Die Schlange des Verderbens

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Aligator

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Mit Aufbackbrötchen, Käseaufschnitt und einer Tüte Chips stand ich schon ein Weilchen in der Schlange. Weit am Horizont konnte ich das Piepsen der Kasse erahnen, aber nur wenn der Wind gut stand.
Den Unmutsbekundungen meiner Mitkunden zum Trotz setzte ich ein Lächeln auf, um Überlegenheit zu demonstrieren. Nach einer halben Stunde waren meine Mundwinkel auf Schulterhöhe gerutscht. So konnte das nicht weitergehen!
„He, da vorne, können Sie mich hören?“
Anscheinend hörte mich niemand.
„Kann bitte jemand ne zweite Kasse aufmachen?“
Wieder keine Reaktion. Außer die meiner Mitkunden, die ganz meiner Meinung zu sein schienen.
„Ja, machen Sie endlich noch eine auf!“, krähte eine Dame im rosa Jogginganzug, was mir aus der kurzen Distanz einen gehörigen Schreck versetzte.
Durch meine Vorarbeit war jedenfalls der Knoten geplatzt. Das allgemeine Gemurmel steigerte sich zum offenen Protest, man vernahm Begriffe wie „Unverschämtheit“ und „Sauladen“. Eine Mutter zweier, quäkender Kinder hielt mir ihren Lachs unter die Nase. Er sei mittlerweile abgelaufen.
„Warum geht nicht jemand vor?“, hörte ich da ein hohes Stimmchen.
Das Kaugummi kauende Mädchen schaute uns mit erhobenen Brauen an. Schließlich sagte ich:
„Gute Idee, mein Kind. Sei doch so lieb und sag der Tante vorne Bescheid, dass die Kunden gerne hätten, dass eine zweite Kasse aufgemacht wird!“
Das Mädchen rollte die Augen.
„OK, du kriegst einen Euro dafür“, bot ich ihr an.
„Fünf!“
„Da geh ich lieber selbst!“

„Diese Rotzgören heutzutage“, dachte ich mir, während ich mich aufmachte, um die Angelegenheit ein für alle Mal zu klären.
Mir war zuvor nie aufgefallen, wie groß der Supermarkt eigentlich war. Nun erschlossen sich mir erstmals seine wahrhaft gigantischen Ausmaße. Ich lief in Richtung Kasse, hatte aber das Gefühl nicht wirklich vorwärts zu kommen. Irgendwann, es musste eine Viertelstunde vergangen sein, ließ ich mich auf einer Palette mit Waschmittel nieder. Mein rechter Schuh war bereits durchgelaufen.
Ich begutachtete den Inhalt meiner Geldbörse und beschloss, mir ein Taxi zu nehmen.
Endlich hielt eines an.
„Ich möchte zur Kasse, bitte!“
„Wer will das nich“, raunte der Fahrer.
Als ich mit verträumter Miene aus dem Fenster glotzte, bot sich mir ein Bild des Grauens. Menschenmassen schoben sich die Wagen in die Hacken. Etliche Kunden wurden ärztlich versorgt. Manche hatten sich die Beine in den Bauch gestanden, welch grauenhafter Anblick! Da waren auch welche, die scheinbar den Verstand verloren hatten, sie sprangen auf den Regalen umher oder rissen sich büschelweise die Haare aus. Hier und da konnte man ein einsames, weinendes Kind stehen sehen.
Im Radio hörte ich den Innenminister sagen:
„Aufgrund der prekären Lage im Aldi Süd, haben wir beschlossen, den Notstand auszurufen ...“

