Die Sandgrube im Grunewald

Die Septembersonne wärmt und ich sitze am Rand der früheren Sandgrube, hinter mir der Waldweg vom S-Bahnhof Grunewald nach Schildhorn, vor mir der sandige Steilhang. Es geht so tief hinunter, wie ein sechsstöckiges Haus hoch ist. Die Grube hat die Ausdehnung eines ganzen Stadtviertels, in ihr eine Sanddüne, hoch wie eine Kirche, und weiterhin flache Gewässer, zu Tage getretenes Grundwasser.

Während ich auf einem abgehobelten Baumstamm sitze, blicke ich auf die Rückenpartien zweier junger Damen vor mir. Sie lagern im Sand, schon jenseits der Abbruchkante. Eine trägt Straßenkleidung, die andere einen Bikini, dessen Oberteilträger einen eintätowierten Text umrahmen, ziemlich viel Text für nur einen Rücken, mag er auch etwas mollig sein – ihr Körper also gewissermaßen ein Textkörper. Was kann da geschrieben stehen? Ich würde gern aufstehen, von hinten an sie herantreten und zu entziffern beginnen. Geht nicht … Der Text selbst ist noch einmal von einem Ornament umspielt. Vielleicht ein Gedicht? Aber nein, es ist Blocksatz, muss also Prosa sein. Dann sehe ich, dass die wortreiche Tätowierung auch einen Titel hat – vielleicht eine Anrede – und eine schwungvolle Unterschrift. Ist es ein Brief, ein Liebesbrief, ein Dankschreiben, eine Klageschrift?

Ich beginne, mir einen passenden Text auszudenken, werde jedoch bald unterbrochen. Die andere junge Frau hat ihren Terrier von der Leine gelassen, er schnuppert im Sand herum. Und jetzt stürzt ein Dackelmischling vom Weg zu ihm hin, während sein Halter den Weg nach Schildhorn unbeirrt ohne ihn fortsetzt. Die zwei Hunde tun, was Hunde in dieser Lage zu tun pflegen: sich beschnuppern, miteinander balgen, sich jagen, nacheinander beißen. Dabei toben sie über den sandigen steilen Abhang und entfesseln Miniatursandstürme. Dann allerdings verfolgen sie sich im Wald, verschwinden schon wie Kugelblitze zwischen den Bäumen, Richtung Havel. Terriers Frauchen jagt alsbald hinterher und findet die beiden zweihundert Meter weiter, wo sie sich um Dackels Herrchen, zu einer Art Salzsäule erstarrt, hetzen, immer im engsten Kreis. Sie nimmt ihren vierpfotigen Liebling hoch und trägt ihn zur Sandgrube zurück.

Bald darauf stapfen zwei noch sehr kleine Mädchen, erste oder zweite Grundschulklasse, den Sandhang hoch. Sie sind kaum bekleidet, von Aufsichtspersonen weit und breit nichts zu sehen. Eltern, es soll Sittlichkeitsverbrecher geben, macht es ihnen nicht zu leicht! Aber kein Sittenstrolch schleicht sich heran, nur der Terrier rast auf sie zu, als sie fast oben sind. Da geraten sie gleich in Panik, drehen um und viel fehlt nicht, dass sie den Steilhang hinunterkugeln und sich ein Leids tun. Der macht nichts, schreit die junge Frau, der will nur … Den Rest schenkt sie sich und rennt zum Ort der zu befürchtenden kleinen Tragödie. Der Terrier wird erneut eingefangen, wieder hochgenommen und jetzt doch angeleint.

