Die Sonne quält ihn

Immer dann, wenn der Himmel tagsüber wolkenlos geblieben war und die ungefiltert auf uns niederbrennenden Strahlen der Sonne die Feuer in den Ruinen der tief unter uns liegenden Stadt neu entfacht haben, klopft er abends an das zum größten Teil mit widerstandsfähigen Brettern vernagelte Fenster des Kellergewölbes, in dem zu hausen ich gezwungen bin, seit eine der zahllosen durch das Land irrenden Armeen mein einstmals eindrucksvolles Anwesen als Gefechtsstand missbraucht und dabei in einen Trümmerhaufen verwandelt hat. Er klopft stets ganz leise, als befürchte er, mich zu erschrecken. Überhöre ich ihn einmal, was, bin ich zu sehr in meine Arbeit vertieft, durchaus vorkommen kann, wagt er es nicht, ein zweites Mal auf sich aufmerksam zu machen, sondern bleibt mit eng um sich geschlungenem Mantel und eingezogenem Kopf irgendwo in meinem mittlerweile von mannshohem Unkraut und allerhand befremdlichem Gesträuch zugewachsenem Garten stehen, nicht selten über Stunden hinweg geduldig wartend, ob ich mich nicht vielleicht doch noch erweichen lasse, ihn hereinzurufen.
Bin ich gewillt, ihn einzulassen, wiederholt sich eine im Lauf der Jahre fest eingespielte, immergleiche Zeremonie: Ich öffne die kleine Luke aus Panzerglas, die ich, um wenigstens etwas Licht zu haben, nach meinem Umzug in den Keller in eine der die Fensteröffnung verschließenden Bohlen eingearbeitet habe, und er, sein Gesicht dicht vor die kleine Öffnung geschoben, lächelt unterwürfig und fragt, ob er auch wirklich nicht ungelegen komme. Ohne darauf zu antworten, reiche ich ihm den Schlüssel für das Schloss des Kellerzugangs hinaus. Während er ihn aus meiner Hand entgegennimmt, achtet er sehr darauf, dass unsere Finger sich nicht berühren; offenbar fürchtet er noch immer, er könne sich mit einer dieser Krankheiten anstecken, die in regelmäßigen Abständen unter uns Überlebenden grassieren. Bevor er sich dann ungelenk aus der Hocke aufrichtet, sieht er mich noch einmal fragend an und wartet darauf, dass ich ihm durch ein bestätigendes Nicken mitteile, es habe schon seine Richtigkeit, begäbe er sich jetzt zu mir in meinen Keller hinunter. Für einen kurzen Augenblick sind dann nur noch seine nachlässig geflickten Beinkleider zu sehen, die sich in nachgerade provozierender Langsamkeit aus meinem Gesichtsfeld fortzubewegen beginnen.
Es dauert immer geraume Zeit, bis er sämtliche Hindernisse, mit denen ich aus Sicherheitsgründen den Weg zu mir herunter verbaut habe, überwunden hat, doch sobald ich seine infolge des Schutts, der den Boden des Kellergangs bedeckt, knirschenden Schritte herannahen höre, wende ich meinen Blick zur Tür hin, die er sich wie immer nicht weit genug zu öffnen traut. Während er sich ungeschickt durch den für ihn viel zu schmalen Spalt hindurchzwängt, kann ich ihm schon ansehen, in welchem Zustand er gerade ist. Mir ist das sehr wichtig, damit ich auf alles, was geschehen kann, so gut als möglich vorbereitet bin.
Hat er es dann endlich zuwege gebracht, die immer etwas widerspenstige Tür hinter sich zu schließen, kommt er zur Hälfte um den Tisch, an dem ich meine Arbeit verrichte, herum, begrüßt mich noch einmal, ergreift, ohne weitere Worte zu verlieren, meinen Wasserkessel, befüllt ihn aus dem über dem Abflussbecken an der Wand installierten Vorratsfass, wirft ein paar Brocken Holzkohle auf die schwach glimmende Glut in meiner Feuergrube und hängt den Kessel in den Haken, den ich eigens zu diesem Zweck an einer von der Decke über den Flammen hängenden Kette befestigt habe.
Während wir darauf warten, dass das Wasser zu sieden beginnt, sitzt er in meinem Schaukelstuhl, schaukelt behutsam vor und zurück und beobachtet mit der immergleichen ungläubigen Verwunderung, wie meine Finger über die Tastatur der Schreibmaschine gleiten und Anschlag für Anschlag meine in Buchstaben zerlegten Gedanken auf dem eingespannten Blatt Papier wieder zusammensetzen.
