Die Schuld

Apolonia

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In eigenen Gedanken versunken stand sie da am Fenster, hinter der Gardine. Lustlos, weltfremd, unverstanden.

Seit der Ferdinand sie verlassen hat, bemühte sie sich nicht mehr ihr Leben in den Griff zu bekommen. Eigentlich hat sie sich von dem realen Leben abgewandt. Nur neugierig blieb sie noch, wie früher.
Die Menschen und die Umwelt heimlich beobachten und immer schön kritisch bleiben, das fiel ihr nicht schwer. Natürlich, den anderen gegenüber. Mit sich selber war sie doch irgendwie noch gnädig, fand immer eine passende Ausrede, eine Entschuldigung.

Das hastige und laute Treiben auf der Straße und auf dem Fluss wurde immer weniger. Die kleinen Fischerboote fanden im Hafen Zuflucht. Die Fischer, beladen mit schweren Körben und müde, gingen mühsamen Schrittes Heim.
Aber das interessierte sie nicht mehr. Das war an der Küste im Westen nichts Neues, das kannte sie schon und langweilte sich.
Dann plötzlich hatte der Alte von Gegenüber ihre Neugier erweckt. Und jetzt, da er noch das Licht eingeschaltet hat, konnte sie ihn viel besser sehen.
So stand sie da im halbdunklen Zimmer, resigniert, deprimiert, gefühllos und entmutigt. Sie mochte sich selber nicht und alle anderen auch nicht. Der Alte da drüben, der war anders. Ein Sonderling. So blieb sie bewegungslos stehen und beobachtete ohne jegliche Anteilnahme die gegenüber liegende Wohnung, als wäre sie eine Bühne, auf der ein triviales Stück gespielt wurde.
Die Dämmerung setzte ein. Sie konnte ganz ohne Anstrengung das Schauspiel verfolgen.
Das schien den Alten nicht zu stören. Er scherte sich nicht um sie und die anderen Mieter. Wusste er überhaupt, dass sie minutiös seine täglichen Rituale kennt? Spürte er ihren Blick an dem gedeckten Tisch?
Und wieder, die zwei Kerzen wird er gleich anstecken, zuerst die eine. Ja, stimmt. Die zarte Flamme flackert schon.
„Hm, warum überspringt die Flamme auf die andere Kerze nicht? Einfach so“, kam ihr dieser unsinnige Gedanke.
Sie versuchte es nur mit der Kraft ihres Blickes, die immer monströser wirkende Flamme auf die zweite Kerze zu übertragen.
Es ging nicht ... oder doch?
„Habe ich Sehstörungen oder was ist mit mir los“, schoss es ihr noch durch den Kopf.
Und plötzlich war alles hell, wie ein Blitz. Sie drehte sich von dem Fenster ab und rieb sich die Augen. Noch immer hatte sie nichts begriffen.
„Oh, Gott, flüsterte sie leise, das ist doch nicht möglich“.
Ja, jetzt war ihr klar. Feuer!
Die Hitze konnte sie schon selbst spüren. Jetzt war sie sich sicher. Es brennt!
Das wollte sie nicht. Es war nicht ihre Absicht und nicht ernst gemeint. Nur ein Spiel.
Das Gedankenchaos in ihrem Kopf breitete sich wie ein Gewitter. Panische Geistesblitze brannten eine heiße Spur in ihrer Wahrnehmung.
„Und der Alte, der Alte, der Alte“, rief sie ihn in ihrer Erinnerung.
„Der war doch da, in dem brennenden Zimmer, hatte noch selber die eine Kerze ... die Zweite ... nein, das war ich nicht, neeeein. Auch, wenn ich ihn nicht besonders mochte ...Das kann nicht funktionieren, das darf nicht wahr sein".
"O Herr, erbarme dich, aber nicht gleich die ganze Wohnung“ - flüsterte sie den Satz vor sich hin, wiederholend, wie ein Gebet.
Verwirrt und entkräftet, sich fest an den Möbeln haltend, schlürfte sie durch die Wohnung.
Zittern, in panischer Not fast atemlos, erreichte sie noch das Treppenhaus und trommelte an die Tür des Nachbars. Ihr letzter Gedanke war der Alte, ob er sich wohl retten kann?
Da ist sie zusammengebrochen.

Erst in der Klinik kam sie zu sich. Viele Menschen standen um ihr Krankenbett herum. Alles fremde Gesichter, aber irgendwie nett und freundlich.
„Da, ich kenne ihn, der Alte persönlich. Wieso ist der hier, wo bin ich überhaupt“? - versuchte sie mühselig ihre Gedanken zu sortieren.
„Nein, Hilfe, der kommt auf mich zu. Was will er von mir? Ich bin unschuldig“, wollte sie noch laut schreien, ihre Unschuld betonend. Mit weit aufgerissenem Mund und aufgeschrecktem Blick verschluckte sie sich und verstummte.
Der Alte kam näher und fasste ihre beiden Hände fest. Er lächelte gütig und bedankte sich bei ihr.
„Sie haben mir das Leben gerettet. Möglicherweise auch noch den vielen anderen Nachbarn“, er drückte noch fester ihre schweißnassen Hände.
„Ich? Hm, wieso ich? Ich habe doch nichts gemacht“, flüsterte sie ein bisschen verlegen und alle Anwesenden klatschten.
 



 
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