Die Schatulle

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Matula

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Neulich Abend hörte ich meinen Nachbarn vor seiner Tür rumoren. Es klang so, als würde er dort Gegenstände abstellen. Wollte er ausmisten oder ausziehen? Übersiedeln? In ein Altersheim? Je länger er rumorte, desto besorgter wurde ich, denn er ist ein angenehmer Nachbar, den man wenig hört und sieht.

"Guten Abend, Herr Altmeister!" sagte ich. "Wollen Sie übersiedeln oder nur entrümpeln?"

Er seufzte und ließ sich auf einem Sessel nieder, den er vor die Tür gestellt hatte.

"Sie können es gern 'entrümpeln' nennen, wenn Sie finden, dass das alles hier Gerümpel ist," antwortete er und sah mich forschend an.

"Aber nein!" beteuerte ich halbherzig. "Wohin wollen Sie denn mit den vielen Sachen?"

"Mein Neffe wird sie morgen zeitig in der Früh mit ein paar Freunden abholen. Was er damit macht, bleibt ihm überlassen. Vielleicht bringt er sie auf die Deponie, vielleicht auf den Flohmarkt. Hauptsache, das alles belastet mich nicht mehr."

"Kann ich Ihnen behilflich sein?" fragte ich, während mein Blick auf ein Holzkästchen fiel, das mit allerlei Intarsien geschmückt war.

"Nein, vielen Dank, ich bin beinahe fertig. Die großen Möbel bleiben ja hier, also das Bett, die Schränke, der alte Esszimmertisch und so weiter. Damit müssen sich dann meine Erben herumschlagen." Er lachte boshaft.

Auf dem Deckel des Kästchens war eine Seerose aus Perlmutt zu sehen, flankiert von zwei Knospen. Das Blattwerk, das sie einrahmte, bestand aus verschiedenfarbigen Hölzern.

"Und warum wollen Sie sich von dieser schönen Schatulle trennen?"

"Ach die ... die ist an manchen Stellen beschädigt und außerdem weiß ich nicht, wo der Schlüssel ist."

Ich betrachtete das Kästchen von allen Seiten, konnte aber keine Schäden entdecken. In seiner asiatischen Verschlossenheit wirkte es kostbar und geheimnisvoll.

"Wir könnten es mit einer Haarnadel probieren. Ich glaube, in meinem Badezimmer habe ich welche. Soll ich sie holen?"

"Nein, nein, lassen Sie nur, es lohnt nicht. Nichts, was ich vermisse, könnte in diesem Kästchen sein. Wahrscheinlich ist es leer."

Ich hatte große Lust, es aufzuheben und zu schütteln, wagte aber nur, mit den Fingerkuppen über seinen Rand zu streichen, wo ein Band aus geometrischen Mustern die Seerosen einrahmte.

"Aber vielleicht enthält es die Liebesbriefe einer schönen Frau, die Sie vergessen haben," antwortete ich schelmisch und spürte sofort, wie ungehörig die Bemerkung war. Herr Altmeister warf mir einen finsteren Blick zu, erhob sich ächzend und wollte wieder seiner Arbeit nachgehen.

"Interessiert Sie denn gar nicht, was in dieser Schatulle ist? Wenn man sie vorsichtig schüttelt, hört man vielleicht, ob sie leer ist oder nicht."

"Ich habe sie aus einem Schrank gehoben und hierher getragen. Es war nichts zu hören. Damit ist freilich nicht bewiesen, dass sie leer ist. Der Inhalt könnte weich wie Watte sein oder so beschaffen, dass er das Innere ausfüllt ohne das Gewicht merklich zu erhöhen. Mit anderen Worten," Herr Altmeister lächelte vielsagend, "wir wissen es nicht. - So wie ich meinen Neffen kenne, wird er sie unbesehen entsorgen. Er hat keinen Sinn für alte Sachen. Sie sind ihm fast ein Gräuel, vor allem, wenn sie handwerklich verspielt sind."

