Die Spieluhr

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Michele.S

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Michail Antonowitsch, 14 Jahre alt, war jetzt seit mindestens vier Stunden gelaufen. Die Landschaft hatte sich, seit er das Ferienlager verlassen hatte jedoch kaum verändert. Auen und Felder wechselten sich mit kleinen Wäldchen und Seen ab. Michail wischte sich den Schweiß von der Stirn.
"Wie würden seine Eltern reagieren, wenn er 2 Wochen früher als angekündigt zuhause ankommen würde?" Das wollte er sich gar nicht vorstellen. Aber dort bleiben, das war nicht in Frage gekommen. Seine Zeltgenossen waren ihm von Anfang an unsympathisch und bereits nach zehn Minuten war er wieder der Außenseiter, der er auch in der Schule immer gewesen war. Dann hatten die Jungs ihn furchtbar ausgelacht, weil er während den gemeinsamen Duschen als einziger eine Badehose trug. Aber er hatte sich eben geschämt. Er war erst ganz frisch in die Pubertät gekommen und unten rum war bei ihm halt noch nicht alles voll entwickelt.
Gestern dann aber war etwas Furchtbares passiert, der Grund, warum er es keinen einzigen Tag mehr dort ausgehalten hatte. Michail hatte von seinem Opa, der vor zwei Monaten verstorben war, eine Spieluhr geschenkt bekommen. Sie war mit goldenen, filigranen Rändern verziert und zeigte mehrere ineinander verschlungene Ballerinas. Wenn man sie öffnete, spielte sie eine märchenhafte und melancholische Melodie. Die Taschenuhr war Michails liebster Besitz, weil sie so schön und zerbrechlich aussah und weil sie seinem Opa gehört hatte, den Michail abgöttisch geliebt hatte. Außerdem war die Uhr wohl mindestens 300.000 Rubel wert. Seit er die Spieluhr besaß, nahm er sie überallhin mit. Er hatte natürlich versucht, sie vor seinen Kameraden geheim zu halten, aber schließlich hatten sie sie doch gefunden. Grölend hatten sie sich über das Erbstück lustig gemacht. "Wie schwul ist das denn?" Dann hatten sie die Uhr genommen und sich gegenseitig zugeworfen, während Michail verzweifelt versucht hatte, sie zurückzubekommen. Schließlich war sie ihnen heruntergefallen und nun funktionierte sie nicht mehr. Sie spielte nur noch den ersten Teil des Liedes und wiederholte dieses dann ununterbrochen. Michail hatte angefangen, hemmungslos zu weinen, was natürlich für noch größeren Spott gesorgt hatte. Und so war Michail zu dem Schluss gekommen, dass er keine andere Wahl hatte, als das Sommerlager in Krestsky zu verlassen und sich zu Fuß zurück nach Hause, nach Sankt Petersburg, zu machen. Er hatte darauf verzichtet, sich auszurechnen, wie viele Tage er dafür zu Fuß brauchen würde, die Hauptsache war, dass er von da weg musste.