Unten, wo neben der Riesendüne ein seichtes Gewässer in der Sonne blinkt, zeichnen sich winzige Figuren ab, Spaziergänger, die auf einem der seitlichen, bequemeren Abstiege hinuntergelangt sind. Da ist einer, der möglicherweise nackt ist und jetzt in der Pfütze herumzugehen beginnt. Ein Anhänger von Freikörperkultur? Dann würde er sich hier sozusagen in der Adresse geirrt und besser am nahen Teufelssee ausgezogen haben. Der vermeintliche Nudist ist aber keiner, wie sich erweist, als er nach seinem Bad den langen, steilen Anstieg durch den Sand nach oben unternimmt. Er ist in mittleren Jahren, trägt eine fleischfarbene, fast bis zu den Knien reichende Badehose und einen dichten Pelz aus grauen Haaren auf der breiten Brust. Oben angelangt, sprechen ihn bewundernd zwei ältere Damen an, eben des Wegs von der Stadt her gekommen: Sie sind wirklich da ganz heraufgegangen? Haben sich also heraufgekämpft? – O ja, und darauf stolz bin ich auch ein bisschen, muss mich selbst loben … Er sagt noch: Das ist da unten das reinste Moorbad, und dafür geben die Leute sonst viel Geld aus … Sein Deutsch klingt ein wenig russisch, die Damen hören ihm gern zu, und so lässt sich das Trio auf einem weiteren Baumstamm nieder und beginnt ein langes Gespräch, über dem die Wipfel der Grunewaldkiefern leise rauschen.

Dieser Weg vom S-Bahnhof quer durch den Wald ist von jeher ein Lieblingsspaziergang der Berliner. Dementsprechend bevölkert ist er schon immer gewesen. Heutzutage wird nicht mehr nur entspannt geschlendert, sondern auch mit zwei Stöcken und wichtiger Miene pflichtbewusst gestapft oder auf zwei Rädern und voll besten Gewissens rasch dahingebraust. Nicht mit dem Radl, sondern mit leichtem Kinderwagen moderner Bauart kommt eine Frau um die fünfzig. Ist sie die jugendliche Oma oder die ältere Tante des Kleinen, der noch nicht sprechen zu können scheint? Jedenfalls sagt er nie etwas, sie dafür umso mehr: Ach, schau dir das an, wie tief das da runtergeht … Da muss ich doch mal hin, bleib du erst mal hier … Au, so eine Scheiße … Begierig, auf den Grund zu schauen, ist sie wie blind mit dem Kopf gegen einen dicken niederhängenden Ast geprallt und reibt sich jetzt besorgt die schmerzende Stirn. Dann sieht sie zu mir herüber, gibt mir lächelnd zu verstehen: Ist gar nicht so schlimm. Und sie redet wieder zu dem Kleinen im Kinderwagen: Da geht`s runter, das ist steil, aber da müssen wir jetzt durch, wir beide schaffen das schon … Sie will wirklich mit dem Kinderwagen den steilen Sandhang hinunter? Dann sollte ich mich lieber verziehen, bevor die unvermeidliche Katastrophe eintritt. Doch sie überlegt es sich plötzlich anders, geht zu den beiden jungen Frauen, spricht sie an. Sie sollen ihren Kopf untersuchen, die eben verletzte Stelle. Es geschieht und dann opfert die eine ihr Mineralwasser und kühlt der Blessierten die anschwellende Stelle und wäscht sie aus. Jetzt kann ich ruhig fortgehen, alles wird noch gut.
 

Ofterdingen

Mitglied
In diesem Text passiert nicht viel, eigentlich nur sehr Alltägliches und Banales, doch enthält er feine Beobachtungen, es entsteht Atmosphäre.

An einer Stelle zerbricht die Erzählperspektive. Der Erzähler sieht plötzlich Dinge, die er von dem Baumstamm, auf dem er sitzt, nicht sehen kann:

"Dann allerdings verfolgen sie sich im Wald, [blue]verschwinden[/blue] schon wie Kugelblitze [blue]zwischen den Bäumen[/blue], Richtung Havel. Terriers Frauchen jagt alsbald hinterher und [blue]findet die beiden zweihundert Meter weiter[/blue], wo sie sich um Dackels Herrchen, zu einer Art Salzsäule erstarrt, hetzen, immer im engsten Kreis."
 
Danke, Ofterdingen, für die freundliche Reaktion. Welche Stelle du moniert hast, das ist ein Beleg für genaues Lesen, das freut mich immmer. In der Tat scheint da etwas nicht zu stimmen. Es verhielt sich so: Für die etwas tiefer lagernde Hundehalterin verschwanden die Tiere tatsächlich. Der höher sitzende Erzähler hatte sie noch im Blick. Die Kiefern stehen dort sehr weit auseinander. Und vielleicht waren es auch keine zweihundert, sondern nur gut hundert Meter.

Arno Abendschön
 



 
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