Während er sprach, versuchte ich das Alter des Kästchens zu schätzen, um zu einem Preisangebot zu kommen. Es mochte aus den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts stammen, konnte aber auch eine geschickte neuzeitliche Imitation sein. Im Ergebnis ging es mir nicht um das Ding an sich, sondern darum, es zu öffnen.

"Ich würde Ihnen das Kästchen abkaufen, wenn es nicht allzu teuer ist. Was halten Sie davon, Herr Altmeister?"

"Gar nichts," antwortete er entschieden, "denn Sie wollen es nur mit Ihren Haarnadeln bearbeiten, um zu sehen, was es enthält. Was aber, wenn es gar keinen Inhalt hat? Oder einen, den ich mangels besseren Wissens im Preis nicht berücksichtigen konnte?"

"Dann," antwortete ich, "wäre mein Risiko so groß wie Ihres. Ich glaube, man nennt das einen Glücksvertrag!"

Herr Altmeister ließ sich wieder auf dem Sessel nieder und betrachtete die Schatulle. In seinen Blick trat etwas Schmerzliches, sodass ich dachte, eine wehmütige Erinnerung hätte ihn ergriffen und nun bewogen, sie auch dem Neffen nicht zu überlassen.

"Sie reden von Glück und Risiko, wo es um nichts weniger als die Wahrheit geht, Frau Nachbarin. Nehmen wir an, in diesem Kästchen sei vor vielen Jahren eine Schildkröte, geschnitzt aus feinster smaragdgrüner Jade gelegen. Auf ihrem Rücken saß eine kleinere Schildkröte und auf dieser wieder eine noch kleinere. Wenn wir nun weiter annehmen, dass es Ihnen gelingt, das Schloss zu öffnen, wäre denkbar, dass Sie anstelle der Schnitzerei den verfaulten Panzer einer Schildkröte finden und ein paar vertrocknete Knöchelchen. Sollte aber mein Neffe wider Erwarten das Kästchen aufbrechen, würde er womöglich eine Schildkröte finden, die nach langem Winterschlaf den Kopf hebt und nach Futter zu suchen beginnt."

"Meinen Sie damit, dass jeder findet, was er verdient, Herr Altmeister?"

"Nein, ich will damit sagen, dass das Öffnen Tatsachen schafft, wo es besser wäre, die Dinge im Ungewissen zu lassen."

"Aber glauben Sie nicht, dass man den Tatsachen ins Auge schauen muss? Bereit, die eigene Vergangenheit heraufzubeschwören, um zu erkennen, wo man geirrt oder versagt oder gar Schuld auf sich geladen hat?"

Herr Altmeister senkte den Blick und legte die Hand auf das Kästchen, wie um es vor mir zu schützen.

"Große Worte, Frau Nachbarin, aber nicht groß genug. Wer jedes Geheimnis lüften muss, verdirbt die Menschen. Sich selbst und die anderen. Aus süßer Ungewissheit wird ein bitterer Saft, an dem wir ein Leben lang herumwürgen, aus der Fülle der Möglichkeiten ein Guckloch, durch das wir fortan zu schauen gezwungen sind. Aus fröhlicher Ahnungslosigkeit wird Ohnmacht und Enttäuschung, und das Übermaß an Neugier wird mit dem Schrecken der Leere bestraft. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Überlegen Sie gut: ist es das, was Sie wollen?"

Das Flurlicht war ausgegangen. Wir schwiegen eine Weile im Dunkeln, die Szene nur beleuchtet von einem fahlen Lichtschein, der aus Herrn Altmeisters Wohnung drang.

"Nun ja ..." antwortete ich zögernd.

Da stand er auf und überreichte mir die Schatulle mit einer kleinen Verbeugung.

Sie war bis zum Rand gefüllt mit glitzernden Christbaumgirlanden in den Farben Rot, Blau und Grün, die mir sofort zwischen den Fingern zerbröselten.
 

lietzensee

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Hallo Matula,
ich habe die Schatulle gerade erst entdeckt. Ein wirkliches Schmuckstückchen!

Viele Grüße
lietzensee
 

Matula

Mitglied
Hallo lietzensee,
vielen Dank für Deine Einschätzung ! Ich glaube, wir mögen beide diese kleinen, leicht absurden Geschichten. Ich denke hin und wieder noch an John, den Puppenspieler, von dem ich dachte, dass es ihn womöglich wirklich gibt.

