Die schwarze Katze

Breimann

Mitglied
Liebe LL-Leser,
diese Geschichte ist lang! Sie braucht, für ihre Entwicklung, für die Dichte im Geschenen, mehr Raum, als ich sie anderen Geschichten gebe.
Deshalb meine Bitte: Druckt sie euch an; lest sie in Ruhe.
eduard

Die schwarze Katze
Das Hotel „Weißer Schwan“ war schon lange nicht mehr in Betrieb. Inga konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als Tag und Nacht Menschen ein- und ausgingen; das übliche Hotelleben eben.
Damals, 1995, als sie hier in Köln-Raderberg gebaut hatten, hatte keiner geglaubt, dass das einmal vorbei sein würde. Da waren ständig große dunkle Wagen vorgefahren, hatten zahllose Taxen auf Passagiere gewartet; da hatte es ständig Kongresse und Seminare gegeben.
Hundert Lichter strahlten in der Dunkelheit das Haus an, das selber mit zahllosen erleuchteten Fenstern zurück strahlte. Es lebte und pulsierte, dieses prächtige, vierstöckige Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende.
Inga und Fred hatten damals oft sehnsüchtig rübergeschaut, zum hell angestrahlten, mit einem beigen Baldachin und rotem Teppich einladend geschmückten Eingang; aber das Geld war knapp gewesen damals; sie hatten alles ins Haus gesteckt. Ein Getränk in so einem teuren Haus, nein, das wäre ihnen wie eine Sünde erschienen.
Zwei Jahre später war alles vorbei gewesen. Der Tod des Hotels war für alle Außenstehenden überraschend, ohne Ankündigung, gekommen.
An einem Montag hatten sie das Inventar verladen und die Eingangstür geschlossen. Seitdem waren alle Lichter erloschen; da spielte keine Musik mehr. Den Baldachin, den hatten sie abgebaut, aber den roten Teppich hatten sie liegen gelassen; er war wohl nicht mehr zu gebrauchen, und eines Tages war er einfach verschwunden.
Jetzt wirkten die grauen Mauern mit den toten, gardinenlosen Fenstern wie ein Monument, wie ein Denkmal für all die Menschen, die hier früher ein und aus gegangen waren. Man gewöhnte sich bald an diese Totenstille, die das Haus von diesem Tag an umgab.

Heute, während sie Möhren wusch, Mayas Fragen beantwortete und auf die Musik im Radio lauschte, musste sie an diese Zeit denken, denn da tat sich etwas vor dem alten Hotel. Sie sah einen Möbelwagen vorfahren und Männer geschäftig hin- und herlaufen.
Weitere Möbelwagen kamen um die Ecke, standen dann in einer Schlange - wie früher die Taxen – wartend vor dem Haus. Die Eingangstür zur großen Halle wurde weit geöffnet; Inga vergaß ihre Möhren und schaute neugierig dem Treiben zu.
„Ich will eine Katze zum Geburtstag, Mama.“
„Das Hotel ist verkauft. Es wird wieder eröffnet“, dachte Inga zufrieden, und sagte laut: „Erstens heißt das: Ich möchte. Zweitens gibt es keine Katze zum Geburtstag, liebe Maya.“
„Nur eine kleine schwarze, bitte!“
„Auch keine schwarze Katze. Ich will kein Tier im Haus haben.“
„Na ja“, dachte sie, während sie die Möbelpacker beobachtete. „Das scheint aber höchstens ein Einsternehotel zu werden. - Mein Gott! Was für ein kunterbuntes, billiges Mobiliar.“
Inga war „Nurhausfrau“, wie ihr Mann immer wieder spöttisch bemerkte; oft warf er es einfach so in die Diskussion hinein, als sollte das ihre Worte, ihr Verhalten oder auch ihre Ansichten erklären; etwa nach dem Motto: „Die Sicht einer Nurhausfrau! Ha-Ha!“; in der Regel waren die Kollegen und Kolleginnen ihres Mannes die amüsierten Zuhörer.
Sie überhörte die kränkenden Äußerungen meistens, obschon ihr manchmal die Wut hochschoss. Sie ließ sich aber höchstens zu einem saft- und kraftlosen „Na und?“ hinreißen.
Ihre knabenhafte Figur, der kurzgeschnittene, sehr dunkle Bubikopf und ihre mandelförmigen Augen gaben ihr einen rassigen, leicht exotischen Anstrich. Sie war hübsch und steckte die Spötteleien ihres Mannes über ihre flachen Brüste um so leichter weg, als sie die bewundernden Blicke seiner Kollegen bemerkte.
Sie war nicht dumm, aber Fred hatte es in den wenigen Jahren ihrer Ehe geschafft, sie still und zurückhaltend zu machen. Er war der Herr im Haus, das hatte sie längst akzeptiert.

Als Fred zum Essen kam, waren die Packer immer noch beim Möbelabladen, und es schien kein Ende zu nehmen.
„Hast du gesehen, Fred? Sie eröffnen das Hotel wieder.“
„Leider nicht. Weißt du das denn noch nicht? Ihr Hausfrauen wisst doch sonst alles, was sich in der Siedlung tut. Hat die Buschtrommel noch nichts erzählt?“
„Sei bitte nicht so! Warum bist du sauer? Was ist mit dem Hotel?“
„Das ist es ja. Was mich so wütend macht, ist das Hotel.“
„Was hast du damit zu tun? Warum macht dich das wütend?“
„Was ich damit zu tun habe? Wir - wir alle haben damit zu tun, Inga! Die Asylanten besetzen den „Weißen Schwan“! Achtzig Asylanten ziehen da ein!“
„Mit Hotelbetrieb? Küche? Kellner? Musik? Tanzabenden?“, entfuhr es Inga - und sie lächelte dabei.
„Ach, Quatsch. Du machst immer alles so lächerlich. Es ist mein voller Ernst. Achtzig schwarze Asylanten ziehen da ein. Du bekommst ab sofort Anschauungsunterricht über das Leben, Treiben und Vermehren von schwarzen Naturvölkern - und das unmittelbar vor der eigenen Haustür. Sie sollten das Hotel umbenennen in Schwarzer Schwan.“
„Das können die doch nicht machen, Fred. Raderberg ist doch eine gute Wohngegend. Hier wohnen doch nur anständige Leute.“
„Sie machen es aber. Da sind Kriminelle und Drogendealer dabei. Das wird erst der Anfang sein. Angeblich sollen da noch mehr Schwarze einquartiert werden.“
„Schwarze Katzen, Mama?“
„Nein, Maya, keine schwarzen Katzen. Papa meint was anderes.“
„Was hat sie denn?“
„Sie will eine schwarze Katze zum Geburtstag.“
„Kommt nicht in Frage! Angeblich treiben die´s sogar auf der Straße. Kannst du dir vorstellen, wie das hier in einem Jahr aussieht?“
„Tun das alle Katzen, Papa?“
„Nein, Maya. Nicht die Katzen. Hör endlich auf mit deinen Katzen! Es gibt keine! Wir haben genug andere Sorgen“, seufzte Inga.
„Und dann die Kinder. Voller Läuse und Ungeziefer – sagt man. Die kommen bestimmt in unseren Kindergarten. – Und in unsere Grundschule, Inga.“
„Ich weiß nicht so recht... Ist das denn alles genehmigt, und so?“
„Das werden wir ja sehen! Ich werde das nicht so einfach hinnehmen, dafür kennst du deinen Fred. Warte mal ab; ich höre mal, was die Nachbarn dazu sagen.“
„Du musst aufpassen, Fred! Beschimpf die Leute nicht; nachher sind wir Rassisten, Neonazis oder sonst was.“
„Pass du besser auf Maya auf, dass die da nicht hinrennt!“
„Oh, mein Gott!“
Fred starrte grimmig zum Küchenfenster. Er konnte von seinem Platz aus nur den Fahrstuhl-Motorraum oben auf dem Dach sehen. Sein kräftiges Kinn mahlte, immer ein Zeichen für große Erregung, wie Inga aus schlechter Erfahrung wusste.
Sein kantiger Schädel mit den zwei Millimeter kurzen, sehr blonden Haaren, den Inga am Anfang mit Charakterstärke, Festigkeit und Energie gleichgesetzt hatte, später allerdings mit Sturheit und Unnachgiebigkeit, machte ihr heute Angst. Sie fürchtete seine Gefühls- und Wutausbrüche, die meistens unverhofft kamen. Seine kalten Augen konnten dann wie Eis aussehen.
Solange sie ihn kannte, hatte er Misstrauen und Ablehnung gegen alle Fremden gezeigt. Jeden Unbekannten starrte er so lange forschend an, bis der nachgab und sich wegdrehte.
Inga wusste, warum sie keine Freunde hatten. Nur seine Kollegen und Kolleginnen kamen mal auf ein Bier vorbei. Dabei gab es dann meistens nur ein Thema: Die Asylanten und ihre Taten. Freds Kollegen waren willige Opfer seiner Hasstiraden.

Am frühen Morgen, gerade als sie Maya zur Schule brachte, kamen sie an. Drei Busse, vollgequetscht mit Menschen aller Hautfarben, hielten vor dem alten Hotel. Aber Inga sah keine Schwarzen, wohl braune, hell- und dunkelbraune mit langen schwarzen Haaren und dunklen Augen. Manche Frauen trugen bunte, wehende Röcke; die Männer waren angezogen wie Fred.
Sie zog Maya, die neugierig zurück bleiben wollte, heftig am Arm.
„Da schaut man nicht hin; die gehen uns nichts an, Maya. Komm, es wird Zeit. Du trödelst.“
Viele Kinder stiegen aus den Bussen, Kinder im Kindergarten- und im Schulalter, aber auch ein paar Jugendliche.
Alle Ankommenden waren schwer bepackt; die Frauen und Männer trugen Bündel, Koffer und Rucksäcke; die Kinder schleppten Kleider auf den Armen. Ein Sprachengemisch schlug Inga entgegen, das unentwirrbar war.
„Wohnen die Leute hier, Mama?
„Ja, die wohnen jetzt hier. Aber du gehst da nicht hin! Hast du gehört? Du spielst mit Tina, Jörg und Harald – wie bisher.“
„Ja, Mama. - Warum?“
„Darum!“

