Die Stille zwischen den Seiten

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Arcos

Mitglied
Ich sitze da,
mit einem Buch,
und tue so,
als wüsste ich,
was ein Wort ist.

Menschen nicken mir zu,
„Wow, der liest wieder Kant.“
Ich nicke zurück,
wie jemand,
der gerade versucht,
eine Waschmaschine zu verstehen.

Die Buchstaben tanzen.
Nicht poetisch.
Eher wie Küchenschaben
auf Koks.

Ich klappe das Buch zu,
zufrieden,
denn ich habe nichts gelernt
und fühle mich trotzdem gebildet.

Ein Kind fragt mich:
„Was liest du?“
Ich sage:
„Die Stille zwischen den Seiten.“
Da ist etwas,
zwischen den Buchstaben,
das nicht geschrieben wurde,
und trotzdem alles sagt.

Es atmet,
leise,
wie Staub in einem Sonnenstrahl,
der nicht weiß,
dass er schön ist.

Die Stille zwischen den Seiten
ist kein Nichts.
Sie ist das Zittern der Bedeutung,
bevor sie sich traut,
ein Wort zu werden.

Ich blättere,
und höre,
wie das Papier flüstert,
nicht, was es weiß,
sondern,
was es verschweigt.

Vielleicht ist Lesen
nur ein Missverständnis
zwischen zwei Atemzügen.

Vielleicht spricht das Buch
nur dann,
wenn ich vergesse,
es verstehen zu wollen.

Und ich,
der nicht lesen kann,
höre zu.​
 

Fredy Daxboeck

Mitglied
Angelockt vom Titel habe ich dein Gedicht gelesen und noch einmal gelesen.
Und beim dritten Mal die zweite Strophe weggelassen (das Bild mit der Waschmaschine passt für mich nicht dazu).

Ein sehr schönes Gedicht, das zum Innehalten und Nachdenken anregt.

Was sieht der Leser in einem Buch?
Was muss ich beim Schreiben rüberbringen?

Da ist etwas,
zwischen den Buchstaben,
das nicht geschrieben wurde,
und trotzdem alles sagt.​
Ich merke, ich muss noch viel lernen ... Danke dafür

Schöne Grüße
Fredy
 

Arcos

Mitglied
Ich danke euch für die tolle Resonanz:
Petra (@petrasmiles), Anita (@Ubertas), @Aniella, @Eugen van Anders

Es freut mich sehr.

Vielen Dank Fredy ( @Fredy Daxboeck) für den schönen Kommentar.

Da gibt es etwas, das viel wichtiger zu sein scheint, als das, was unsere eher oberflächlichen Sinne erfassen können, weil es alles trägt und hervorbringt.

Die Leere zwischen den Buchstaben.
Das Stumme zwischen zwei Wörtern.
Die Stille zwischen zwei Gedanken.
Der schwarze Raum, zwischen den Sternen.
Die Unendlichkeit zwischen zwei Natürlichen Zahlen…

Unsere sichtbare Welt scheint nur eine Schaumkrone zu sein…

Das beste Buch oder Gedicht ist ein Fingerzeig auf dieses Etwas, das in uns allen zu sein scheint und das sich eher mit Gefühlen beschreiben lässt als mit Worten oder Gedanken…

Grüße
Önder
 

mondnein

Mitglied
Menschen nicken mir zu,
„Wow, der liest wieder Kant.“
Ich nicke zurück,
pardon,
verstehe ich das richtig, daß Dein Gedicht gegen Immanuel Kant gerichtet ist?

Ich erinnere mich, daß ich in der Straßenbahn auf dem Weg zum Zivildienst immer mein arg zerfleddertes und in der Mitte durchgeknicktes Reclam-Exemplar der "Kritik der reinen Vernunft" weiter und weitergelesen habe, mit großer Begeisterung über das "Ich-denke, das alle Vorstellungen begleiten muß" und über die Antinomien, wo die These links die Antithese rechts widerlegt und umgekehrt. Hat Spaß gemacht. Habe ich sogar studiert, und wurde Magister artium, Meister der brotlosen Künste.
 

Arcos

Mitglied
Um Gottes Willen, wie könnte ich armes Männlein gegen den Riesen Kant…
Gott bewahre…
Es sollte hier nur die große Kluft bekräftigt werden, zwischen dem, was die Leute denken und der inneren Wahrheit.
Kritisch, rein und natürlich vernünftig, versteht sich…

Grüße
Önder
 



 
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