Die Sinnlosigkeit

Andre

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Sternenkalte Nacht. Es ist so kalt, daß selbst das Quecksilber im Thermometer den Dienst quittiert und sich nach Süden aufgemacht hat. Es ist so kalt und trocken, daß jeder Schritt und Tritt den Frost laut krachen läßt. Mäntel wärmen nur noch, wenn man sich bewegt. Aber ich liege einfach nur hier - bewegen darf ich mich nicht.

Vollmond bescheint hohe Stratosphärenwolken auf halber Höhe zum Horizont. Die schneehelle Ebene vor mir glänzt darin und läßt mit keiner Bewegung vermuten, daß irgendwo da draußen noch ein anderes Lebewesen dem Frost sein Gesicht hinhält. Dabei bin ich nicht allein. In niedrigen Prismen liegen noch ein Dutzend andere hinter mir, in Säcken leidlich vor der Kälte geschützt. Und vielleicht noch ein oder zwei Idioten da draußen, derentwegen ich hier liege.

L.A.N.G.E.M.A.R.K. oder so ähnlich heißt das Schema, nach dem ich anderen berichten soll, wenn meine Zeit hier vorn abgelaufen ist und ich das tödlich kalte Zweibein übergebe. Dabei weiß ich nicht einmal mehr, wofür diese Abkürzung überhaupt steht. Das wußte auch mein Vorgänger nicht. Wortlos und durchgefroren verließ er das Dreckloch und verzog sich in eines der niedrigen Zelte.
Wir ruinieren uns hier die Gesundheit im Namen des Volkes, nicht aber im eigenen Namen, obwohl wir doch eigentlich auch dazugehören sollten. Wer erfriert ist ein Held, der Rest muß froh sein, wenn irgendwann mal die Krankenkasse einspringt.

Seit ich Staatsbürger in Uniform bin (aber auch in meinem Namen sind wir nicht hier) habe ich bei den Olivgrün-Steingrauen Sadismus, Masochismus, Nihilismus und noch einige andere -ismen kennengelernt, für die ich noch keinen Namen gefunden habe.
Und eben jener verhängnisvollen Mischung, aus der Helden und Mörder gestrickt sind, ist es zu verdanken, das wir uns jetzt hier nacheinander den Tod holen, während irgendwo da draußen ein durchgeknallter Rambofan, der meint, daß seine paar Sterne heller leuchten, als all die vielen da oben über ihm und uns, sich durch das Gebüsch schleicht, um uns zu einer möglichst realen Gefechtsausbildung zu verhelfen.

Ein "Hoch" auf die Bundeswehr! Während Abartige und Planlose anderswo in Heimen untergebracht werden, steckt man sie hier in Uniformen und kaserniert sie irgendwo zwischen Hauptgefreitem und Major. Das obere und untere Ende der Fahnenstange erweist sich mit etwas Glück noch als halbwegs normal, während das Mittelstück sich nach besten Kräften anstrengt, alle Klischees zu erfüllen.

Kasernenwache zu Weihnachten. Wie ein Damoklesschwert hängt dieser Posten über den hier Einsitzenden. Wer übernimmt so was schon freiwillig? Wer vor Wochen noch spottete, daß Kasernen von privaten Schutzleuten bewacht werden, der wünscht es sich klammheimlich. Der BND schmuggelt gerade etwas Plutonium, und wir sollen hier fahruntüchtige Panzerhaubitzen bewachen? Über so etwas ist unser ohnehin halbtauber Oberstabsfeldwebel erhaben. Die Feiertagsdienste werden unfeierlich an die einzelnen Batterien und deren Teileinheiten verteilt. ‚Da, seht selbst!' Gesegnet, wer ein Kampfschweinchen in der TE hat. Für solche Leute gibt es nichts Geileres, als zum Fest der Liebe ihr eigener Weihnachtsbaum zu sein. Grün und mit P1 und Splitterschutzweste behangen. Auf ihre ganz eigene Weise liefern so auch solche Leute ihren Beitrag zum Fest.

Wie spät ist es? Die Verlaufsgeschwindigkeit der Zeit erscheint umgekehrt proportional zur Kälte. Man hat viel Zeit in solchen Nächten. Zeit, um über so vieles nachzudenken. Wie wäre es, wenn da draußen nicht der durchgeknallte Foch, sondern ein echter Gegner, mit scharfen Waffen liegen würde? Wenn die Ebene plötzlich lebendig würde? Leuchtkugeln die Nacht zerreißen würden? Man kommt auf verrückte Gedanken, wenn man in klirrendkalter Nacht in einer MG-Stellung liegt.
Aber sind sie wirklich so verrückt und weit hergeholt, wenn man bedennkt, was man hier ist und wofür man ausgebildet wird?

