Die Schienenmenschen

Die Schienenmenschen

Peter von Gunten war gerne Lokomotivführer. Er ging diesem Bubentraum schon sein ganzes Leben lang nach. Es war ja auch wirklich ein Traum, ein solches Ungestüm aus Stahl steuern zu dürfen. Nicht für alle, wohlgemerkt. Peter von Gunten akzeptierte das. Nicht weil er sich sagte, dass nur sehr begabte Menschen Lokomotivführer werden konnten, nicht weil man das so sagen musste, sondern ganz einfach deshalb, weil Peter von Gunten ein guter Mensch war. Für ihn waren alle Berufe und somit alle Menschen gleich. Peter von Gunten kannte keine VIP’s, also keine „sehr wichtigen Personen“. Über die lachte der Lokomotivführer nur, und wenn er an seine Familie dachte, dann schallend.

Peter von Gunten entstammte einer sehr reichen Familie. Sie war so vermögend, dass man sich im Garten ihres grössten Grundstücks wie in einem unheimlichen Wald verirren konnte. Der Vater, der, obwohl schon sehr alt, noch immer arbeitete, führte ein namhaftes Schokoladenunternehmen in der dritten Generation. Für ihn war es immer selbstverständlich gewesen, dass sein Sohn Peter eines Tages das Unternehmen als Vertreter der vierten Generation weiterführen würde. Doch Peter von Gunten hatte nie Lust gehabt, sich in Generationsfesseln ketten zu lassen. Er konnte die Vorstellungen seines Vaters zwar sehr wohl nachvollziehen, doch dieser seine, was Peter von Gunten ausserordentlich bedauerte, leider nicht. Und deshalb hatte ihm sein Vater gesagt, dass er sich nie wieder blicken lassen solle und dass er enterbt sei. Dabei war Peter von Gunten Geld gar nie wichtig gewesen. Es gab andere Dinge, Dinge, die man nicht anlegen, „share holden“ oder diversifizieren konnte. Aber seine Familie begriff das nicht. So war es etwas minderwertiges, Lokführer zu sein, gleich wie das Kindermädchen, mit dem er nie richtig hatte sprechen dürfen und das er später aus Liebe geheiratet hatte.

An diesem Abend war Peter von Gunten für den Regionalzug von Basel nach Frick zuständig. Man schrieb einen gewöhnlichen Wochentag, graue Wolken hingen am Himmel, müde, abgekämpfte Gestalten besetzten die Zugwagons. An den Stationen stiegen nur noch wenige Menschen ein und aus. Es gab auch Haltestellen, wo um diese Zeit gar niemand mehr ein- und ausstieg. Hier hielt Peter von Gunten seine Lokomotive nur aus Vorschrift an. Er mochte ausgestorbene Bahnhöfe, hässlich leere Betonperrons nicht. Dann fühlte er sich ein bisschen wie der Führer eines Geisterzuges. Dennoch liebte er die Nachteinsätze. Wenn es draussen kalt und finster war und er, als Lokomotivführer gewissermassen über seine schlafenden Passagiere wachte und seine Maschine sicher durch die Nacht leitete. Das machte ihn stolz und glücklich.

Auf dem Fahrkurs in Richtung Frick fuhr Peter von Gunten mit seinem Zug in einen Bahnhof ein, der ihm seltsam erschien und an den er sich nicht erinnern konnte, ihm jemals begegnet zu sein. Trotzdem zog er wie von fremder Hand gesteuert den Bremshebel. Auf dem einzigen Perron drängelten sich hunderte von Menschen. Ihre Gesichter waren blass und ohne Charakterzüge. Nicht laut, nicht leise, schweigend stiegen sie ein. Vollgefüllt verliess die Lokomotive den Bahnhof und setzte ihre Reise fort.

Peter von Gunten kam die ganze Angelegenheit erst wieder in den Sinn, als er zwei Wochen später erneut in die Nachtschicht eingeteilt worden war. Wieder tauchte wie aus dem nichts jener unbekannte Bahnhof auf, wieder erkannte Peter von Gunten eine gigantische Menschenmasse, die auf die Einfahrt seines Zuges wartete. Doch diesmal hakte Peter von Gunten nach. Er wollte wissen, wer die vielen Leute waren und woher sie kamen. Rasch verliess er den Führerstand und begab sich in das vorderste Abteil. „Wer seid ihr und woher kommt ihr in solch grosser Zahl?“, fragte er in die Menge. Irgendwo aus den hinteren Sitzreihen antwortete eine Stimme: „Wir sind diejenigen Menschen, die kein Gesicht haben. Diejenigen Menschen, die sich das Geleise lieber von anderen Menschen stellen lassen. Menschen, von denen es immer mehr gibt. Wir, wir sind die Schienenmenschen.“

Noch in derselben Nacht reichte Peter von Gunten seine Kündigung ein und übernahm wenige Zeit später das Schokoladenunternehmen seines Vaters.
 

flammarion

Foren-Redakteur
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die

geschichte ist gut erzählt, aber ihre aussage gefällt mir nicht. wenn ein mensch farblos ist, dann ist er es, egal, ob sein beruf lokführer oder fabrikant ist. lg
 
Liebe flammarion,

es geht um etwas ganz anderes, auf den sich auch der Titel bezieht: Die Schienenmenschen. Weshalb gibt es sie? Weshalb gibt es immer mehr von jenen Mitläufern, die jeden Trend der Beliebtheit wegen übernehmen und darin ihre Identität suchen, sich selbst nicht scheuen, ihren Trend als den einzig richtigen anzusehen und anderen aufzuzwingen?

