. Vielleicht sollten wir die Forschungsarbeit endgültig aufgeben, bevor sie uns für verrückt erklären lassen. Vielleicht sollten wir doch besser mit der Suche nach den verlorenen Zimmern beginnen. Vielleicht hat das mehr Aussicht auf Erfolg. Was meinst Du?«
Agnes antwortete nicht. Sie blickte stumm zur Seite aus dem Fenster hinaus und betrachtete die Lichter der in der Dunkelheit vorbeiziehenden Gebäude.
Als sie bei ihrem Zelt angekommen waren, lief Agnes weiter auf das Haus zu. Julius folgte ihr. Sie arbeiteten die Nacht durch.

Monate vergingen.
Wieder einmal saßen Agnes und Julius bis an den Rand der Bewegungslosigkeit eingeklemmt im Kellerlabor. Der Entmaterialisierungsstrahl erfasste die Briefbeschwerer in den Schalen. Wie schon so oft, vernahmen die beiden ein leises »FUMP«. Im Anschluss erklang jedoch noch ein Geräusch, welches ihnen im ersten Moment fremd erschien. Sie sahen sich verdutzt an. Das Geräusch erklang erneut.
Plötzlich begann Agnes laut zu lachen und verwies auf den Bildschirm der Video Türsprechanlage. »Wie soll man etwas auch erkennen, dass so gut wie nie genutzt wird. Kannst Du Dich daran erinnern, wann zuletzt jemand an unserer Tür geklingelt hat?«
Julius zuckte mit den Achseln.

Draussen standen Frau Ebbeling und Herr Hibbeling. »Es gibt da eine Sache, die wir dringend mit Ihnen besprechen müssen. Nach Möglichkeit persönlich. Lässt sich das wohl einrichten?«
»Ich komme. Bis ich an der Haustür bin, kann es allerdings einige Minuten dauern. Bitte warten Sie.« Sagte Julius und machte sich auf den Weg.
Vorsichtig balancierte er über den Arbeitstisch auf die Röntgenapparaturen zu. Dort angekommen, ging er auf alle Viere und krabbelte unter den Kühlbehältern durch, vorbei an der Bunsenbrennersammlung, bis Julius schließlich an den Aktenschränken ankam, wo er sich wieder aufrichten konnte. Einen kurzen Moment verlor er das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und streifte dabei eine der Schalen, in denen die Briefbeschwerer aufgestellt waren. Die Schale drehte sich. Sonst geschah nichts.
Erleichtert erreichte Julius schließlich die Kellertür. Auf der restlichen Strecke gab es keine weiteren Zwischenfälle.

Nach exakt zwanzig Minuten kam er leicht erschöpft an der Haustür an. Frau Ebbeling und Herr Hibbeling begrüßten ihn herzlich, dann führte Frau Ebbeling ohne Umschweife den Grund für Ihren Besuch auf. »Wir wollen heiraten und zusammen ziehen.«
Es war zwar abzusehen gewesen, dass die Zelte nicht bis an das Ende aller Tage in den Gärten von Frau Ebbeling und Herrn Hibbeling hatten stehen bleiben können, aber die Art, wie das nun zu Ende ging, überraschte Julius schon. Die Nachbarn würden zukünftig gemeinsam im Haus von Frau Ebbeling leben, wie er weiter erfuhr. Das Haus von Herrn Hibbeling sollte in drei Monaten verkauft werden.
Drei Monate hatten Agnes und Julius also Zeit, die Zelte aus dem Garten von Herrn Hibbeling zu entfernen. Drei Monate, bis sie ihr Forschungsziel erreicht haben mussten.
Es wurden noch ein paar Höflichkeiten ausgetauscht, danach verabschiedeten sich Frau Ebbeling und Herr Hibbeling – Julius machte sich auf den Rückweg ins Labor.

Agnes saß völlig apathisch vor den Computerbildschirmen. Natürlich hatte sie das Gespräch mit den Nachbarn verfolgt, das hatte Julius erwartet. Die heftige Reaktion darauf allerdings nicht. Er nahm ihre Hände in die seinen. Ihre Lippen zitterten. »Jetzt komm schon, Agnes.« Sprach Julius sie an. »Das musste doch irgendwann geschehen. Das war uns doch beiden klar.«
Langsam stiegen ihr die Tränen in die Augen. Sie versuchte zu sprechen. Schließlich gelang es ihr zwei Worte und ein Lächeln zu formen. »Da sieh!«
Ihr Kopf deutete auf einen der Computerbildschirme. Julius folgte ihrem Blick und erkannte eine verrutschte Schale. »Ja, an der habe ich mich vorhin gestossen. Na und – was ist daran …?"«
Ihm blieben die Worte im Hals stecken. Und plötzlich verstand er mehr, als ihm lieb war.
Die Schale war zwar verrutscht, die Briefbeschwerer darin jedoch nicht. Zum Teil schwebten die Briefbeschwerer regelrecht in der Luft. Sie hatten keine Körpermasse mehr.
Als er wieder auf den Platz von Agnes sah, war sie weg. Für immer.

Binnen kürzester Zeit wurden alle Objekte, Geräte und Maschinen, die im Haus nicht mehr unmittelbar benutzt wurden, in einer Art überdimensionalem Bildarchiv eingeordnet. Durch einen Klick auf die entsprechende Stelle in dem Bildarchiv, erhielt jedes Ding bei Bedarf seine ursprüngliche Körpermasse und vollständige Nutzbarkeit zurück.

Die Zelte in den Gärten der Nachbarn verschwanden.

Den zweiten Geburtstag von Minnies Tochter Henrietta feierten alle zusammen im Haus, in dem es bald so viel Platz gab, dass Julius vorschlug, Minnie und Max könnten mit ihren Familien einziehen.
Als die Umzugswagen vorfuhren, wartete Julius bereits an der Haustür. Bevor die Möbelpacker mit ihrer Arbeit beginnen sollten, wollte er Minnie und Max unbedingt noch etwas zeigen. Er nahm die beiden an der Hand und führte sie zu zwei Zimmern. »Das sind die verloren geglaubten Zimmer. Hier hat Agnes viel Zeit verbracht. Hier ist sie verstorben. Vor all den Jahren. Das habe ich mir nun endlich eingestehen können. In dem einen steht jetzt das Bildarchiv mit den entmaterialisierten Dingen, das andere könnte ich mir gut als Kinderzimmer vorstellen. Was meint ihr?«
 



 
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