Die Schachspieler

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Matula

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Wenn es das Wetter zuließ, saßen Herr Kattinger und Herr Weinberger am Samstag Nachmittag im Klosterpark und spielten Schach. Vor vielen Jahren hatten sie damit begonnen und nun, da sie beide in Pension waren und an jedem beliebigen Tag hätten spielen können, wollten sie nichts verändern, sondern Zeit, Ort und selbst die unbequemen Holzbänke beibehalten.

Früher waren oft Spaziergänger, ältere oder jüngere Männer, hin und wieder auch Frauen, stehengeblieben und hatten das Spiel eine Weile beobachtet. Manche tuschelten miteinander, manche wollten sich einmischen und Ratschläge geben. Manchmal packte einer eine Wurstsemmel aus und setzte sich zu ihnen unter die alte Linde.

In letzter Zeit aber mussten Herr Kattinger und Herr Weinberger hin und wieder das Feld räumen, weil Jugendliche den Tisch und die Bänke für sich beanspruchten. Es waren blasse, bärtige Kapuzenmännchen, die bei Widerstand die letzten Reste ihrer spärlichen Erziehung vergaßen. Sie trugen kistenweise Bier mit sich und fielen einander ständig ins Wort. Dabei benutzten sie eine Sprache, die hauptsächlich aus Zurufen und Gesten bestand. Oft war nicht klar, ob sie lieber miteinander oder mit den beiden alten Männern streiten wollten.

Bei einer solchen Gelegenheit versuchte Herr Kattinger, einen der Burschen für das Schachspiel zu interessieren. "Setz dich," sagte er "ich zeige dir, wie es geht. Die anderen können gern zuschauen." Der junge Mann, durch diese Einladung plötzlich aus seiner Gruppe gelöst, errötete und antwortete, dass er und seine Freunde Besseres zu tun hätten. "Hey, wir sind nicht zum Spielen da!" grölte er. Sie waren zu viert, manchmal zu fünft. "Lass und gehen," murmelte Herr Weinberger. "Du weißt ja, heute haben sie immer ein Messer dabei."

Wenn sie wie die geprügelten Hunde einpacken und sich vom Acker machen mussten, war die Stimmung für diesen Tag verdorben. Das abgebrochene Spiel anderswo fortzusetzen, kam nicht in Betracht. Meistens verabschiedeten sie sich fast wortlos. "Also bis nächste Woche." - "Ja, bis dann." Einmal meinte Herr Weinberger, dass man vielleicht dauerhaft ins Kaffeehaus übersiedeln sollte, dorthin, wo sie im Winter und bei Schlechtwetter zu spielen pflegten. Aber davon wollte Herr Kattinger nichts wissen. "Kommt nicht in Frage! Wir werden uns doch nicht vertreiben lassen!"
"Sie werden wieder kommen," gab Herr Weinberger zu bedenken. "Sie haben kein anderes Vergnügen, als uns zu stören. Sie sind von Grund auf böse. Ist dir aufgefallen, dass sie Löcher in den Tisch gebrannt haben? Sie dämpfen dort ihre Zigaretten aus."
"Ja, Vandalen sind sie, aber von Grund auf böse? Ich weiß nicht. Gibt's das überhaupt noch?"
"Was heißt 'noch'?" erwiderte Herr Weinberger erbost. "Entweder gab es das Böse immer oder nie. Wer andere mutwillig um ihr Vergnügen bringt, ohne selbst einen erkennbaren Vorteil daraus zu ziehen, den bezeichne ich als böse. Irgendwelche Einwände?"
"Du musst aber zugeben, dass es ein besonders schöner Platz ist," antwortete Herr Kattinger. "Man kann über den Abhang schauen und überblickt die ganze Anlage mit ihren blühenden Beeten und ihren alten Bäumen."
"Und du glaubst ernsthaft, dass sie deswegen kommen?"
"Ich weiß es nicht. Wir wissen nicht, wie solche Leute denken. Vielleicht werden wir uns an sie gewöhnen müssen. Wir meinen, dass sie immer in ihren desolaten Vierteln bleiben oder in den Wohnsilos am Stadtrand, aber das ist Wunschdenken. Wir werden ihnen das Schachspielen beibringen müssen."

Eines späten Nachmittags, Herr Weinberger und Herr Kattinger waren bei der dritten Partie, die den Tagessieger ermitteln sollte, gesellte sich ein älteres Ehepaar zu ihnen. Die beiden standen so plötzlich da, als wären sie aus der Baumkrone gefallen oder dem Stamm der alten Linde entwachsen. Der Mann trug einen Strohhut mit einem purpurfarbenen Band, die Frau eine scharlachrote Samtmasche im Haar, das auf altmodische Weise toupiert und hochgesteckt war. Sie waren beide ungewöhnlich groß und korpulent. Herr Weinberger bot ihnen Platz an. Sie zögerten ein wenig, setzten sich aber dann doch, wobei der Mann der Hut lüftete und "König, sehr angenehm!" sagte.