„Nun, Herr Musangamfura, ich habe die Kinder der Klasse 2b bereits vorbereitet. Es dürfte kein Schock für sie sein, wenn ihre beiden... – wie heißen sie noch?“
„Surija und Laurien. - Es sind Zwillinge.“
„Also, wie gesagt, es dürfte keine besondere Aufmerksamkeit mehr erregen, wir wollen den Unterricht ja auch möglichst ungestört fortführen.“
„Herr... – wie war noch Ihr Name?“
„Ach so! Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Entschuldigen Sie. Werner – Harald Werner“
„Also, Herr Werner, da müssen wir Ihnen ja wirklich dankbar sein für Ihr Feingefühl. Einen Schock wollten meine Kinder durch ihren Anblick sicher nicht verursachen; das wäre ja schrecklich.“
Schulleiter Werner wurde rot, die Ironie war nicht zu überhören gewesen; er ärgerte sich über seine misslungene Einleitung, aber nur einen Augenblick, dann hob er den Kopf – sehr energisch, autoritär sozusagen – sah Herrn Musangamfura an und runzelte die Stirn.
„Immerhin sind ihre Kinder die ersten schwarzen Kinder an dieser Schule. Das macht eine gute und langsame Vorbereitung der Kinder nötig. Toleranz muss man lernen - und lehren.“
„Ach? Toleranz? Weil wir schwarz sind?“
„Ich glaube, Sie wollen mich missverstehen. Sie kommen aus dem finstersten Afrika an eine gute Schule in einem zivilisierten Land. Ihre Kinder haben eine andere Hautfarbe; sie sprechen eine andere Sprache.“
Jean Musangamfura war nicht eigentlich verärgert; so konnte er gar nicht sein. Er hatte ein sanftes Wesen, ging Streit gerne aus dem Weg. Seine große, feingliedrige Gestalt war immer etwas nach vorne gebeugt, als sei das eine vorweggenommene devote Haltung.
Er hatte, ähnlich wie seine Frau, ein schmales Gesicht. Nur seine Nase war breiter und seine Lippen etwas wulstiger. Seine Augen waren es, die seine innere Sanftheit vermittelten; er sah immer aus wie ein Träumer - und oft war er das auch, ein Mann, der im Traum in seine Heimat flüchtete.
Hier, das wusste er, ging es um seine Kinder, um das, was er mehr liebte als sich selber. Also legte er etwas mehr Schärfe, mehr Ironie in seine Worte, als er es sonst tat.
„Ach ja? Das hatte ich nicht bedacht. In unserem Land herrscht Schulpflicht und die Kinder lernen mit sieben schon französisch. Meine Kinder sprechen tatsächlich die wunderbare alte Tutsi-Sprache; außerdem selbstverständlich unsere Amtssprache Französisch – dank meiner Frau. Da ich in Deutschland Germanistik studiert habe - und an der Universität in Butare Deutsch lehrte, sprechen sie auch fast akzentfrei Deutsch. – Sie sind hier geboren! Wenn das allerdings ein Problem für Ihre Schule ist...“
„Nein, entschuldigen Sie – ich wusste nicht... Äh... Ich wusste nur, dass Sie Asylant sind – mehr nicht.“
„Das macht also den Unterschied? Nun, ich hoffe, dass die Kinder hier trotzdem gut aufgehoben sind. Sie sehen ja“, sagte er, und zeigte sanft lächelnd auf seine Kinder, „sie sind sauber, sind ordentlich angezogen – und sie haben weder Läuse noch Flöhe.“
Surija und Laurien standen still im Hintergrund. Sie waren hübsch, in der Art, die von vielen Menschen mit “Ach, sind die niedlich!“, bedacht wird. Sie mussten einem gefallen, mit ihren schmalen, schwarzen Gesichtern, den wunderschön gekräuselten Haaren, in die bei Surija kleine gelbe, grüne und rote Perlen geknüpft waren, die Farben ihres Landes.
Sie waren zwar gleichgroß, aber ihre Gesichter waren doch sehr unterschiedlich; Laurien schaute aus runden Kinderaugen auf den Mann, der mit seinem Vater sprach. Surija dagegen blickte an ihm vorbei, träumerisch, und beobachtete die Spatzen, die sich im Baum vor dem Fenster zankten. Ihre Augen waren schmal, fast geschlitzt. Ihr Gesicht bekam dadurch etwas Katzenhaftes; und katzenhaft waren auch ihre Bewegungen.
Sie waren beide klug; und sie waren immer fluchtbereit; Surija mehr als Laurien. Sie hatten den Sinn des Gespräches sehr wohl verstanden, die versteckten Abgrenzungen begriffen. In dem hässlichen Lager in Köln-Chorweiler, in dem sie so lange leben mussten, hatten sie die Anfeindungen der türkischen, kurdischen und deutschen Anwohner, die Ablehnung und die Angriffe von weißen Lagerinsassen, immer wieder ertragen müssen.
Schulleiter Werner blieb nur noch übrig, freundlich zu lächeln, obschon er gerne geflucht hätte. Die Herren der Stadtverwaltung, insbesondere des Schulamtes, hätten ihn besser informieren müssen, dann wäre ihm diese Blamage erspart geblieben. Er wollte jetzt nur noch schnell das Gespräch beenden. Dann fiel ihm etwas ein, was er sich auf einem Zettel mit dem Stichwort „Religionsunterricht!“, zur Klärung notiert hatte.
„Noch eine Frage, Herr Musangamfura. Ihre Kinder haben sicher einen landestypischen Glauben, den wir hier nicht vermitteln können. Wie sollen wir das halten?“
„Ja“, sagte Herr Musangamfura, „unsere Kinder haben einen landestypischen Glauben, wie fast siebzig Prozent der Hima, so heißt übrigens unser Volk. Wir sind Christen, katholische Christen. Wir glauben an Gott und seine Güte. Meine Kinder sind darin erzogen worden, dass sie den Nächsten achten, wie sich selbst.“
„Aha! Da sieht man mal, wie wenig man über fremde Völker weiß, Herr Musangamfura. Nun ja. Ich glaube, es ist alles geklärt? Ich bringe die Kinder jetzt in die Klasse zu Frau Gerber.“
Herr Musangamfura küsste Surija und Laurien und strich ihnen über die Köpfe. „Macht es gut, Ihr Lieben. Ich wünsche euch viele Freunde.“

Surija und Laurien hatten überhaupt nur Freunde. Die Kinder sortierten sich ein, wie andere, weiße Kinder, es auch getan hätten.
Laurien war sofort - vom ersten Tag an - mitten drin. Er ging auf die anderen Jungen zu, sprach sie an, zeigte ihnen grinsend seine rosaweißen Innenhände und brachte alle zum Lachen.
Er war wild, tobte während der Pausen, prügelte sich schon mal, spielte prima Fußball und konnte besser rennen als alle anderen. Er fand seine Freunde, mit denen er Freude und Spaß teilte; es gab bittere Tränen, und es gab überschäumendes Lachen; es war eben alles ganz normal.
Surija war stiller, suchte keinen Kontakt, betrachtete das Treiben in den Pausen sehr wach, lächelte die Mädchen vorsichtig an - und lachte manchmal doch laut auf, wenn ihr ein Spiel der anderen Kinder sehr gefiel; aber sie ging nicht auf sie zu, fragte nicht, ob sie willkommen wäre. Maya hatte Surija am ersten und zweiten Tag heimlich beobachtet, ihre leise Art bewundert. Am dritten Tag, während der großen Pause, ging sie auf Surija zu.
„Ich bin Maya. Willst du mit mir spielen?“
Und damit war alles klar; Surija spielte mit ihnen Fangen, Seilchenspringen, Hüpfkästchenspiel und all die anderen typischen Mädchenspiele.
Die Klassenlehrerin, Frau Gerber, war ein mütterlicher Typ, die noch nie einen Unterschied in der Hautfarbe gesehen hatte. Surija und Laurien waren gut im Unterricht, passten sich einfach an; sie fielen kaum auf. Niemand sprach über Schwarz oder Weiß.
Maya erzählte ihrer Mutter nach dem vierten Schultag, während sie ihre Schularbeiten machte, dass sie eine neue Freundin hätte, die anderen wären jetzt doof.
„Die ist schwarz, Mama. Und sie heißt Surija. Und ihr Bruder ist auch in unserer Klasse; der heißt Laurien.“
„Wie bitte? Sind die beiden hier aus dem Hotel?“
„Ja. Das ist toll, oder? Die wohnen genau gegenüber; da können wir auch nachmittags zusammen spielen.“
„Das geht nicht, Maya! Das sind Asylanten; sprechen die überhaupt richtig deutsch?“
„So wie wir? Ja, warum nicht, Mama? Die sprechen ganz normal. Französisch und noch eine Sprache können die auch. Was sind Asylanten? Warum geht das nicht? Ich kenn die doch jetzt – und Surija ist so lieb.“
„Das verstehst du alles noch nicht – später mal. Asylanten haben kein Zuhause mehr - da wo sie herkommen. Spiel mit deinen alten Freunden; mach mir keinen Ärger! Hörst du?“

Es war voll beim Bäcker Kerner; alle holten noch vor dem Frühstück große Mengen Brote und frische Brötchen für das Wochenende. Zwischen den Frauen, die Inga alle vom Sehen kannte, stand eine große schwarze Frau. Inga musterte sie unauffällig, registrierte sehr dunkle Augen, krause, schwarze Haare - in die bunte Perlen geflochten waren – und eine schlanke Figur. Ihr europäisch geschnittenes Gesicht war, das musste Inga mit etwas Neid eingestehen, bildhübsch. Die Frau trug ein langes Kleid, das nicht gegürtet war. Es war bunt; das Muster wirkte fremd, wild und aufregend. An den Füßen trug sie „Jesuslatschen“, wie Inga solche offenen Pantoletten nannte.
„Ich hätte gerne zwei Brote. Bitte mit vielen Körnern im Brot.“
Sie bekam zwei Mehrkornbrote, und bezahlte mit einem freundlichen „Dankeschön“.
Beim Rausgehen streifte sie Inga und sah sie lächelnd an. „Entschuldigung!“, mehr sagte sie nicht. Inga sah ihr nach, bis die Tür sich schloss.