Befohlene Glückseligkeit. Der lange Gang auf dem unsere 3 Grundausbildungszüge liegen ist mit Tischen und Stühlen vollgestopft. Was zuerst wie Waffenputzen aussieht, entpuppt sich als militärisch straff durchorganisierte Weihnachtsfeier. Statt Rohrputzbürsten liegen Tannenzweige auf den Tischen.
Die Innendienstkranken der letzten Tage haben sich zwar alle Mühe gegeben, aber wenn mehr Grün um die Tische sitz, als darauf liegt, fällt es schwer, in die richtige Stimmung zu kommen. Um die Farce komplett zu machen, fehlt eigentlich nur noch ein Oberst mit langem weißen Bart. Aber so weit geht man bei Preußens dann eben doch nicht. Statt dessen kommt unser neurotischer Hauptmann und Batteriechef vorbei, murmelt etwas und übergibt an den Hauptfeldwebel um wieder in seinem Dienstzimmer verschwinden zu können. Um solcherlei Beisammensein zu verstehen, fehlt ihm, meiner Meinung nach, jenes Quentchen Gefühl, das uns gemeinhin von den Grottenolmen unterscheidet. Mit Beginn des neuen Jahres wird dieser alte, deformierte NVA-Haudegen seine Dienstzeit hier beendet haben und desilusioniert im leeren Privatleben stehen. Möge Mars ihm beistehen.

Hinter den Büschen bei dieser Panzerattrappe hat sich etwas bewegt! Spielt die Kälte meinen Sinnen einen Streich, oder ist dieses hirnlose Rindvieh tatsächlich im Anmarsch? Das einzige Fernglas hat der StUffz, der hemmungslos in seinem Zelt schnarcht. Prima Geräuschtarnung. Wir scheinen hier vorne also bestens ausgerüstet zu sein, für einen Beobachterposten. Die zweite Mulde befindet sich zwar in Ruf- aber eben nicht in Flüsterreichweite. Man kann sich hier also wirklich aufs allerbeste die Zeit vertreiben. Sinnloses Schwatzen wird durch Distanz unterbunden, so daß man nur noch beobachten kann. Was aber macht man in einem Fall, wie diesem? Sinn- und Planlosigkeit scheinen die Mutter der Bundeswehr und ihrer Vorschriften zu sein.

Der Hauptfeldwebel macht einen orientierungslosen Eindruck. Als Bayer im Erzgebirge stationiert zu sein, macht ihm sichtlich wenig Spaß. Und die seltsamen Weihnachtsriten der Eingeborenen scheinen ihn zu irritieren. Aber er verschluckt tapfer seine Angst vor dem komischen Zauber, den die paar hier eingesetzten Einheimischen doch in die Runde bringen. Wie es sich für solche Gemütslagen gehört, versucht er das ein oder andere Befremdliche ins Lächerliche zu ziehen. Besonders der Stollen hat es ihm angetan. Zwei Mitbayern versuchen ein pflichtbewußtes Lächeln, der Rest bleibt hart. Tradition ist Tradition.
Dann gibt es sogar Glühwein, bis zur Unkenntlichkeit verdünnt, und die Zeit zieht sich wieder einmal ewig hin. Der befohlenen Geselligkeit fehlt es etwas an Gemütlichkeit. Wo soll die auch herkommen? Vor mir steht zwar der Lebkuchen, aber hinter mir befindet sich die Tür zur Waffenkammer - Schizophrenie, Made by Volker R.. Ich kann hören, wie unsere beiden Unteroffiziersanwärter darin offenbar Inventur machen. An solch "Feierlichkeiten" sollen sie sich wahrscheinlich gar nicht erst gewöhnen. Es herrscht ein unerwartet unangenehmes Leben in der Armee der Freiwilligen. Zumindest für UA's.

Schon seit einigen Minuten regt sich nichts mehr im Gebüsch. Wenn sich Herr Oberleutnant tatsächlich darin zu befinden belieben, dann dürfte er jetzt festgefroren sein. Aber ich schätze, daß würde ihm sogar gefallen. Immerhin könnte es die unerträgliche hypermilitärische Steifheit des Mannes erklären. Foch ist ein Kampfschwein vor dem Herrn - falls ihm der was sagt. Das Militär ist seine Braut, die sich aber - wahrscheinlich aus Mitleid mit den Rekruten - in einem Jahr von ihm scheiden lassen will. Noch so einer. Wieder einmal ist die Zeit Verbündete des Soldaten.
Er war schon in Somalia dabei, worauf er stolz ist, auch wenn er dort nicht schießen durfte. Ein Kanonier wurde einmal öffentlich gerügt, weil er angesichts des bewegungsvereisten Foch, der über den Appellplatz marschierend eine Batterie abnahm, geäußert haben soll, daß dieser die Hand wohl nicht einmal zum Wixen krumm kriegen würde. Das erscheint auch durchaus richtig, denn für alles andere im Soldatenleben ist die Handhaltung unwichtig. Alkohol wirkt, durch einen Strohhalm eingesaugt, soldsparend schneller und bei einer ordentlichen Vergewaltigung ist die Handhaltung eh nahezu egal, wie uns die Schneeberger Kameraden zeitigten.