Liebe Grüße,
Matula
 

petrasmiles

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Hallo Matula,

eine wunderbare Geschichte, die einen richtig reinzieht und nicht eher loslässt, bis sie zu Ende ist. Fast ein bisschen atemlos gelesen, und darum kam das Ende doch ein bisschen plötzlich. Da hätte für meinen Geschmack noch der eine oder andere Satz hingepasst. Von wegen, was das unverhoffte Geschenk mit der Nachbarin macht, wie sie sich erst einmal setzen muss, und dann vielleicht tatsächlich nach einer Haarnadel sucht. Und dann irgendetwas, was die Höhe der philosophischen Betrachungen des Gebers einhält, z.B., dass sie nun immerhin die süße Gewissheit hätte, ein entzückendes Kästchen zu besitzen, und vielleicht eine Idee, was sie darin aufbewahren möchte, also so noch im Leben, das sie Befüllen möchte im Gegensatz zum Nachbarn, der an seine Hinterlassenschaft denkt.

Liebe Grüße
Petra
 

Matula

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Guten Abend petrasmiles,

es freut mich, dass Du die Geschichte auch spannend gefunden hast. Sie ist tatsächlich zu dicht gepackt und wahrscheinlich zu bildhaft. Wichtig waren mir die letzten Sätze des Herrn Altmeister, die die Überzeugung vieler Leute in puncto Grundlagenforschung wiedergeben: unergiebig, verschwendetes Geld, wäre besser zur Linderung von Not eingesetzt, lässt uns mit nur weiteren Fragen zurück, zerstört Phantasien.
Ich wollte die Beurteilung dem Leser überlassen, weil ich selbst keine abschließende Meinung dazu habe.

Herzliche Grüße,
Matula
 

petrasmiles

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Liebe(r) Matula,

ich glaube, dazu muss man auch keine abschließende Meinung haben, weil diese Auffassung dann stimmt, wenn sie passt. Es ist nur eine Perspektive auf die Dinge, es ist keine allgemeingültige Wahrheit.
Nein, die Geschichte selbst fand ich gar nicht zu dicht oder bildhaft, nur den Schluss zu abrupt.

Liebe Grüße
Petra
 

WackyWorld

Mitglied
Du schreibst hammergeile Dialoge! Chapeau! Ein Punkt Abzug, weil für meinen durchgeschredderten Geschmack, der alles andere als mainstreamig ist (ich höre Death Metal, Heaven Shall Burn und Co.) und ich trage schwarz, weil ich nichts dunkleres fin, also für meinen Geschmack müsste am Ende mehr "WUMS" rein. Aber die Dialoge, wie gesagt, sind grandios und erinnern mich an den Altmeister Loriot. Die Absurdität des Alltags konnte kaum einer besser in Worte (und Bilder) pressen wie er.
 

Matula

Mitglied
Guten Morgen WackyWorld,
danke für Deine Anerkennung ! Ich habe den Text wahrscheinlich zu kurz und kryptisch gehalten. Es ging mir in erster Linie um die Darstellung des Forscherdranges, den ich bewundere, der aber andererseits oft zu Ergebnissen führt, die viele weitere Fragen aufreißen, sodass in zeitgenössischen Wissenschaftspublikationen am Ende oft zu lesen ist: "Die Autoren schlagen weiterführende Studien vor, um zu klären ... ". Da geht's natürlich um die Sicherung von Forschungsgeldern, aber nicht nur. Man bleibt als Leser irgendwie ernüchtert zurück - und diesen Moment wollte ich reproduzieren. Aus diesem Grund fehlt das WUMS. Man hat zwar die sogenannten Farbladungen (Rot, Blau und Grün) im Inneren von Protonen und Neutronen erforscht und kennt die girlandenartige Struktur der DNA sehr genau, aber was Materie und Leben im Letzten ist, ist nach wie vor ein Rätsel.

Herzliche Grüße,
Matula
 



 
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