„Stell dir vor, wen ich heute im Laden bei Kerner gesehen habe“, sagte Inga beim Frühstück. „Eine Schwarze vom Hotel. Übrigens sind da keine achtzig Schwarze, wie du gesagt hast. Nur vier - eine einzige Familie -, sagt Frau Holger. Und die muss es wissen; ihr Mann ist bei der Stadt. Die beiden Kinder sind in der zweiten Klasse der Dunantschule – bei Maya.“
„Das habe ich befürchtet. Du hast doch Maya hoffentlich klar gemacht, dass das keine Spielkameraden für sie sind, diese Negerkinder?“
„Reg dich nicht auf, Fred. Ich hab´s ihr gesagt – stimmt´s Maya?“
„Hmm. Finde ich doof. Surija und Laurien sind prima. Da könnte ich toll mit spielen.“
„Schluss! Du hast gehört, was ich dir gesagt habe!“
„Warum nicht, Papa?“
„Darum! Hör auf mit der ewigen Fragerei! Das verstehst du noch nicht. Da musst du noch etwas größer werden, um das zu begreifen.“
Sie aßen schweigend weiter, bis Inga plötzlich auflachte.
„Sie ist bildschön - die Schwarze - und lachen kann die! Da drehen sich alle Männer nach um – warte ab. Und sie hat einen wunderbaren Dialekt; du kannst ihn dir nicht vorstellen; da könnte ich stundenlang zuhören.“ Inga lachte wieder, als sie sich an die wenigen Worte der schwarzen Frau erinnerte; es hatte sich so lustig angehört.
„Was ist daran lustig? Diese Kaffern sollten erst mal ordentlich Deutsch lernen, wenn sie hier unser gutes Geld abschöpfen wollen.“
Niemand sprach mehr während des Frühstücks; Maya stocherte mürrisch im Eierbecher herum.

Es kam ganz zufällig. Inga hatte einen von Milch, Reis, Nudeln und Gemüse überquellenden Bastkorb in der einen, zwei schwere Stofftragetaschen in der anderen Hand, die große Handtasche baumelte am langen Riemen – und der Autoschlüssel klemmte zwischen den Zähnen. Sie stemmte die Tür am Supermarkt auf, die wieder mal klemmte, und dabei fiel der Autoschlüssel klirrend auf den Boden, rutschte unter die abgestellten Einkaufswagen.
„Verdammt!“
„Warten Sie! - Ich helfe Ihnen.“
Eine schwarze Hand hielt den Schlüssel vor ihre Augen. Ein schmales, schwarzes Gesicht mit blitzendem Gebiss sah von unten zu ihr hoch; lachende Augen strahlten sie freundlich an. Inga wurde rot und stammelte: „Danke, danke! Bin so bepackt. Oh mein Gott! Ich kaufe immer mehr ein, als ich wollte.“
„Das kann mir nicht passieren. Ich muss jeden Pfennig umdrehen“, sagte die schwarze Frau lachend; es hörte sich nicht nach einer wehleidigen Klage an.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Wo steht Ihr Auto?“
Inga nickte und ging steif voran. Die schwarze Frau folgte ihr dichtauf. Sie trug nur ein kleines Einkaufsnetz. Inga stellte die Taschen neben dem Kofferraum auf die Erde und hielt die Hand auf.
„Bitte“, sagte die Frau, gab ihr den Schlüssel und legte den Kopf schräg.
„Ich habe Sie schon gesehen; wohnen Sie nicht auch auf der Kurze-Forst-Straße? Beim Bäcker war das, ja?“ Dabei lachte sie so locker und freundlich, dass Inga schon wieder verlegen wurde.
„Ja, das stimmt; ich bin Inga Hauser.“
„Ich heiße Marguerite Musangamfura, wir wohnen im alten Hotel; heute heißt das ja wohl Asylantenheim.“
„Ja.“
Sie standen unschlüssig voreinander; das Schweigen dauerte vielleicht nur ein paar Sekunden, aber Inga erschienen sie wie eine Ewigkeit.
„Wie komm ich hier bloß wieder raus?“, dachte sie. Dann sagte sie etwas, was sie selber überraschte: „Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen? - Als Dankeschön meine ich, und wenn Sie wollen, können Sie ja mit mir zurück fahren.“
„Gerne. Die Busse halten so weit weg von unserer Straße. Danke für die Einladung.“
Inga legte die Sachen ins Auto – auch das Netz der schwarzen Frau - dann gingen sie ins Cafe, das zum Einkaufszentrum gehörte. Inga sah die Blicke aller Gäste auf sich und ihre Begleiterin gerichtet. Ihr wurde mulmig, und sie fühlte eine Scham, als hätte sie etwas verbrochen.
Schweigend nippten sie an ihrem Kaffee und warteten aufeinander. Marguerite brach zuerst die fast peinliche Stille, und wieder tat sie es mit diesem schönen Lächeln, das Inga wehrlos machte.
„Ich mag Sie; Sie sind so freundlich - und Sie sind die erste Frau in Deutschland, mit der ich mich unterhalten möchte.“
„Ach, hören Sie auf! Ich kenne Sie gar nicht –, und ich habe etwas Angst vor fremden Menschen.“
„Das ist doch nicht schlimm. Ich habe immer Angst – immer! Deshalb habe ich wohl auch keine Freundin.“
„Ach, sie sprechen so gut unsere Sprache, da kann das doch nicht schwer sein.“
„Doch, wenn ich aufgeregt bin, dann mache ich Fehler. Hinterher, wenn ich alleine bin, dann ärgere ich mich darüber.“
„Sie haben einen reizenden Dialekt – ich höre Ihnen gerne zu.“
„Es liegt auch wohl nicht an der Sprache. Ich bin schwarz. Gott hat mir eine dunkle Haut gegeben. Bei uns in Afrika ist das normal, Aber hier? Mit Schwarzen spricht man hier nicht; haben Sie keine Angst, mit mir gesehen zu werden?“
Inga wurde rot, als sie Marguerites Blick bemerkte; sie hatte Ingas schnellen, prüfenden Rundumblick durch das Cafe registriert.
„Angst? Wovor? Ich finde Sie nett; Sie sind meine Nachbarin, und – und Sie lachen so schön“, sagte sie mit trotziger Stimme.
Inga und Marguerite lächelten sich an, es war alles gesagt, was zur Überwindung der Hemmungen nötig gewesen war. Inga fühlte sich wohl in der Nähe dieser schönen Frau, die klug und sanft war, - die ihr zuhörte.
Marguerite erzählte von ihren Kindern Surija und Laurien, und Inga zog Fotos von Maya aus der Tasche. Sie sprachen über die Schule mit ihren vielen Ausfallstunden, über die Freude, die sie mit ihren Kindern erlebten; Marguerite schilderte das beengte Wohnen in den zwei Hotelzimmern und Inga die sonderbaren Geburtstagswünsche Mayas.
„Eine Katze, eine schwarze Katze, wünscht sie sich! Stellen Sie sich das mal vor! Ich weiß doch, wie das geht. In den ersten Monaten wird sie gepflegt und gehegt, gestreichelt und verhätschelt und muss unbedingt mit ins Kinderbett. Dann wird es ihr zuviel, ich muss die Katze füttern und pflegen und sie hat nur noch das Streicheln im Kopf - und den Schmusekater im Bett“, erklärte sie lachend ihre Ablehnung. „Vielleicht später mal.“
Sie tranken bereits den dritten Kaffee, als Inga erschrocken feststellte, dass sie fahren müssten, sie müsse ja das Mittagessen für Fred, ihren Mann, und Maya zubereiten. Sie wollte alleine bezahlen, aber mit Nachdruck schaffte Marguerite es, zwei Tassen Kaffee zu bezahlen.
„Jean, mein Mann, ist immer zu Hause; er darf nicht arbeiten; Sie wissen ja sicher, warum“, sagte Marguerite leise, während der Rückfahrt.
„Ja, Asylanten dürfen nicht arbeiten. Stimmt´s?“
„Ja. Wir sind keine Asylanten mehr, nur noch Geduldete. Wir sind seit 1994 in Deutschland; zuerst als Asylbeantragende, dann als Asylanten. Jetzt sollen wir zurück – irgendwann sollen wir nach Ruanda zurück.“
„Und? Wollen Sie nicht?“
„Darf ich Ihnen das ein andermal erzählen? – Es ist nicht so einfach und schnell gesagt“, flüsterte Marguerite und sah unendlich traurig aus. „Ich muss erst darüber nachdenken, ja? Bitte!“
„Aber ja, natürlich. Wenn Sie nicht möchten...“
„Doch, doch! Es ist nur...“
Inga stellte den Motor ab, als sie den Platz vor ihrer Garage erreicht hatten.
„Wissen Sie was? Ich lade Sie ein! Kommen Sie mich doch einmal besuchen – zum Kaffee. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten.“
Sie war erschrocken, fassungslos, über ihr Angebot - und gleichzeitig glücklich und erleichtert.
„Und wenn Fred auf die Palme geht! Die Frau ist nett. Sie ist die erste hier, mit der ich gerne gesprochen habe - sie ist nicht so, wie Fred glaubt“, dachte sie so trotzig wie seit Jahren nicht mehr.

„Ich habe mich umgehört; die Nachbarn sind einverstanden.“
„Womit sind sie einverstanden, Fred?“
„Mit einer Bürgerversammlung! Motto: Gegen Überfremdung! – Schützt unsere Kinder!“
„Das willst du organisieren? Gegen die achtzig– äh – vier Schwarzen?“
„Spotte nur. Ich bin für den Schutz meiner Familie verantwortlich. Wenn erst was passiert ist, ist es zu spät; dann ist das Geschrei groß. Hätten wir doch! Warum haben wir nicht! Nein, nein! Es geht um das ganze Pack da, in unserem Hotel. Am nächsten Samstag treffen wir uns in der „Alten Post“ – um 20 Uhr.“
„Fred! Lass es sein; sie haben uns nichts getan. Es sind arme Menschen, ohne Heimat.“
„Spinnst du plötzlich? Diese Neger, Zigeuner und das andere Gelump, das sind Gangster! Die erschleichen sich ohne Arbeit Staatsknete, die ich mit meinen Steuern berappen muss, und leben in Saus und Braus. Wenn wir nichts unternehmen, wird das noch schlimmer – das ufert aus! Demnächst müssen wir noch Einquartierungen in unserem teuer bezahlten Haus befürchten.“
Inga schwieg, und Maya, die das Gespräch still verfolgt hatte, kaute nachdenklich auf den Spaghetti herum.
Erst bei der Nachspeise wurde Maya unruhig, rutschte hin und her; schließlich hatte sie die richtige Formulierung vorbereitet.
„Papa, ich will mit Surija und Laurien im Garten spielen; baust du uns das Planschbecken auf? Es ist so heiß.“
„Surija und Laurien? Wer ist das denn?“
„Meine neuen Freunde, Papa. Die wohnen da drüben, im alten Hotel.“
„Sind das etwa diese Negerkinder aus deiner Klasse?“
„Ja, Papa. Surija und Laurien sind pechschwarz - so wie meine Katze, die ich mir ganz doll wünsche.“
„Inga! Hast du ihr erlaubt, mit diesem Pack zu spielen?“
„Nein, nein“, sagte Inga tonlos, und das Blut schoss ihr in den Kopf.
„Wenn die hier auftauchen, werfe ich die Bande persönlich raus! Ist das klar, Maya? Du spielst nicht mit denen!“
„Warum denn nicht, Papa? Die haben nichts gemacht. Der Jörg wollte mich gestern hauen, und da hat der Laurien mir geholfen. Ich will mit meinen Freunden spielen!“
„Ich fass es nicht! Inga, du versagst als Mutter. Kümmere dich! Ich will von diesem Volk nichts mehr hören. Schluss mit der Debatte!“, schrie er, und sein Gesicht war so rot wie damals, als er die schweren Dachbalken auf das Haus geschleppt hatte.
„Ich schreibe jetzt die Einladungen für die Leute in unseren drei Nachbarstraßen. Willst du helfen, die Zettel nachher auszuteilen, Maya? Dann kommst du auf andere Gedanken.“
Maya schüttelte stumm den Kopf.