Zwei Tage später hing der Spezialdienstplan aus. Nur die Feiertage, Silvester und Neujahr. Natürlich hatten auch die UA's Dienst: der Dumme zu Silvester und der Familienvater zu Weihnachten. Man konnte sie in ihrer Stube über alles bayrische, von Weißwurst bis Hauptfeldwebel fluche hören. Wenigstens konnten sie untereinander tauschen.
Der Rest der Dienste wurde per Losentscheid zugeteilt. Sagte man zumindest. Wenn amn es sich genau betrachtete, sah man, daß unsere Batteriemaskottchen großzügig über die Tage verteilt worden waren.

Die Zeit im Graben nähert sich tatsächlich ihrem Ende. Und das, ohne daß Foch aufgetaucht wäre! Ist das nun Glück oder Pech für uns? Glück, weil nun jemand anderes von unserem Schmalspurrambo überrascht wird, oder Pech, weil wir deswegen sicher noch einmal aus dem Schlaf gerissen werden? Ich bin zu müde und zu kalt, um über diese Frage nachzudenken. Thomas aus dem anderen Graben ist inzwischen jede Deckung - und damit auch allen Schneematsch - vermeidend ins Lager zurückgestelzt, anstatt auf dem Bauch dahin zu gleiten, wie es uns beigebracht wurde.

Ich hatte Glück, mein Name erschien weder auf dieser Liste, noch auf der meiner neuen Teileinheit.

Wenige Minuten später ist die Ablösung da. Er liegt neben mir in der Mulde und starrt gierig auf das MG. Ich verzweifle innerlich. Er ist einer von jenen, denen das alles hier ganz dolle viel Spaß macht; einer, der jeder Verarschung mit Unverständnis widersteht. "Du hast mich nicht nach der Parole gefragt, hast Du mich nicht gehört?" fragt mich das Lobotomieopfer. ‚Doch, du warst ja laut genug beim stillen Gleiten' denke ich bei mir, will mich aber auf keinen endlosen Vortrag über die Anschleichtaktiken von Guerilleros in Burkina Faso einlassen. Also halte ich die Klappe und krame meinen Krempel zusammen. Enttäuschung steht in dem mondlichbeschienenen Gesicht. Er hatte sich das wohl heroischer ausgemalt. "Die Parole?" fragt er mit einem Hoffnungsschimmer. "Ich weiß doch, daß Du sie kennst - wer sonst?" drücke ich durch klappernde Zähne hervor. Meine Frontseite ist auf einmal furchtbar kalt. Bis jetzt hat das bißchen Laub am Boden mich also wider Erwarten doch etwas gewärmt. Steifbeinig mache ich mich auf den Rückweg. "He warte!" ruft(!) er hinter mir her, "Was ist mit L.A.N.G.E.M.A.R.K.?" "Foch war noch nicht da." sage ich und laufe immer stärker fröstelnd ins Lager. Wie aus einer anderen Welt höre ich noch was von "...Deckung...".

Nach den verorneten Weihnachtsferien trat ich meinen Dienst in der neuen Teileinheit an und lernte einen gutmütigen StUffz kennen, der Weihnachten freiwillig den Wachhabenden gemacht hatte, weil er alleinstehend war. Ich fragte ihn, was so losgewesen sei. Ein altes Mütterchen von Gegenüber hätte Plätzchen vorbei gebracht und spät nachts wären zwei stinkbesoffene Offiziere "heimgekehrt".

Foch's routinemäßiger ‚Überraschungsangriff' blieb die ganze Nachtaus. Erst am frühen Morgen, kurz vor dem Aufstehen kam er ins Lager, stolperte über unseren Feuerholzstapel, rollte ab, lud durch und zersiebte unsere Zelte mit seiner Uzi. Danach putzte er den Dreck von seiner schicken Schneetarnung, stauchte unseren Gruppenführer zusammen und ließ sich zum Frühstück in die Offizierskantine fahren, während wir versuchten mit naßkaltem Holz ein Feuerchen zu bauen.

Drei Wochen später wurden wir auf dem Sportplatz einen gottverlassenen tiefverschneiten und wiedereinmal bitterkalten Erzgebirgsnestes vereidigt.
"Wir geloben..."
"Wir geloben..."
"... der Bundesrepublik Deutschland..."
"... der Bundesrepublik Deutschland..."
"... treu zu dienen..."
"... treu zu dienen..." - uns den Arsch abzufrieren, Dreck zu fressen, wann es beliebt und im Ernstfall sicher vor die Hunde zu gehen, wenn wir nicht eher desertieren können.

Manchmal entscheidet nur eine Laune zwischen Stollen und Graben
 

Andre

Mitglied
Der Dreckfuhlerteufel war da...

Ok, ok. Hab die gröbsten Fehler erstmal bereinigt. Gibt's noch mehr?

André
 



 
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