Kaum dass der Kessel zu summen beginnt, steht er auf, begibt sich zu der in der gegenüberliegenden Wand eingelassenen Nische, in der ich meine Vorräte lagere, befühlt mit den Fingerspitzen und zur Decke gerichteten Augen meinen in einer Dose aus getriebenem Kupferblech aufbewahrten Tee, entnimmt ihr ein, zwei Prisen, lässt sie in die eine Hälfte des zuvor geöffneten eiförmigen Tauchfilters rieseln, schraubt ihn wieder mit der zweiten zusammen und legt ihn daraufhin vorsichtig in die schon etwas angeschlagene Glaskanne, die, wie er nur zu genau weiß, mit zum Wertvollsten zählt, was ich mein Eigen nennen kann. Anschließend fingert er umständlich den filigranen silbernen Behälter, den er stets bei sich trägt, aus seiner Westentasche hervor, entnimmt ihm ein paar Körner eines leicht berauschenden Krauts, von dem er nicht sagen will, woher er es bekommt, und streut es in die Kanne, während er langsam das kochende Wasser hineinlaufen lässt.
Ist er der Überzeugung, dass das Getränk die richtige Farbe angenommen hat, füllt er zwei der drei Tassen, die ich aus den Überresten der Küche meiner ehemaligen Nachbarn habe retten können, und stellt eine vor mich hin, die andere behält er in der Hand, wenn er sich wieder im Schaukelstuhl niederlässt. Habe ich zufällig, was aber selten genug vorkommt, einen guten Monat gehabt, lasse ich es mir nicht nehmen, ihm ein wenig Kondensmilch und Zucker abzugeben.
Haben wir dann den ersten Schluck gekostet, sitzen wir beide mit halb herabgesenkten Lidern da, denken nach, und fragen uns, was noch alles passieren muss, dass das Schicksal ein Einsehen mit uns hat.
Nur ganz selten kommt es vor, dass wir miteinander reden. Ich denke, das ist auch völlig in Ordnung so, denn was sich ereignet hat und was in naher Zukunft geschehen wird, das wissen wir beide nur zu genau. Und natürlich auch, dass wir niemals imstande sein werden, irgendetwas daran zu ändern. Worüber also sollten wir uns unterhalten? Einfach nur der Kurzweil wegen über Nichtigkeiten zu plaudern, es käme uns wie Frevel, wie das Heraufbeschwören neuen Unheils vor. Und uns über die einzige noch nicht beantwortete Frage auszutauschen, nämlich die, warum ausgerechnet wir es waren, die davon haben kommen müssen, fällt uns nicht ein.
Zuweilen aber geschieht es, dass es ihm einfach nicht gelingen will, sich in der unter uns vereinbarten Weise zurückzuhalten. Dann hebt er zu wehklagen an, dass ihn die Sonne quäle, und dass er es einfach nicht mehr aushalte, einem Maulwurf gleich unter der Erde leben zu müssen. Mich regt das jedes Mal ungemein auf, denn keinem von uns geht es anders, weshalb das Thema auch zu Recht zu den ganz und gar verbotenen zählt. Aber wenn ich erst einmal begonnen habe mich aufzuregen, dann nimmt es sobald kein Ende mehr; eine Schwäche, die mir auch früher schon nachgesagt wurde. Die Art, in der er mich ansieht, wie er spricht und wie er sitzt, das alles bringt mich auf gegen ihn; und je mehr ich mich um Gelassenheit bemühe, desto ärger wird es. Vergeblich hoffend, dass er sich nur ein einziges Mal gegen mich und den aus mir herausbrechenden Zorn zur Wehr setzt, kann ich einfach nicht umhin, ihn zu fragen, warum er hier in meinem Sessel hockt und meinen Tee aus meiner Tasse trinkt?
Er kennt das. Er senkt dann seinen Blick, um dem meinigen nicht zu begegnen, steht wortlos auf, auch wenn er noch nicht die Zeit gehabt hat, seine Tasse zu leeren, und begibt sich eiligst zur Tür hinaus.
Sobald die Tür des Kellerzugangs hinter ihm zugefallen ist, konzentriere ich mich auf das Geräusch seiner sich entfernenden Schritte und beginne ich mich einmal mehr mit der Frage zu befassen, warum ich die Gesellschaft des einzigen Freundes, der mir nach den unzähligen Jahren sinnlosen Gemetzels noch geblieben ist, nur so schwer ertragen kann.
Die Antwort, das muss ich leider sagen, bin ich mir bis heute schuldig geblieben.
 



 
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