„Mama, hast du gesehen, was da steht?“
„Was wo steht, mein Schatz? Du sprichst immer in Rätseln.“
„Na da! Da drüben am Hotel! Ich hab es gerade gelesen! Kann ich nämlich schon gut; ich bin gut im Lesen - sagt Frau Gerber!“
Inga schaute aus dem Küchenfenster rüber zum Hotel. Die dicke, braune Schrift war sogar von hier aus zu lesen. Die Buchstaben hatten sie mit Spray krakelig, aber durchaus leserlich über die ganze Front des Hotels verteilt: „Neger und Zigeuner - raus aus Deutschland! Schlagt die Ratten tot!“
„Oh, mein Gott!“
„Warum schreiben die so was, Mama! Warum sollen Ratten tot geschlagen werden?“
„Die meinen die Menschen da drüben“, flüsterte Inga und erschrak über ihre Antwort.
„Nimm das nicht so ernst, Maya. Das sind Wirrköpfe, dumme Menschen. Die wissen nicht, was sie schreiben.“
„Find ich aber doof, so was! Die schöne Wand ist jetzt kaputt; kann man das abmachen?“
„Sie sind schon da, die Neonazis. Die haben nur auf so was gewartet. Hoffentlich lässt Fred sich nicht vor ihren Karren spannen!“, dachte Inga und fühlte Angst wie schon ewig nicht mehr.
„Manche Dinge kann man nicht mit Abwaschen weg bekommen, Maya.“

Der Gang rüber, in das alte Hotel, fiel ihr schwer. Wie sollte sie in diesem Riesenhaus die Familie Musangamfura finden? Sie betrachtete die Schmähschrift, die wohl schon jemand mit Wasser – vergeblich – bearbeitet hatte, nur flüchtig.
Zögernd betrat sie die riesige, völlig leere Eingangshalle, und dann war alles ganz einfach. Sie hatten die Namen und Zimmernummern der hier wohnenden Familien auf eine große Tafel, auf der früher die Veranstaltungen bekannt gemacht wurden, aufgeschrieben. In Kreide, teils mutwillig verwischt, standen dort fremde Namen, die ihr unaussprechlich vorkamen. Sie begann ganz oben, las langsam; dann hatte sie den gesuchten Namen endlich gefunden.
„Prof. Jean Musangamfura Z. 304“
Sie klopfte zaghaft, sehr leise. Die Tür flog sofort auf. Ein schwarzes Mädchen, das seiner Mutter sehr ähnlich sah, strahlte sie an.
„Wollen Sie zu meiner Mama?“
„Ja. Sag ihr bitte, Frau Hauser wäre da; ob sie Lust auf eine Tasse Kaffee hätte.“
„Kommen Sie herein.“ Sie stand hinter ihrer Tochter und machte eine einladende Handbewegung. „Wollen wir den Kaffee nicht bei mir trinken? - Oder ist Ihnen das unangenehm?“
„Nein, nein“, sagte Inga schnell, froh über diese Wendung. Sie hatte ständig daran gedacht, sich zigmal vorgestellt, wie es wäre, wenn sie mit der schwarzen Nachbarin im Garten säße, und ihr Mann käme überraschend nach Hause.
Sie hatte sich bei diesem Gedanken geschüttelt, und ein kalter Schauer war ihr den Rücken runter gelaufen. Trotzdem hatte sie sich entschlossen; es musste einmal sein. Sie wollte diese Frau wiedersehen; sie wollte sie sprechen, sich mit ihr unterhalten. In ihren Gedanken bezeichnete sie diese einsame schwarze Frau schon als „Meine Freundin“.
Der Junge und das Mädchen begrüßten sie freundlich, gaben ihr die Hand und gingen dann wortlos raus.
„Ist Ihr Mann nicht da?“
„Nein. Er geht sehr viel spazieren; er muss seine Trauer und seinen Verlust verarbeiten. Er geht immer in den Vorgebirgspark, sitzt bei den Rosenbüschen und träumt.“
„Ohne Sie?“
„Er muss alleine sein; er kann nur alleine damit umgehen.“
Sie tranken starken Kaffee, der Inga bitter schmeckte; sie goss sich mehrfach Milch nach und süßte, was sie sonst nie tat.
„Er ist stark, ich weiß. Er ist so, wie wir ihn in Ruanda trinken. Wir bauen sehr viel Kaffee an; wir sind ein Kaffeeland – der Kaffee hat unser Land reich gemacht. Weit mehr als die Hälfte unserer Landwirtschaft ist Kaffeeanbau.“
„Ich möchte von Ihnen hören; von Ihnen und ihrer Vergangenheit. - Sie wollten mir doch von Ihrer Heimat erzählen.“
Marguerite sah die hübsche junge Frau, die da so unbekümmert saß, lange an.
„Wollen Sie das wirklich? Oder fühlen Sie nur die Pflicht dazu? Sie kennen nur Frieden – und Krieg höchstens aus dem Fernseher.“
„Nein. Ich will mehr von Ihnen wissen. Alles.“
„Warum? Was wollen Sie von mir? Ich habe die Zettel gelesen, die Ihr Mann verteilt. Es geht gegen uns? Ja? Gegen uns - und besonders gegen die Schwarzen. Haben Sie gelesen, was sie an die Hauswand geschmiert haben? Ja? Und da wollen Sie Freundschaft? Ich soll Ihnen das erzählen, was kein Mensch, außer mein Mann, je erfahren wird?“
„Ich will das doch nicht; ich bin doch nicht gegen Sie – und die anderen hier. Aber mein Mann... Er meint es nicht böse, glauben Sie mir. Er ist nur so... so voller Hass gegen alles Fremde. Ich weiß nicht warum... Ich will das doch nicht. Aber, ändern kann ich ihn auch nicht.“
„Haben Sie ihm das schon einmal gesagt?“
„Nein, das traue ich mich nicht; Fred wird so schnell böse.“
„Haben Sie eine Freundin?“
„Nein, - früher mal, aber das ist lange her.“
„Darf ich Inga zu dir sagen? Das macht das Erzählen einfacher. Du bist mir dann nicht so fremd. In meinem Land kennen wir den Unterschied nicht.“
„Ja, ja. - Ja, natürlich. - Und ich darf dich Marguerite nennen, ja?“
Marguerite nickte leicht und sah Inga nachdenklich an. Sie hatte zu viel erlebt und ihre Leichtgläubigkeit teuer bezahlt. Aber sie war, wie alle Menschen ihres Volkes, gerne zu einer Freundschaft bereit; einer Freundschaft, in der man gab und nie etwas erbat.
„Vielleicht können wir wirklich Freundinnen werden – obschon...“, sagte sie leise, und gab Inga die Hand.
„Ja, das ist gut“, sagte Inga, und drückte die schmale, kühle Hand sehr fest.