Plötzlich hörte Michail Hubschrauberbrummen am Himmel.
"Konnte das sein? Suchten die nach ihm?"
Schnell begab er sich in Deckung, in einen Betonverschleiß, der aussah, als sei er früher einmal ein Wartehäuschen gewesen. Hier sollte er vor den Blicken der Piloten in Sicherheit sein.
Aber da saß bereits jemand. Ein dunkelhaariger Mann von etwa 40 Jahren.
Der Mann bedeutete ihm jetzt mit dem Finger, ruhig zu sein und sich still zu verhalten. Das Hubschraubergebrumme riss nicht ab. Er würde hier eine Weile mit dem Fremden zusammensitzen müssen. Da er nichts Besseres zu tun hatte, holte er die Spieluhr hervor und öffnete sie. Sie spielte das halbe, träumerische Lied wieder und immer wieder. Irritiert blickte der Mann zu ihm hinüber.
"Kaputt?", fragte er ihn flüsternd.
Michail nickte.
"Gib mal her", sagte der Mann.
Widerwillig gab Michail ihm die Uhr. Der Mann öffnete den Uhrenkörper, machte einige geschickt aussehende Handgriffe und gab ihm die Uhr zurück. Sie war repariert. Michail hatte es die Sprache verschlagen, er vergaß sogar, sich zu bedanken.
Als die Hubschrauber sich endlich verzogen hatten, fragte der Mann. "Was machst du denn hier? Bist du von zuhause weggelaufen?"
Michail schüttelte den Kopf. "Aus dem Ferienlager".
"Wieso, waren die anderen Jungs gemein zu dir?. Michail errötete.
"Ich kenne das", sagte der Mann schnell. "Kinder können grausam sein. Das hab ich in deinem Alter auch zu spüren bekommen. Ich bin Dimitri Michailowitsch" Er reichte Michail die Hand. Zögernd ergriff dieser sie.
"Michail Antonowitsch", stellte er sich vor. Dann fragte er kritisch "Warum hast du dich vor den Hubschraubern versteckt?"
"Das geht dich nichts an, mein Junge", antwortete Dimitri. Er dachte für eine Weile nach und sagte dann "Was solls, es bringt ja nichts, es zu leugnen. Ich habe eben Probleme mit der Polizei".
Da schien ihm eine Idee zu kommen "Könntest du mich nicht für eine Weile begleiten? Man ist unauffälliger wenn man ein Kind bei sich hat. Polizisten schauen da nicht zweimal hin".
Michail fragte sich, ob er das als Bitte zu verstehen hatte, oder ob er nun eine Geisel war. Komischerweise verspürte er nicht die geringste Angst. Er vertraute diesem fremden Mann.
"Also gut", stimmte er zu.



Es war später Nachmittag, die Hitze hatte zugenommen. Michail und Dimitri waren jetzt seit zwei Stunden unterwegs. Michail taten die Füße weh.
Da meldete sich Dimitri zum ersten mal seit einer Stunde wieder zu Wort.
"Warum bist du abgehauen? Was ist im Sommerlager passiert?"
Aus irgendeinem Grund verspürte Michail den Drang, diesem Mann alles zu erzählen.
"Die Anderen mochten mich nicht. Aber ich mochte sie noch weniger. Sie haben sich über mich lustig gemacht. Mir passiert das immer wieder. Egal, wo ich bin, ich bin der Außenseiter. Es sind halt alles Idioten"
Dimitri lachte. "Als ich in deinem Alter war, hätte ich bestimmt dasselbe gesagt. Wir sind uns da wohl sehr ähnlich. Wie sieht es mit den Mädchen aus?"
"Die mögen mich nicht", gab Michail offen zu. "Ich glaube, ich bin ihnen zu klein"
"Eine Menge Probleme für einen Vierzehnjährigen", meinte Dimitri freundlich.
"Mich haben die Mädchen zwar nie interessiert, aber mit den Jungs hatte ich es nicht einfacher. Das waren andere Zeiten damals in der Sowjetunion. Die meisten wussten nicht mal, was Homosexualität ist, und die, die es wussten, haben uns gehasst"
Michail wusste nicht viel über Homosexualität, außer das Schwule gerne Paraden machten und das ganze Thema irgendwas mit westlicher Propaganda zu tun hatte.
Er antwortete nur "Achso, ich verstehe".
"Vierzehn Jahre ist ein scheiß Alter, kann ich dir sagen. Da kann es nur besser werden", meinte Dimitri aufmunternd.
Nach einer weiteren Stunde Fußmarsch setzte Dimitri sich frustriert auf den Boden. "Es sind noch 400 km zur Grenze nach Estland. Da muss ich hin. Das schaffen wir nicht zu Fuß"
Michail setzte sich ebenfalls und machte ein ratloses Gesicht.
"Wir brauchen ein Auto, Michail"