Sie beobachteten das Spiel, bis sich abzuzeichnen begann, dass Herr Weinberger gewinnen würde. Da räusperte sich Herr König und sagte:" Wir hatten das Missvergnügen zu beobachten, wie Sie und Ihr Partner von einer Gruppe von Bösewichtern gestört wurden und das Spiel abbrechen mussten. Sie sollten das unterbinden."
"Das ist leichter gesagt als getan," seufzte Herr Weinberger. "Es sind junge Männer, die uns kräfte- und zahlenmäßig überlegen sind. Sie sind oft betrunken und nehmen vermutlich Drogen. Wahrscheinlich führen sie Springmesser mit sich. Wir wollen einfach kein Risiko eingehen."
"So ist es," bestätigte Herr Kattinger. "Ich glaube ja nicht, dass sie uns verletzen wollen, aber sie könnten uns treten oder schlagen, was in unserem Alter unangenehme Konsequenzen haben kann." Er lachte bitter. "Es sind bedauernswerte, verwahrloste Kinder. Oft haben sie nur einen Elternteil, der nie Zeit für sie hatte. Wahrscheinlich müsste man nur die richtigen Worte finden."
Das Ehepaar schwieg betroffen. Nach einer Weile sagte die Frau: "Aber warum wollen Sie mit ihnen sprechen? Als Schachspieler werden Sie doch einen Krieg erkennen, wenn man Sie dazu einlädt."

"Also wir sind sicher, dass es den Burschen nicht ums Schachspielen geht," erwiderte Herr Kattinger. "Ich habe sie einmal eingeladen und nur Spott geerntet."
"Sie wollen uns vertreiben," ergänzte Herr Weinberger. "Sie meinen, dass der Platz ihnen gehört, wenn sie da sind. Immer geht es um den Platz der anderen. Kein Reich kann so groß sein, dass man dem Nachbarn nicht noch eine Ecke abzwacken will. Und dann wird das Terrain abgesteckt, mit Duftmarken, wie es die Viecher tun. Hier, sehen Sie diese Brandflecken!"
Das Ehepaar beäugte ungläubig die Tischplatte. Herr König wollte etwas sagen, wurde aber von Herrn Kattinger unterbrochen.
"Es ist nicht so, dass wir diese jungen Leute nicht um uns haben wollen. Sie könnten sich dazusetzen, es ist Platz für sechs oder auch acht, wenn man zusammenrückt. Sie müssten halt still sein - oder wenigstens leise."

"Mit Verlaub, meine Herren," ergriff nun Frau König das Wort. "Sie können im Spiel wie im Krieg über Motive, Absichten und Wünsche Ihres Gegners ausgiebig nachdenken, aber einmal müssen sie handeln, wenn Sie nicht vom Schlachtfeld getragen werden wollen."
"Ja, und sehen Sie, hier endet der Vergleich zwischen Spiel und Krieg," erwiderte Herr Weinberger. "Im wahren Leben ..."
Ein Donnerschlag, wie von einer großen Himmelspeitsche, beendete das Gespräch. Es war sehr finster geworden. Herr Kattinger und Herr Weinberger räumten rasch das Brett ab und verstauten die Figuren. Alle hatten sich schon von den Bänken erhoben, als vier bärtige Kapuzenmännchen den Hügel heraufgekeucht kamen. Sie hatten wie immer eine Meinungsverschiedenheit auszutragen.

"Kommen Sie nur," sagte Herr König. "Wir waren gerade im Begriff, den Heimweg anzutreten, da wir noch trockenen Fußes zur Straßenbahn kommen wollen."
Die Kapuzenmännchen murrten Unverständliches. Einer sagte: "Die Hosenscheißer sind nicht wasserfest."
Herr Kattinger und Herr Weinberger verabschiedeten sich von den Königs und stolperten den Hügel hinunter. Das Ehepaar wollten den oberen Weg nehmen. Auf halber Höhe blendete ein Blitz die beiden Spieler, so heftig, als hätte die Sonne einen Speer geschleudert. Sie blieben stehen und blickten zurück. Die alte Linde stand in Flammen. Ihr Stamm war geborsten und ihre feurige Blätterkrone hatte Tisch und Bänke unter sich begraben. Herr und Frau König standen unweit entfernt und winkten freundlich zum Abschied.
 

Klaus K.

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Matula,

"Bridge".- Wetterunabhängig, geistig extrem fordernd, nur nette, kultivierte Menschen, weltweit wird es gleich gespielt und wie beim Schach wurde der Faktor Glück ausgeschaltet, da alle Paare nacheinander die gleichen Karten (!) spielen und die jeweils erzielten Ergebnisse dann verglichen werden. Da schlägt auch kein Blitz ein und Springmesser-Spezialisten gibt's da auch nicht. Nur so als Empfehlung, für deine obigen Helden!
Schach im Freien, in Verbindung mit einer leider leicht vorstellbaren Realität - das hat mir gut gefallen! LG, Klaus
 

Matula

Mitglied
Leider sind Herr Kattinger und Herr Weinberger nur zu zweit. Das Ehepaar König hat sich nur eingemischt, um ihnen vorzuführen, was ein Gambit ist.
Danke für das Lob
und herzliche Grüße,
Matula
 



 
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