Marguerite erzählte langsam und bedächtig, als müsse sie jedes Wort prüfen, ob es Schaden anrichten könnte. Sie beschrieb ihre Heimat, sah dabei verträumt aus dem schmutzigen Fenster, in den blassblauen Sommerhimmel.
„Wir lieben unsere Heimat – Jean wohl noch mehr als ich. Jean ist ein Stück von seinem Leben genommen worden, als wir aus Ruanda weg mussten. Seine Stadt, die Kultur, das Land, die Menschen – er liebte alles. Er mochte den Wind, der über unser Hochland zieht, wanderte stundenlang über die sanften Hügel. Er trank die tausend Gerüche aus den Wäldern und den hohen Bergen, die der Wind immerfort mit sich trägt. Es sind heilige Berge; wir finden dort unseren Trost; die Seelen unserer Vorfahren leben dort.“
Sie lachte freudlos auf. „Wir sind Katholiken, aber wir haben den Glauben unserer Väter und Mütter nie vergessen; er ist in unserer Seele verankert.“
Inga schwieg, und sie dachte an ihren Glauben, der keiner war. Sie hatte nie geglaubt, und sie fühlte eine kleine Traurigkeit, weil sie wusste, dass sie diesen Trost nie erleben würde.
„Jean liebte seinen Beruf an der Universität. Er lehrte dort seit Jahren Deutsch, das er als alte Kultursprache verehrt. Jeans Eltern waren reich; ihnen gehörte eine große Kaffeeplantage. Jean durfte in Deutschland, in Köln, Germanistik studieren.“
„Wie ist euer Land? Ist es wild? Ist es so, wie man Afrika im Fernsehen zeigt? Mit Urwald, tropischem Klima, vielen wilden Tieren, – mit Affen, Elefanten, und so?“
Marguerite lachte laut auf. „Ja, so sehen viele Menschen Afrika – nur so. Afrika ist eben Afrika - fertig. Nein, das ist es eben nicht; wir leben auf einem riesigen Hochland, auf dem Kaffee angebaut wird, auf dem sich steile Vulkanberge erheben, und wo sich wunderbare, riesige Savannen ausdehnen. "Land der 1000 Hügel" und "Land des ewigen Frühlings" nennen sie unser Land. Unser Klima ist mild - wegen der Höhe. Und wir haben auch schöne Städte. Butare, die Stadt, in der wir geboren sind, war wunderbar. Unser Land war ein Paradies. Menschen – Hutus - haben dieses Paradies zerstört.“
„Ich weiß. Der Kampf zwischen Hutu und Tutsi, das meinst du?“
„Ja, das meine ich; aber du weißt nichts, nicht wirklich! Entschuldige!“
„Was ist euch passiert? Warum musstet ihr fliehen?“
Die dunklen Augen von Marguerite wurden noch eine Nuance schwärzer. Sie starrte wieder zum Fenster und schwieg lange. Inga wartete geduldig, wagte nicht, diese Starre und Stille zu durchbrechen.
„Es war an einem Freitag“, sagte Marguerite plötzlich mit einer rauen Stimme. „Am späten Nachmittag, Jean war noch in der Universität; wir bangten um ihn, warteten voller Angst auf seine Rückkehr.“
Sie musste wieder eine Paus einlegen, das Atmen fiel ihr schwer; Inga sah ihr in das harte Gesicht. Ein Lachen konnte sie sich in diesem versteinerten Gesicht einfach nicht mehr vorstellen. Marguerite drehte ihre halbvolle Tasse langsam im Kreis und seufzte; sie hatte es noch nie ausgesprochen, alles das noch nie in Worte gekleidet.
„Wir, das waren meine Eltern, meine zwei jüngeren Schwestern Marie und Paola, und Jeans Eltern. Marie war erst zwölf und Paola sechzehn. Schon seit der Nacht hörten wir aus der Stadt Schießen und Knallen. Sie waren in der Stadt, die Hutus. Bisher waren wir verschont geblieben, aber es war abzusehen gewesen, dass sie auch zu uns, in den Süden des Landes, kommen würden. Wir wussten von ihren Gräueltaten, jeder wusste es. Jean ist trotzdem zur Universität gegangen; er könne doch nicht einfach weg bleiben, hat er gesagt.
Wir saßen im Garten. Jeans kleinem Blumengarten, den er liebte und mit viel Mühen pflegte. Den Blumengarten hat er sich in Deutschland abgeschaut. Wir warteten auf Jean, wollten nicht ohne ihn beraten, ob wir fliehen sollten.“
„Und?“
„Wir haben zu spät begonnen mit dem Nachdenken – viel zu spät. Ich war im Haus, holte frisches Wasser, als sie plötzlich da waren. Ich sah gerade durch das Fenster, als sie durch unser Tor stürmten. Es waren mehr als zwanzig Hutus; völlig nackt, nur mit Speeren und riesigen Messern bewaffnet.“
Marguerite weinte leise, ihre Schultern zuckten, und ihre Füße scharrten unruhig, unkontrolliert auf dem Boden. Sie machte eine lange Pause, bevor sie leise weiter sprach.
„Sie sagten nichts, fragten nichts. Sie zertrampelten Jeans Blumen, dann schlug einer meiner Mutter den Kopf ab - einfach so; als wäre sie eine Puppe; andere töteten meinen Vater und Jeans Eltern. Ganz zum Schluss nahmen sie sich meine kleinen Schwestern. Sie mussten lange leiden, bevor man ihnen auch den Kopf abschlug.“
„Mein Gott! Das ist doch nicht wahr!“
„So habe ich auch gedacht, damals – und noch heute denke ich das oft. Ich stand wie versteinert; ich musste alles mit ansehen; ich konnte nicht wegsehen; ich konnte nicht weglaufen – ich war festgewachsen – ich war ein Stein! Dann liefen sie einfach weg. Sie liefen weg, – sie kamen nicht ins Haus. Ich habe da gestanden, bis Jean kam, dann bin ich umgefallen.“
„Oh, mein Gott! Marguerite! Ich wusste nicht...“
„Nein, wer weiß schon. Wer kann das fühlen, was in einem Menschen passiert, der das sehen muss. Sie haben es mit einer Million Menschen so gemacht. Der Rest, zwei Millionen, zu dem wir gehören, ist geflohen.“
„Wie seid ihr da raus gekommen?“
„Ich wollte nicht gehen; ich wollte trauern und sterben. Aber Jean hat mich gezwungen. Wir haben nur unser erspartes Geld mitgenommen, sonst nichts. Jean hat geweint, als er seine Eltern noch einmal gestreichelt hat; ich konnte sie nicht anfassen. Unsere Toten haben wir da liegen lassen, wo sie lagen, wir konnten sie nicht beerdigen.
Wir sind in der Nacht losgegangen. Jean kannte die Wildnis, die Savanne, die Wälder. Wir haben in den Plantagen geschlafen, sind irgendwann über die Grenze nach Burundi gekommen. Aber wir mussten weiter; in Burundi tobte der selbe Bürgerkrieg wie bei uns.
Wir waren nirgends sicher, haben uns am Tage versteckt, liefen nur in der Nacht; wir sind durch Seen geschwommen, haben auf Bäumen übernachtet, wir haben Früchte aus dem Wald gegessen oder die Bauern bestohlen – Hutus, weißt du?“
Marguerite trocknete ihre Tränen; sie hatte es überstanden; sie hatte in wenigen Worten das erzählt, was ihre Nächte anfüllte, ihre Träume zu Albträumen machte.
„Immer nach Osten“, hat Jean gesagt. „Wenn ich sterbe, lauf immer zur aufgehenden Sonne. Im Osten ist Tansania. Da bist du sicher.“
„Wie lange wart ihr unterwegs?“
„Vier Wochen glaube ich – ungefähr. In Bugene haben wir ein kleines Flugzeug gechartert und sind nach Zaire geflogen. Jean hatte nur ein Ziel: Deutschland!
Er wollte unbedingt nach Köln. „Da habe ich Freunde, da sind wir willkommen“, hat Jean gesagt. Und darum haben wir nichts anderes gedacht, als: Wir müssen nach Deutschland!
Wir sind mit der nächsten Maschine nach Frankfurt geflogen, - mit unserem letzten Geld - und haben Asyl beantragt. Dann erst konnten wir trauern, dann erst kamen die Bilder; dann erst, in den schlaflosen Nächten, haben wir unsere Familien betrauert und für sie gebetet. Wir haben nur geweint, in der ersten Nacht im Asylantenheim – da haben wir zum ersten Mal unseren Verlust begriffen.“
Inga stand langsam auf, lehnte sich an die Frau, die jetzt so ruhig da saß, als erzähle sie aus dem Schulalltag ihrer Kinder.
„Wir haben zwei Jahre gebraucht, bis wir nach Köln durften; wir hätten nicht kommen sollen. Es gab keine Freunde mehr; sie hatten sich in Luft aufgelöst. Sie waren die Freunde eines Kommilitonen gewesen; einen Asylanten kannten sie nicht; einen Asylanten als Freund? Nein, das war ihnen nicht möglich. Jean hat damals nichts mehr verstanden.“
„Wo habt ihr denn gewohnt?“
„In einem Lager, einem üblen Barackenlager in Köln-Chorweiler; es wird jetzt abgerissen, die Bewohner auf leerstehende Häuser verteilt.“
„Könnt ihr zurück?“
„Nein! Nein! Sie töten die heimkehrenden; sie haben unsere Häuser besetzt und unsere Bücher verbrannt. Wie kann ich das Surija und Laurien antun? Sag es mir!“
Inga schwieg; sie ahnte, in welchem verzweifelten Konflikt sich ihre Freundin befand.
„Wann hast du dein Lachen wiedergefunden? Wann hast du wieder richtig glücklich lachen können? Dein Lachen ist so schön; es war das Erste, was mir an dir auffiel.“
„Nach einem Jahr? Oder war es länger? Irgendwann, als ich meine Zwillinge im Arm gehalten habe, da habe ich bewusst gelacht. Ja, es muss nach einem Jahr gewesen sein.“
Ingas Hand strich leicht über die perlendurchsetzten Haare von Marguerite und dabei weinte sie.

Die Schularbeiten waren schnell fertig, Mama war spazieren gegangen, Papa war noch nicht da, der Nachmittag ewig lang, die Sonne schien herrlich, alle Nachbarskinder waren wie vom Erdboden verschluckt. Nachdenklich saß Maya auf dem kleinen Rad, das sie zur Einschulung bekommen hatte.
Dann fuhr sie los. Sie fuhr immer auf dem Bürgersteig, vorbei am Hotel bis zur Straßeneinmündung in die Hauptstraße. Sie wendete, trödelte beim ziellosen Anfahren, stoppte noch einmal, schaute sehnsüchtig zum Hotel. Der warme Wind spielte mit ihren langen blonden Haaren; sie strich sie ärgerlich aus dem Gesicht.
Alle Häuser in der Straße lagen still, wie verlassen, und kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Es war Freitag, und viele Männer hatten früher Feierabend gemacht; die Freibäder und Hallenbäder waren überfüllt.
„Eigentlich ist es doof, dass ich nicht zu Surija und Laurien darf“, dachte sie.
„Aber wenn sie zu mir kommen, dann ist das bestimmt in Ordnung. Das hat Papa doch nicht verboten – oder doch?“
Sie dachte an ihren Papa, war mit ihren Gedanken weit weg, als sie das große Hotelportal passierte. Genau in diesem Augenblick flog ein schwarzer Schatten aus der Tür, genau auf sie zu, rauschte an ihrem Gesicht vorbei.
Maya stieß einen hellen Schrei aus, schwankte und stürzte mit dem Rad vom Bürgersteig, fiel mit dem Kopf auf die Bordsteinkante. Sie schrie weiter, auch als Laurien sie anfasste und tröstend ihren Arm streichelte. Er schaute schuldbewusst auf die Kopfwunde, aus der ein dünner Blutfaden lief - er war wieder einmal zu wild gewesen.
„Aber ich habe sie doch nicht berührt“, dachte er verzweifelt
„Maya! Kannst du aufstehen?“
Maya schrie weiter, sprang auf, rannte wie von Sinnen schreiend los. Sie erreicht genau in dem Augenblick ihre Haustür, in dem ihr Vater den Motor abstellte.
„Maya! Was ist passiert? Wie siehst du aus! Du blutest ja. Wo ist dein Rad? Hat dir einer was getan?“
„Laurien war das, Papa“, schluchzte sie und lehnte den schmerzenden Kopf an seine Hose.
„Dieser Negerjunge? Wo ist dein Rad?“
„Da drüben – bei Laurien.“
„Der Neger hat dein Rad?“
Maya nickte nur und weinte lauter als zuvor.
„Jetzt reicht´s! Komm rein, mein Schatz, Papa ruft einen Arzt.“
Er rief aber zuerst die Polizei an, schilderte den Vorfall und zeigte die „Negerfamilie im ehemaligen Hotel“ wegen Raub und schwerer Körperverletzung an. Dann rief er seinen Hausarzt an, machte ein Foto mit der Digitalkamera von der Kopfwunde und wusch Maya das Blut aus dem Gesicht.
Der Polizeiwagen fuhr mit Blaulicht und Sirene vor dem Haus der Asylanten vor. Da konnte man dann allerdings feststellen, dass sich doch nicht alle Menschen in den Bädern sonnten; innerhalb weniger Augenblicke war die Straße vor dem Asylantenheim durch Gaffer verstopft.
„Jetzt packen sie sich einen von denen!“
„Ich hab´s ja gesagt! Das konnte ja nicht lange gut gehen!“
„Eine Schande für unsere ruhige Wohngegend. Verkaufen Sie jetzt mal Ihr Haus. Das will kein Mensch mehr haben. Nachbarn von Mördern und Dealern!“
Die Kommentare und Vermutungen mutierten zu Gerüchten. Die Worte Dealer, Mörder, Totschläger und Kinderschänder waren darin häufig vorkommende Bezeichnungen für den mutmaßlichen Täter.
Der Täter, Laurien, stand mit seiner Schwester Surija im Empfangsraum, klammerte sich an Mayas Rad; er starrte ängstlich auf die zwei Polizisten, die ihn ausfragten. Sie notierten sich Lauriens Namen, schrieben auch Surijas als Zeugin auf und protokollierten die Aussagen.
Schuldbewusst schilderte Laurien den Unfall, den Maya durch seine Rennerei erlitten hatte und warum er das Rad ins Haus holen musste..
„Du wolltest es stehlen. Gib´s ruhig zu“, sagte der jüngere Polizist.
„Maya ist doch unsere Freundin!“, rief Surija. „Laurien konnte das Rad doch nicht auf der Straße liegen lassen.“
Das fanden die Polizisten zwar auch, blieben aber skeptisch.
„Gut. Dann gib mir das Rad, mein Junge. Wir bringen´s dem Mädchen zurück. Vielleicht ist die Sache damit erledigt.“
Die zwei Polizisten, die ein Kinderrad quer über die Straße trugen und bei Hausers klingelten, veränderten die Inhalte der Gerüchte; jetzt überwogen Raub und Diebstahl.
„Hausers Rad! Ausgerechnet von Hausers haben sie´s geklaut! Na, der wird einen Aufstand machen.“