"Hilfe, Hilfe!", schrie Michail, der mitten auf der Landstraße stand. Er winkte mit den Händen und brachte so den blauen Lada zum anhalten. Eine Frau mittleren Alters stieg aufgeregt aus dem Auto aus. "Was ist denn nur passiert, mein Junge?"
"Mein Bruder ist gestürzt, ich glaube er stirbt gleich", schrie Michail hysterisch. "Bitte kommen sie mit!"
"Du meine Güte, du meine Güte", stammelte die Frau und folgte Michail, ohne vorher den Wagenschlüssel abzuziehen. Michail führte sie auf die Wiese hinter der Straße.
"Wo liegt denn dein Bruder?", fragte die Frau aufgeregt.
Da drehte sich Michail um und rannte so schnell er konnte wieder auf die Landstraße zu, wo Dimitri schon am Steuer des Ladas saß und ihm die Tür aufhielt. Ausgelassen lachend fuhren die beiden davon.


Einige Stunden fuhren sie über die kaum befahrene Landstraße, vorbei an der lieblichen, aber immergleichen Landschaft. Es war schon dunkel geworden. Gegenüber eines Hochspannungswerks stoppte Dimitri schließlich den Wagen.
"Genug für heute, ich bin zu müde, um weiterzufahren"
Im Kofferraum des Autos fanden sie Fischkonserven und ein Sechserpack Bier. Wie selbstverständlich bot Dimitri Michail ein Bier an.
Dieser nahm es ebenfalls wie selbstverständlich an und trank stolz seinen ersten Schluck Alkohol.
Nachdem sie die Fischkonserven gegessen hatten, schaltete Dimitri das Autoradio an. Es lief russischer Chanson. Durch die nahen Lichter des riesigen Hochspannungswerkes und das hörbare elektrische Knistern in der Luft, wirkte die ganze Szene surreal, wie aus einem Film.
"Weißt du, Michail", meinte Dimitri, der angetrunken wirkte, "Deine Einstellung ist nicht gut. Es macht keinen Sinn, alle Menschen zu hassen, selbst wenn sie oft Idioten sind. Du solltest wirklich versuchen Freunde zu finden, eine Freundin und so weiter und dein Leben voll auszukosten. Ich habe das nie gemacht, weil ich immer Angst davor hatte, dass man mich nicht mag. Und heute bereue ich nichts mehr, als meine Jugend verschwendet zu haben. Und dann sie mich mal an. Was ist nur aus mir geworden?" Traurig blickte er zu Boden.
Plötzlich spürte Michail eine tiefe Woge der Zuneigung zu Dimitri. Am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen.
Im Radio begann jetzt ein neues Lied, einen Chanson, den Michail von seinem Opa kannte, und den er sehr liebte. Er hatte auf einmal das Bedürfnis, mit Dimitri zu tanzen. Und, vielleicht weil er schon zwei Bier intus hatte, dachte er nicht lange nach, und nahm Dimitris Hand.

Früh am nächsten Morgen fuhren die beiden weiter. Dichter Nebel lag in der Luft und es war ausgesprochen kalt. Michail hatte einen Kater. Er legte seinen Kopf an Dimitris Schulter und versuchte, noch eine Weile zu schlafen. Lange hatte er sich nicht mehr so geborgen gefühlt. Später überquerten sie ohne Probleme die Grenze nach Estland.


Am Nachmittag befanden sie sich in einem malerisch anmutendem, estnischen Dorf, das wirkte, als wäre es einem Märchenbuch entnommen. Michail und Dimitri standen an einem Tümpel und ließen Steine hüpfen.
Den Abschied wollten sie so lange wie möglich hinauszögern. Michail hatte vor, von hier aus nach Sankt-Petersburg zu trampen.
Was Dimitri jetzt tun wollte, wusste er noch nicht.
"Ich weiß nicht mal, wie ich die nächsten Wochen überstehen soll. Ich hab keinen Rubel", stöhnte Dimitri.
Da kam Michail eine Idee. Er zog seine Taschenuhr hervor und hielt sie Dimitri hin. "Nimm die", sagte er. "Die ist mindestens 300.000 Rubel wert, bring sie zum Pfandleiher, dann kannst du einige Wochen davon leben"
Dimitri wirkte völlig überwältigt.
"Aber Michail", fragte er vorsichtig, "bist du dir da ganz sicher?"
Michail strahlte ihn an.
 
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