Frage dich selbst und, falls du eine Antwort gefunden hast, maile mir zurück. Übrigens: Natürlich bleibt ein farbloser Mensch auch in der Position eines Unternehmens farblos. Doch Peter von Gunten war nie ein Mann ohne Farbe - bloss ist ihm seit seiner Begegnung mit den Schienenmenschen ein Licht aufgegangen.

PS.: Danke für deine Zusendung. Ich wusste gar nicht, dass auf leselupe.de die publizierten Kurzgeschichten auch tatsächlich gelesen werden...
 

ingridmaus

Mitglied
Hi,
ich finde die Geschichte auch gut geschrieben (nur am Anfang die Formulierung "Bubentraum" finde ich etwas holprig).
Allerdings ist sie glaube ich etwas zu kurz, um die Aussage, die Du im Sinn hast, rueber zu bringen. Warum entdeckt Peter die Schienenmenschen so schnell? Warum sagen sie ihm, wer sie sind? Wenn sie die unbewussten Menschen sind, die sich ihrer selbst nicht klar sind, wie Du in Deiner Antwort auf Flammarion ja anbietest, warum wissen sie dann, WAS sie sind? Sollte Peter die Schlussfolgerung nicht irgendwie (nach etwas laengerer Zeit und mehr Beobachtungen) selber ziehen?
Und noch eine kleine Anregung: Warum endet die Geschichte gar so pessimistisch? Peter ist doch "ein guter Mensch". Wuerde er dann nicht wenigstens versuchen, das Schicksal der Schienenmenschen zu verbessern?
Gruss
Ingrid
P.S.: Klar werden die Posts auf Leselupe gelesen - deshalb werden sie ja gepostet!" ;-)
 
Liebe Ingrid,

auch dir herzlichen Dank für deine Anregungen. Peter von Gunten entdeckt die Schienenmenschen, wie du richtig schreibst, in der Tat sehr schnell. Aus diesem Grund kehrt er seiner wohlhabenden Familie auch den Rücken, weil sie den "Comme il faut"-Manieren besonders frappant vertreten. Doch, und dies erkennt der freiheitsliebende Lokomotivführer erst bei der Begegnung mit den Schienenmenschen, wird er diesen Misstand nur verändern können, wenn er Verantwortung übernimmt. Bleibt er weiterhin Lokomotivführer, so fühlt er sich selbst zwar frei, die Weichen werden aber im wahrsten Sinne des Wortes auch in Zukunft von anderen Menschen, wie etwa von Peter von Guntens knochentrocken-konservativen Vaters, gestellt. Das Ende der Geschichte ist alles andere als pessimistisch: Peter von Gunten entscheidet sich ja , das Unternehmen seines Vaters zu übernehmen, um mit seinem Führungsstil gesellschaftliche Misstände zu beheben.

Die Schienenmenschen wissen sehr wohl, dass sie im Grunde genommen Mitläufer sind. Ihr Problem liegt darin, nicht den Mut zu haben, sich selbst so zu geben, wie sie es eigentlich gerne täten. So müssen sie zum Beispiel die Musik irgendeiner Blondine abgöttlich verehren, um von anderen geschätzt zu werden, obwohl sie vielleicht vielmehr einen anderen Musikstil mögen. Die Schienenmenschen verdrängen ihr Problem, und nur nachts, irgendwo im Nichts, in einem unwirklichen Bahnhof, kommen ihre wahren Bedürfnisse zum Vorschein. Die Schienenmenschen suchen verzweifelt nach jemandem, der sie versteht, der es auch akzeptieren würde, wenn sie anders wären als die Allgemeinheit.

P.S. In der Kürze liegt die Würze, aber natürlich kann man sie auch versalzen...
 

ingridmaus

Mitglied
> Ende der Geschichte ist alles andere als pessimistisch:
> Peter von Gunten entscheidet sich ja , das Unternehmen
> seines Vaters zu übernehmen, um mit seinem Führungsstil
> gesellschaftliche Misstände zu beheben.

Interessant - das haette ich jetzt nicht so interpretiert. Ich fand es eher traurig und sehr schade, dass Peter seinen Traum aufgibt; fuer mich flieht er vor den Schienenmenschen. Aber ist ja Deine Geschichte... ;)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
siehste,

georg müller, in obiger diskussion ist doch einiges gesagt worden, was in deiner geschichte stehen sollte, damit man sie besser versteht. könntest du eine leichte überarbeitung in betracht ziehen?
übrigens schwärme ich für kurzgeschichten und viele lupianer auch. wenn zu einer geschichte nichts gesagt wird, dann ist der leser entweder nicht dahinter gestiegen oder die geschichte erschien ihm zui belanglos. letzteres ist deine geschichte gewiß nicht. ganz lieb grüßt
 



 
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