Fred Hauser schilderte den aufmerksam lauschenden Polizisten den Vorfall. Brutal hatte die „Negerbrut“, seine kleine Maya zusammengeschlagen – als Beweis konnte er die „schreckliche Kopfwunde“ auf dem kleinen Bildschirm der Kamera vergrößert vorweisen. „Der Arztbericht kommt noch.“ Anschließend hatten sie seiner halb bewusstlosen Maya das Rad entwendet und weggeschleppt.
Auch das wurde protokolliert und als Anzeige eingetragen; Fred Hauser unterschrieb die Anzeige und bekam einen Durchschlag des Formblattes.

Als Inga aus dem Asylantenheim kam, war der ganze Spuk längst vorbei. Die Straße lag wieder menschenleer im Sonnenschein. Inga war mächtig aufgewühlt. Marguerites Schilderung hatte sie tief getroffen und aufgewühlt; sie hatte noch nie wegen eines fremden Menschen geweint. Marguerite war ihre Freundin geworden, das machte sie stolz und glücklich.
Aber sie war in Nöten; ihr schlechtes Gewissen verursachte ihr Übelkeit, denn sie hatte einfach die Zeit vergessen. Fred musste längst zu Hause sein, wartete auf sein Essen und würde sie mit Fragen löchern.
Es wurde schlimm; Fred schäumte vor Wut. Sie stand zitternd, wie ein abzustrafendes Schulmädchen, vor ihm, rang fassungslos die Hände.
„Du verletzt deine Aufsichtspflicht! Wo warst du? Während deine Tochter von den Negern halbtot geschlagen wird, treibst du dich irgendwo herum.“
Sie wollte ins Kinderzimmer, aber Fred ergriff mit harter Hand ihren Oberarm – und ließ ihn nicht mehr los.
„Bleib hier! Erst hörst du dir an, was hier los war, während du dich bei irgendwelchen Hausfrauen quatschend herumgetrieben hast!“
Sie musste sich den Vorfall mit allen Einzelheiten anhören, musste das Bild betrachten, musste sich die Durchschrift der Anzeige durchlesen – dann durfte sie endlich, völlig zerschlagen und mit einem dumpfen Schmerz im Kopf, ins Kinderzimmer gehen.
Der Arzt hatte Bettruhe verordnet, weil eine leichte Gehirnerschütterung nicht auszuschließen sei.
„Mein armer Schatz! Was ist passiert? Stimmt das, was Papa mir gesagt hat?“
Da Maya nicht wusste, was ihr Papa gesagt hatte, schwieg sie und weinte lieber ein bisschen.
„Sei ganz ruhig, mein Liebling. Du brauchst nicht zu weinen. Bitte erzähl mir alles.“
Maya erzählte stockend, schluchzte ab und zu. Sie beschrieb ihre Radfahrt, den schwarzen Schatten, der sie erschreckt hatte, den Sturz und den „tollen“ Schmerz am Kopf. Sie schloss mit der Bemerkung: „Aber der Laurien hat das nicht extra gemacht. Die dürfen den nicht ins Gefängnis stecken. Papa will ihn ins Gefängnis bringen, hat er gesagt. Und Papa hat gesagt, dass man den Laurien und alle Schwarzen tot schlagen sollte.“
„Ist gut, mein Schatz. Ist gut. Papa hat das nicht so gemeint. Er hat nur Angst um dich gehabt. Schlaf jetzt. Morgen ist alles wieder gut.“
Sie blieb noch einen Augenblick still sitzen, dachte nach, sortierte ihre Gedanken und fragte sich zum Schluss, warum sie so eine tierische Angst vor Fred hatte.

„Fred, ich muss mit dir sprechen.“
„Das tust du doch immer; warum kündigst du das extra an?“
„Damit du mir ganz bestimmt zuhörst. Du nimmst sofort die Anzeige zurück! Und wenn ich sofort sage, dann heißt das sofort! Du setzt dich ins Auto und fährst zur Polizei. Die ganze Geschichte, die du erzählt hast, ist gelogen – von vorne bis hinten erfunden! Weißt du überhaupt, was du da anrichtest?“
Fred stand langsam auf, ging auf Inga zu, betrachtete sie von Kopf bis Fuß, als sei sie ein seltenes Insekt, das er anschließend beschreiben müsste.
„Spinne ich? Bist du´s, oder ist das dein Geist, Inga? Du musst nicht mehr normal sein, wenn du das ernst meinst, was du gerade gesagt hast. Was ich gesagt habe, stimmt. Maya hat es so beschrieben.“
„Du lügst! Maya hat das nie gesagt! Es sind ihre Freunde, es sind kleine Kinder, die du hier als Verbrecher abstempelst – nur weil du fremde Menschen hasst.“
„Es reicht, Inga! Geh in die Küche, mach deine Arbeit, oder sonst was. Lass mich mit diesem Scheiß in Ruhe! Die Neger sind Verbrecher, und die kriegen genau das, was sie brauchen. Ich! Ich, liebe Inga, ich bin dafür da, euch zu beschützen! Du versagst ja dabei rundherum. Ich muss mein Kind beschützen. Und genau das tue ich, nichts anderes.“
„Ich habe Angst! Du bringst uns nur Unglück mit deinem Hass! Was hast du nur, Fred?“
Inga weinte leise, als sie raus ging, und sie schwor sich, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen.
Als sie im Flur stand, bemerkte sie, dass sie den Durchschlag der Anzeige noch in der Hand hatte. Sie wusste plötzlich, was sie tun musste.

Der Polizist am Pult der Polizeistation war Inga bekannt. Er wohnte nur zwei Straßen weiter, und sie grüßten sich mit Namen, wenn sie sich begegneten.
„Ich möchte die Anzeige zurücknehmen, die mein Mann heute gemacht hat, Herr Blum.“
„Liebe Frau Hauser, das kann Ihr Mann nur selber machen. Das geht nicht so einfach, wie Sie sich das denken. Ich habe selber die Anzeige aufgenommen.“
Inga seufzte, und dann erzählte sie von dem Irrtum, der durch die Schilderung ihrer Tochter entstanden war. Sie dichtete ihrem Mann eine böse Migräne an, die es ihm unmöglich machte, selber zu kommen.
Herr Blum sah sie lange an, kratzte sich am Hinterkopf, schob die Schirmmütze in den Nacken und lächelte.
„Machen kann man viel. - Ich glaube, ich habe alles verstanden. Ich habe auch eine Einladung zu dieser Protestversammlung bekommen. Gut. Es muss aber unter uns beiden bleiben – verstanden? Ich ziehe die Anzeige aus dem Dienstlauf raus und lege sie in meinen Spind. Sollte Ihr Mann allerdings nachfragen, dann habe ich das Ding einfach vergessen. Ich muss es dann aber laufen lassen. Einverstanden?“

Der große Saal in der Alten Post wirkte leer; kaum dreißig Frauen und Männer waren dem Aufruf gefolgt. Fred saß an der Stirnseite des Saales alleine an einem Tisch, mit dem Gesicht zu den Anwesenden. Vor ihm stapelten sich zwei Haufen Papier. Er zählte die Leute, die sich an den mehr als dreißig Tischen verloren.
An der gegenüberliegenden Wand erkannte er sechs junge Burschen in Springerstiefeln und Bomberjacken. Ihre Köpfe waren kahlgeschoren und ihre harten Gesichter bartlos. Ihre unsteten Augen sicherten ständig zur Tür, beobachteten jeden Eintretenden.
Irgendwie ließ das Freds Stimmung besser werden; er wurde ernst genommen. Nicht von allen Leuten im Viertel, aber aufgeklärte, wissende Leute hatten den Ernst der Lage erkannt.
Fred eröffnete die Versammlung, begrüßte die Anwesenden, beschimpfte die Weggebliebenen, denen das Wohl ihrer Kinder egal war, und schilderte ausführlich, was sich im „Weißen Schwan“ alles getan habe.
Er beschrieb, gut vorbereitet, was im Zusammenhang mit Asylanten in Köln und anderen Städten geschehen war; er führte Kriminalstatistiken an, erläuterte haarklein den letzten Fall aus der Stadtmitte von Köln, bei dem ein schwarzer Dealer Schulkindern Drogen verkauft hatte.
„Das droht uns hier auch, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Stellen Sie sich mal vor, was das bedeutet, wenn so ein Dealer an der Grundschule auftaucht. Hier ist nicht Afrika! Hier leben friedliche, zivilisierte Menschen!“
Der Beifall war schwach, man hörte ihn kaum. Ein Mann rief dazwischen: „Nicht alle Schwarzen sind Dealer!“ und bekam auch etwas Beifall.
Nur die jungen Männer an der Wand beklatschten Freds Worte heftig, riefen: „Genau!“ und „So ist es!“