„Hier geht‘ s nich weiter“, meldete sich der Fahrer.
„Gut. Was bin ich Ihnen schuldig?“
„Fünfundneunzig Euro, der Herr.“
Ich bezahlte und öffnete die Tür.
Etwa zwanzig Meter vor der Kasse entfernt, hatte sich ein Berg aus Leibern und Einkaufswagen gebildet. Ich beobachtet, wie einige versuchten, den Gipfel zu erklimmen. Manche schafften es - doch wozu? Der Abstieg war noch um einiges haariger und endete in den meisten Fällen eher unglimpflich.
Ein sportlich gekleideter Herr mit Bart hing an der Nordwand, an einem dieser Kettchen der Einkaufswagen. Er versuchte sich rüber zu schwingen, um sich an einer Gesäßspalte fest zu haken, verfehlte diese jedoch und hinunter ging' s ins Tal, wo nichts mehr von ihm zeugte, als das gellende Echo seines letzten Schreis.
Dieser Achttausender war unbezwingbar, das war sicher.
Also blieb nur der Weg mittendurch. Nun gut, zuerst übergoss ich meinen Körper zur Verringerung der Reibung mit zwei Flaschen kalt gepresstem Olivenöl. Dann nahm ich Anlauf, legte die Ohren an und Plopp, war ich inmitten des Berges.
Es war wohl eher Glück als Verstand, dass ich in der Dunkelheit den richtigen Weg durch die Lebensmittel-Körper-Masse fand. Irgendwann vernahm ich einen Lichtschimmer und flutschte an der anderen Seite des Berges heraus.
Jenseits der Verpfropfung ging es noch ruhig und gesittet zu. Die Kunden standen brav in der Schlange und tatsächlich, die anderen beiden Kassen waren nicht geöffnet.
Endlich konnte ich mit letzter Kraft mein „Können Sie noch ne Kasse aufmachen“ loswerden.
Aber wieder geschah – nichts.

Neben dem Förderband standen Wagen, an denen die Skelette einiger Kunden hingen. Ich drängelte mich also ohne Widerstand vor, fragte aber trotzdem höflich, ob ich dürfe. Ich hatte ja nur so wenig: Aufbackbrötchen, Käseaufschnitt und eine Packung Chips.
Endlich kam ich vorne bei der Kassiererin an.
Diese diskutierte mit einer älteren Dame im Pelzmantel.

„Ich kann es nicht!“
„Aber ich bitte Sie! Sie sind doch so ein fesches Mädchen. Jetzt tun Sie mir doch den einen Gefallen!“
„Nein, bitte nehmen Sie es nicht persönlich, ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich nun mal meine Vorschriften habe!“
„Es ist doch nur dieses eine Mal.“
„Ob Sie jetzt bitte, bitte, die verdammte zweite Kasse aufmachen könnten?“, unterbrach ich lautstark das Gespräch.
„Moment, junger Mann“, sagte die Oma, „erst bin ich an der Reihe!“
Die Entschlossenheit in ihrem Blick ließ mich schaudern.
„Also, muss ich arme, alte Frau die Unterhosen jetzt wieder nach Hause schleppen? Sie rutschen!“
„Warum haben Sie es dann erst nach drei Wochen gemerkt?“, fragte die Kassiererin.
Ich blickte auf das gelbe Paar Unterbuchsen, das auf dem Scanner lag.
„Ich bitte Sie, ich bitte sie auf Knien im Namen der Menschlichkeit“, ich kniete wirklich, „machen Sie doch die zweite Kasse auf!“
„Ich kann nicht.“
„Wieso?“
„Weil der Knopf kaputt ist.“
„Welcher Knopf, denn?“
„Hier an der Seite ist ein Knopf, wenn man den drückt, dann macht' s Ding-Dong und die Kollegin kommt.“
„Gibt's da keine andere Möglichkeit, vielleicht anrufen oder so?“
„Nö.“
„Junger Mann!“, mahnte die Oma.
„Dann lassen Sie mich schnell bezahlen und Sie regeln das da hinterher!“, schlug ich vor.
„Eine Unverschämtheit, Sie Flegel, Sie!“ Die alte Dame erhob ihren Regenschirm.
„Also gut“, sagte die Kassiererin und zog meinen Kram schnell drüber.

Unnötig zu erwähnen, dass wegen der Taxirechnung das Geld nicht reichte.
 



 
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