Die Sirene am Strand von Kreta

Die Sirene am Strand von Kreta

Die Sonne stand hoch über der Küste Kretas. Das Meer glitzerte unten wie eine endlose Schale aus flüssigem Silber, und die Hitze flimmerte über den Steinen.
Die Straße nach Sitia schlängelte sich wie ein graues Band an der Küste entlang. Links das tiefe Blau des Meeres, das in der Mittagssonne glitzerte, rechts die sanften Hügel, die nach Sommer und Thymian rochen.
Meine Freundin fuhr, und ich ließ den Blick über das Wasser wandern, bis er an einem schimmernden Streifen Sand hängen blieb.

„Da!“, rief ich. „Lass uns da hinunterfahren, ans Meer“

Wir bogen von der Küstenstraße ab, folgten einem schmalen Weg, bis wir den Wagen nahe eines niedrigen Grundstücks zum Stehen brachten. Der Strand lag wie ein Geheimnis unterhalb der kleinen Böschung, das Wasser glasklar, als hätte niemand zuvor hier gebadet.

Ich öffnete die Autotür, kramte nach meinem Badeanzug und stellte mich zwischen das Auto und das buschige Gestrüpp des Grundstücks. Die Hitze vibrierte in der Luft, die Grillen zirpten, nicht weit von mir plätscherten leise die Wellen an den Sand.

Und dann – hörte ich es.

Ein leiser, wunderschöner, fast scheuer Singsang. Keine Sprache, die ich kannte, eher wie das Wiegenlied einer alten Frau, sanft und wohlklingend. Die schönste Melodie, die ich jemals gehört hatte. Ich hielt inne, den Badeanzug halb in der Hand, und lauschte.

„Hast du das gehört?“ fragte ich meine Begleiterin.

„Was?“ Sie sah mich an, nur das Meeresrauschen antwortete.

Ich trat einen Schritt näher zum Busch, doch da war niemand. Kein Haus, kein Mensch, nur der warme Wind, der durch die trockenen Zweige strich. Der Gesang war verschwunden, so plötzlich wie er gekommen war.

Für einen Moment stand ich da und spürte, wie die Sonne meine Haut wärmte, und ein Schauer mir über den Rücken lief – nicht aus Angst, sondern aus einem Gefühl, als hätte mich etwas oder jemand ganz kurz berührt, nur um sich gleich wieder ins Unsichtbare zurückzuziehen.

Als wir im Wasser waren, fragte ich mich, ob dieser Strand wohl ein Ort war, an dem alte Geschichten noch weiteratmeten. Vielleicht hatte ich einen Gesang gehört, der hier seit Jahrhunderten klang – und nur manchmal, für die Richtigen, hörbar wurde.

Später, bei unserem Lieblingswirt, wurde mir erzählt, dass in einer der Buchten zwischen Giorgioupoli und Sfakia seit Generationen von einer Sirina tis Notias – der „Sirene des Südwinds“ – gesprochen wird. Sie singt nur an den heißesten Tagen, wenn die Luft über den Felsen flirrt, und lockt die, die allein sind oder kurz den Blick von der Welt abwenden.

Ich lächelte, als ich das vernahm – doch tief in mir wusste ich: Ich hatte sie gehört.
 

Anders Tell

Mitglied
Ich habe mich gerne an diesen magischen Ort entführen lassen. Es gibt sie: Erscheinungen, die nicht jeder hört oder sieht. Sehr erlebbar erzählt.
Anders
 



 
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