„Wir können doch in unserem Garten spielen, Mama. Bitte! – Oder in meinem Zimmer?“
Inga hatte ausnahmsweise erlaubt, dass Maya bis neun Uhr draußen spielen durfte; es war Wochenende, herrliches Sommerwetter. Jetzt stand Maya mit Surija vor der Haustür und sah sie mit ihrem Bettelblick an.
„Von mir aus gerne, Maya. Aber du weißt ja, dass Papa es nicht erlaubt. Spielt draußen, es ist noch so schön warm, und da könnt ihr wohl die paar Schritte bis zum Spielplatz gehen.“
Sie trabten los und hielten sich dabei an den Händen. Mayas Kopfverletzung war mit einem kleinen Pflaster verdeckt, das in den langen blonden Haaren nicht zu sehen war. Sie hatte mit Surija nicht mehr über den Vorfall gesprochen; sie mussten wichtigere Dinge besprechen; es gibt so viele Dinge, die zwei kleine Mädchen beschäftigen.
Der Spielplatz grenzte an den Vorgebirgspark und war wirklich nur wenige Minuten entfernt. Sie waren alleine und besetzten sofort die beiden begehrten Schaukeln. Sie pendelten, schaukelten leicht, und hielten sich dabei an den Händen fest.
„Ich habe nächste Woche Geburtstag. Ich wünsche mir so sehr eine Katze – eine schwarze mit ganz weichem Fell.“
„Kriegst du eine?“
„Nein. Mama und Papa wollen nicht. - Ich weiß nicht, was sie mir schenken.“
„Warum soll die Katze schwarz sein? Weiße sind viel schöner.“
„Nein, weiße Katzen sind doof. Schwarz soll sie sein – so schwarz wie du. Du bist auch so schön; so schön soll meine Katze sein.“
„Dann bin ich eben deine schwarze Katze. Miau. Miau“, machte Surija, und ihr kleines Miauen war so zart, so leise, als käme es von einer echten Katze.
„Ja, prima! Du bist ab sofort meine kleine schwarze Katze. Und du bekommst den Namen, den ich mir schon für meine Katze ausgedacht hatte. Moni! Moni ruf ich dich immer, wenn wir alleine sind – und weil ich dich sehr lieb habe.“
Sie schaukelten, hielten sich aneinander fest. Ab und zu hörte man ein dünnes „Miau, Miau“, und eine leise, streichelnde Stimme.

Den Höhepunkt seiner Anklage führte Fred etwa gegen zehn Uhr herbei. Er zog mit einer großen Geste das Foto, das die Kopfwunde seiner „verprügelten“ Tochter zeigte, aus der Tasche, stand auf und blickte sich im Saal um. Er hatte es auf seinem PC andrucken lassen; ein ganzer Stapel mit dem Bild der blutenden Wunde lag auf seinem Tisch.
„Sie glauben, das könne uns nicht passieren? Dann will ich Ihnen erzählen, was in dieser Woche, gestern erst, hier passiert ist.“
Er schilderte in allen Einzelheiten den brutalen Überfall durch die „Negerbrut“, beschrieb den Polizeieinsatz und den Befund des herbeigerufenen Arztes. Dann hielt er theatralisch das Foto hoch.
„Hier! Sehen Sie sich das an. Das ist die Wunde am Kopf meiner Tochter. Ich habe eine Kopie für Sie.“ Dann verteilte er die Blätter an die Leute, die zu seinem Tisch kamen; der Stapel Papier wurde nur unmerklich kleiner.
„Und deshalb, damit das Ihren Kindern nicht auch passiert, müssen wir etwas unternehmen. Ich habe eine Petition vorbereitet. Bitte holen Sie sich ein Exemplar, lesen Sie es durch und unterschreiben Sie Ihr Blatt. Dann geben Sie es in der Stadtverwaltung ab.“
Er zeigte auf den zweiten Stapel Papier, der vor ihm lag. Er hatte sich so bemüht, hatte zigmal umformuliert und dann hundert Exemplare gedruckt. Nun wurden genau zehn Papiere von seinem Stapel geholt. Er war maßlos enttäuscht.
Er hatte in der letzten Nacht stundenlang seine Reden formuliert, hatte sich einen tobenden Saal erdacht. Nur der Wirt, der nicht den erhofften Umsatz machte, war ähnlich enttäuscht wie er.
Als ein Ehepaar aufstand und den Saal verlassen wollte, reichte es Fred. Er lief rot an und verlor die Beherrschung.
„Ihr seid wohl Negerfreunde, was? Wenn es eure Kinder erwischt, dann beschwert euch nicht. Ich habe früh genug gewarnt.“
Der Mann schüttelte wortlos den Kopf; seine Frau sah Fred wütend an, und dann gingen sie raus.
„Negerfreunde!“, rief einer der jungen Burschen ihnen nach.

Die Tür hatte sich gerade hinter den beiden geschlossen, als sie sich schon wieder öffnete, langsam aber, wie in Zeitlupe.
Alle Augen richteten sich auf den Mann, der da unschlüssig in der Tür stehen blieb und die Anwesenden musterte. Dann machte der Mann einen Schritt nach vorne, gerade so weit, dass die jungen Burschen in seinem Rücken standen.
„Ich bin Jean Musangamfura. Ich wohne im alten Hotel. Ich habe die Einladung gelesen, und möchte Ihnen etwas von mir und meiner Familie erzählen. Ich möchte Ihnen erzählen, wie traurig wir sind, dass wir hier sein müssen, dass wir nicht zurück können in unsere Heimat, die wir lieben. Ich...“
Weiter kam er nicht. Ein heftiger Stoß ließ ihn in den Saal stolpern. Fred Hauser sprang auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Saaltür.
„Raus! Raus! Für Neger ist der Saal heute geschlossen!“
Jean Musangamfura fühlte harte Fäuste, die ihn packten und zur Tür schoben. Im Saal war es totenstill geworden, man hörte den heftigen Atem von Fred, der den Arm immer noch ausgestreckt hielt.
„Nicht schlagen! Das haben wir nicht nötig, Jungs!“, rief er, aber die Tür war schon geschlossen.

Es dunkelte bereits, als Jean Musangamfura die Straße erreichte. Er war enttäuscht und fragte sich, ob er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte vielleicht das Gespräch mit diesem Mann suchen sollen, der sein Nachbar war.
Jean war aufgewühlt, fühlte noch den leichten Schmerz, den der harte Stoß in seinem Rücken verursacht hatte. Er konnte jetzt nicht nach Hause gehen; er musste nachdenken, alleine sein.
Er ging langsam die kurze Strecke zum Vorgebirgspark. Den Weg nahm er oft; er war glücklich, wenn er das Lachen der Kinder vom Spielplatz herüber hörte; er war froh, wenn er alleine auf einer Bank sitzen und nachdenken konnte.
Er saß oft auf der Bank vor dem Rosenbusch, dachte sich in seine Heimat zurück, schloss die Augen und träumte. Dann sah er die vom Wind bewegten Kaffeepflanzen, sprach mit seinen Blumen, hörte die Geräusche der wilden Tiere, schmeckte die schwere Luft und fühlte die Berge seiner Ahnen.
Ziellos lief er durch den Park, dachte über die Zukunft seiner Familie nach. Sein Heimweh war übermächtig, schmerzhaft wie noch nie; hier war seine Heimat nicht, das wusste er jetzt. Er ging zurück, suchte den Weg zu seiner Bank am duftenden Rosenbusch.

Surija und Laurien waren noch wach, saßen in ihrem Schlafzimmer, eng an ihre Mutter geschmiegt. Sie warteten auf Jean, der jetzt, im Sommer, oft spät kam. Marguerite sang mit leiser, klagender Stimme das Lied, das die Kaffeepflücker in Ruanda singen, wenn sie traurig sind, den Beistand der Ahnen erbitten. Sie singen das Lied auch, wenn sie den Grund ihrer Traurigkeit nicht kennen.
Surija dachte an ihre Freundin Maya und miaute so leise, dass Marguerites Lied es übertönte.

Fred stand vor seinem Bett und zog sich fluchend aus. Er hatte einige Glas Bier getrunken, und das schwemmte seinen Ärger ungebremst hoch.
„Wie kann ich erwarten, dass die Leute aus der Nachbarschaft zu dieser Versammlung kommen, wenn nicht einmal meine Frau es für nötig hält? Ihr seid alle sentimentale Spinner! Bis sie euch aus euren Häusern vertreiben!“
Er warf sich ins Bett und grummelte noch einige Zeit vor sich hin.

Inga lag noch lange wach; sie hörte Fred schnarchen und grunzen. Sie dachte an Marguerite und ihre Kinder. Sie fragte sich, wie ihre Familie das durchgestanden hätte. „Schlaf gut, Marguerite, meine Freundin!“, murmelte sie, und nahm sich für den nächsten Tag einige Grundsatzentscheidungen vor.

Maya schlief unruhig; sie träumte von einer schwarzen Katze, die die Augen von Surija hatte und ständig weinte; sie ließ sich nicht trösten.

Sie standen breitbeinig vor seiner Bank und grinsten ihn an. Es waren die sechs Burschen, die ihn aus dem Saal geworfen hatten. Er ging an ihnen vorbei, als sehe er sie nicht, und wusste, dass sie ihn haben wollten.
Er ging noch drei Schritte, dann rannte er los. Er lief wie damals, als sie auf der Flucht waren, als sie Butare hinter sich gelassen hatten und das weite Grasland vor ihnen lag.
Aber er war nicht schnell genug; er war noch nie sehr schnell gewesen. Er hörte sie näher kommen und begriff, dass er es nicht schaffen würde bis zur Straße; es lähmte ihn, und er spürte die Angst hochsteigen.
Der erste Schlag traf ihn über dem rechten Ohr, und er stürzte auf die Knie. Sie schwenkten kurze, runde Hölzer, klatschten sich damit in die Hände. Sie warteten. Sie sprachen kein Wort. Er lag auf den Knien und sah nur ihre schweren Stiefel dicht vor seinen Augen. Dann, ohne Ankündigung, schlugen sie zu. Die Schläge waren gezielt, trafen ihn da, wo es weh tat.
Er fiel auf den Bauch, schmeckte die Asche des Parkweges; dann traten sie ihn mit ihren Stiefeln in die Seiten.
Bevor er das Bewusstsein verlor, sah er die Augen seines toten Vaters, die ihn damals so unendlich traurig angestarrt hatten, als er sich von ihm verabschiedet; sie waren das Letzte, was sein schwindendes Bewusstsein ihm zeigte.
Er wurde zusammengeschlagen wie ein wildes Tier, in diesem friedlichen Land, in diesem nach Rosen duftenden Park. Eine zerbrochene Rippe bohrte sich in seine Lunge; aber er würde es überleben. - So stand es später im Polizeibericht.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

das sit schon keine kurzgeschichte mehr, das is fast n roman. wieder ein typischer breimann. mir fällt aber auch nicht ein, wo man kürzen könnte, alles fügt sich logisch ein. liest sich beinahe zu gut für dieses schreckliche thema. es ist furchtbar, daß derartiges immer wieder passiert. ganz lieb grüßt
 

Breimann

Mitglied
Zustimmung

Liebe flammarion,
das war ja auch mein Dilemma bei der Konzeption, der Recherche und Abfassung. Ich habe mir dann gesagt, dass nicht das Internet die Maßstäbe setzen darf; höchstens Regeln, die in der Regel auch gelten sollten. Also kurze Geschichten im Regelfall - aber Ausnahmen müssen möglich sein.

Ja, es ist bedauerlich, dass wir das thematisieren müssen; mir wär es anders bestimmt lieber. Aber es ist das Thema unserer Zeit. Wir, die Autoren, müssen es immer wieder aufgreifen und beschreiben. Nur so wird die tumbe Art der Fremdenhasser deutlich.
Die heutige Zeit liefert uns via Presse und andere Medien immer wieder Berichte mit den Endresultaten des Rassenhasses, wie sie im letzten Absatz der Geschichte stehen. Meistens bleiben wir dabei ohne Gefühl. Uns fehlt der Mensch hinter dem Vorgang. Das wollte ich einfach ändern, emotional anheben, und die Menschen - und um die geht es ja - vorstellen; natürlich auch ihre Schicksale.
Danke flamarion
eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

ich fürchte nur, daß du bei denen, die es lesen, offene türen einrennst und jene, die es lesen sollten, gar nicht erreichst. meine cousine fand "Fackeln im Sturm" auch ganz toll, besonders die clevere ashton. lg
 

Breimann

Mitglied
Das ist Fakt!

Und ich habe es schon immer gewusst, dass man die wahren Adressaten nicht erreicht. Das wusste ich auch bei der Gschichte "Der Schwedentrunk"! Aber, wenn man deshalb nicht mehr schreibt, dann ist es aus, dann haben wir verloren. Dann dürfte kein Pfarrer mehr eine Strafpredigt halten, denn die "Schäfchen", die sich unter seiner Kanzel versammeln, sind ja meist noch die Bravsten (nach Außen).
Wie auch immer; das ist das Elend bei der Sache und es befriedigt nicht wirklich. Kerzen im Fenster sehen aber auch die Killer und Terroristen nicht - trotzdem tun wir´s.
Liebe Grüße
eduard
 
L

leonie

Gast
hallo breimann

nein, deine geschichte ist keinesfalls zu lang. alles was dort steht muss so sein. es liest sich flüssig und rund. auch wenn es die, die es eigentlich angeht nicht lesen, aufgeben darf man nie. auch wenn es schade ist, das es heute immer noch menschen gibt die so denken, so sind auch die anderen da, die dagegen ankämpfen. Ich habe deine geschichte gerne gelesen und empfinde sie stark geschrieben ohne viele schnörkel, sondern so wie es ist.
ganz liebe grüße leonie
 

Breimann

Mitglied
Zustimmung

in allen Punkten, liebe leonie! Ich habe noch nie aufgegeben - noch nie! Und wenn es um Gewalt, um Hass, um Menschenverachtung, um Frauendiskriminierung und, und, und geht, dann verliere ich sogar meine sprichwörtliche Sanftheit.

Ich bin froh, dass es hier zu einer vernünftigen Diskussion über das Thema Fremdenfeindlichkeit kommt. Und das ist ja wohl nicht selbstverständlich!
Liebe Grüße
eduard
 
L

leonie

Gast
hallo eduard

du hast vollkommen recht, aber was ist schon selbstverständlich? alles muss wieder und wieder gesagt und getan werden, und am ende bleibt wenig, aber das wenige ist dann auch schon wieder sehr viel, und darum lohnt es sich immer wieder.
ganz liebe grüße leonie
 

Breimann

Mitglied
Erfolg hat seinen Preis

Nur wenn man am Ball bleibt, gibt es Fortschritte.Es gibt ein gutes Wort, das ich immer im Kopf habe: "Ist ein Gedanke erst einmal gedacht, ist damit die Welt schon veändert; nichts ist mehr wie vorher."
Um wieviel gilt das dann erst, wenn er niedergeschrieben wurde? ich habe fünf zauberhafte, geliebte Enkelkinder. Ihnen und allen Kindern wäre eine gewaltfreie Welt zu wünschen.
Ich habe soeben eine Mail aus Santiago zu dieser Geschichte bekommen. Ein dortiger Professor hat sie in der LL gelesen und war begeistert - oder beeindruckt. Er hat über seinen schweren UN-Einsatz in Afrika geschrieben und die Schicksale der Menschen hautnah erlebt, die ich in meiner Geschichte nur gestreift habe. Diese Zustimmung eines Mannes, der vor Ort die Grausamkeiten erlebt hat, hat mich beeindruckt.
Liebe Grüße
eduard
 

Breimann

Mitglied
Danke

an die vielen LL-Leser, die nicht "schnelle" Geschichten haben wollen, sondern sich die Mühe machten, diese "soziale" Erzählung ganz zu lesen. Die große Zahl der Leser und die Zustimmung zu dieser Erzählung macht Mut.
eduard
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Eduard,

ich bin ein Freund von langen Geschichten (wenn es der Inhalt rechtfertigt) und kann dir versichern, daß deine "Schwarze Katze" keinesfalls zu lang geraten ist. (Höchstens die Geschichte des Hotels könnte man vielleicht etwas kürzen) Ich empfand diese Erzählung eigentlich noch zu kurz. Ich benutze absichtlich den Begriff "Erzählung", denn eine Kurzgeschichte im klassischen Sinne ist es nicht. (Zu viele Personen, ständiger Perspektivwechsel, parallel laufende Handlungen) Aber das ist eigentlich egal. Die Story ist gut erzählt und ihr Anliegen kommt deutlich rüber. Vielleicht zu deutlich? Ich weiß nicht. Die Figuren sind nach meinem Geschmack ein wenig zu weiß bzw. zu schwarz gezeichnet. Die einzige, die Grautöne aufweist, ist Inga. Dagegen scheint mir ihr Gatte einfach nur als Ekel aus der Klischeekiste entstiegen zu sein. Wenn man wenigstens erfahren hätte, warum er so geworden ist. Aber das hätte wiederum den Rahmen gehörig gesprengt. Bei Inga zeichnet sich sogar eine gewisse Entwicklung ab. Doch sie bleibt auf halben Weg stehen. Sie bleibt das dumme Heimchen, das sich von ihrem Alten und ihrer Angst vor ihm nicht zu befreien vermag. Schade.
Aber auch der Professor und seine Frau - ich weiß nicht - zu edel, zu gut, zu wenig aufbegehrend, fast schon zu sympatisch. Versteh mich nicht falsch, aber ich hätte bei dieser Behandlung, die ihnen wiederfährt, durchaus Verständnis für ein zeitweiliges Ausrasten gehabt.
Alles in allem hast Du die Konflikte sehr gut heraus gearbeitet. Als einen besonderen Lichtblick empfand ich die Einwohnerversammlung, denn sie vermittelt den Eindruck, daß es eben nicht nur überwiegend Ausländerfeindlichkeit geben muß. Doch ansonsten fehlen wirklich mutmachende Szenen. Statt dessen wird am Ende der sympatische Afrikaner brutal zuasammengeschlagen. Realität? Leider ja. Aber müssen Autoren sich stets auf das Abbilden von Realitäten beschränken und können sie zumindest in der Phantasie nicht über sie hinaus zu gehen?

Ich weiß nicht, ob ich mich hier überhaupt verständlich genug ausdrücke. Aber mich hat dieser Text sehr bewegt, und ich sage mit Bedauern (was aber keine Kritik ist): "Warum hast Du diesen Stoff nicht zu einem Roman (oder zumindest zu einer Novelle) verarbeitet? Er hätte es verdient.

Gruß Ralph
 

Breimann

Mitglied
Ja, ja!

Es ist dieser schreckliche Zwang des Internets, mit dem ich ständig kämpfe. Ich habe für diese "Erzählung" so viel recherchiert (Caritas, Reporter ohne Grenzen, etc) und dazu persönliche Kontakte mit Tutsi aufgenommen (über meine Kirche). Ich habe mir Bilder des Ruanda. Hochlandes angesehen, habe, die Berichte der UN Flüchtlingskommission abgefragt und mich dann zurück gelehnt. Eigentlich war es hier nicht mehr, als ich für jede andere meiner Kurzgeschichten oder Erzählungen in der Vorbereitung getan habe. Das Fundament muss stimmen.

Was sollte ich tun? Sollte ich eine der schnellen Geschichten daraus machen? Sollte ich die Realität beschreiben, oder eine „Gute-Menschen-gibt-es-überall-Geschichte schreiben?
Warum wurden die Figuren so, wie sie mir vorschwebten? Ich habe im Vorfeld jeder Figur ihr Charakter-Kostüm verpasst, habe sie in weiß, schwarz und grau gemalt. Ja, alle hätten anders aussehen können!
Ja, natürlich hätte ich Freds Vergangenheit aufdecken können, wie sie in meinem Kopf existiert. Sicher hätte ich Inge wachsen lassen könne, sie voll durch- und ausbrechen lassen können. Und meine Tutsi? Sie sind so, fast genau so, wie ich diese Menschen kennen gelernt habe. Sie sind und empfinden anders als wir. Sie sind keine Aufständler, keine dynamischen, zynischen Menschen. Wir, mit ihren Erlebnissen, wären mindesten Zyniker geworden - oder total zerbrochen. Das mag so leicht aussehen, wie ich sie beschreibe, und ich gebe zu, da wäre mehr drin, mehr auch zu hinterleuchten gewesen. Aber ich habe mich so entschieden, weil ich selber bei dem Thema gelitten habe. Mir war dieser Fred, von dessen Wesen ich tatsächlich überzeugt bin - denn ich habe einen solchen "Bekannten" - bewusst schwarz angelegt. Bei Inga, ja, da wäre in meiner Phantasie auch eine große Wandlung möglich gewesen, aber wäre das real? Eine von Natur aus anpasswillige Frau (könnte auch bei einem Mann so sein) wie sie, kann nicht in einer Woche den totalen Schwenk vollziehen; aber sie ist auf dem Weg - so habe ich sie mir gebaut!

Ja, eine Novelle, ein kleiner Roman, das wäre möglich. Kann ich das? Ich weiß es nicht; manchmal fehlt mir der Mut.
Ich bin jedenfalls dankbar und froh über diese Textbesprechung. Sie hat mir gezeigt, mich noch einmal darüber nachdenken lassen, wie gut es ist, dass man Menschen mit seinen Erzählungen erreicht.

PS: Leider bin ich in diesen Tagen ohne PC und kann nur bei einem Freund schnell mal reinsehen in die LL. Darum verzögern sich meine Antworten immer.
Liebe Grüße
eduard
 



 
Oben Unten