Die stillen Zeichen der Insel

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rubber sole

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Der Himmel über Hiva Ova leuchtete in einem intensiven Blau, als er zum ersten Mal die sandigen Wege der Insel entlangging. Er wandelte auf den Spuren des berühmten Malers Paul Gaugins, dessen Bedeutung für die Malerei vor langer Zeit Gegenstand seiner Dissertation gewesen war, die er nun, nach seiner Pensionierung, mit Leben ausfüllen, damit seinen großen Lebenstraum verwirklichen wollte. Über die Biografie des Malers, speziell hier auf den Marquesa Inseln, wusste er, dass dieser nicht nur Farben und Formen, sondern auch Rätsel hinterlassen hatte. Am Rande des kleinen kleinen Dorfs Atuona, in dem der Künstler und später auch der Sänger Jaques Brel ihre letzten Lebensjahre verbracht hatten, traf der Kunsthistoriker einige Tage nach seiner Ankunft auf eine Familie, die sich als Nachfahren von Gaugins letzter Lebensgefährtin vorstellte. Sie luden ihn in ihr Haus ein, bewirteten ihn nach Landessitte und zeigten ihm später eine alte Holzkiste, sorgfältig mit Blumenmustern bemalt. Sie enthielt Pergamentfragmente, auf denen kleine, skizzenhafte Symbole zu sehen waren.

Er sah sich die Pergamente aus der Nähe an, und erkannte Symbole, die bemerkenswert klare Zeichen aufwiesen: ein stilisiertes Herz, das eine Emotion ausdrückte; eine Sonne mit einem lachenden Gesicht; eine Palme mit einem kleinen Vogel und weitere Abbildungen ähnlichen Stils. Die Familie erklärte ihm, Gauguin hatte diese Zeichen entwickelt, um mit den Inselbewohnern intensiver kommunizieren zu können. Die Sprache der Marquesaner hatte den berühmten Maler während seines gesamten Aufenthalts überfordert, und seine Versuche, Emotionen überwiegend durch Mimik und Gestik zu vermitteln, waren oft gescheitert. So hatte er für sich eine eigene Lösung gesucht und gefunden: kleine, universelle Piktogramme, die Gefühle, Stimmungen und Alltägliches ausdrücken konnten, in dieser Vielfalt durch seine großartige malerische Begabung möglich geworden. Der Besucher war fasziniert, diese Symbole schienen eine Brücke zwischen Welten zu sein, geschaffen von einem Mann, der nicht nur Künstler, sondern offensichtlich auch ein Suchender gewesen war - doch das Erstaunlichste sollte erst noch kommen.

Ein Familienmitglied erzählte weiter, dass vor einigen Jahrzehnten ein japanischer Tourist die Insel besucht hatte und die Piktogramme in einer kleinen Galerie gesehen hatte, von deren Klarheit beeindruckt war, und Kopien davon mit nach Hause genommen hatte. Niemand hatte dem viel Bedeutung beigemessen. Der Kunstexperte verstand auch erst bei eingehender Betrachtung, so wie durch die Erklärungen der Familie, was aus diesen Zeichen geworden ist. Mit zunehmender Begeisterung erklärte ihm die Familie, dass diese Symbole die Grundlage für eine moderne Bildsprache geworden seien. Sie sind der Ursprung der Emojis, jener kleinen Zeichen, die heute auf der ganzen Welt genutzt werden, um Emotionen und Gedanken zu teilen. Er war überwältigt. Gauguins Notlösungen zur Überwindung einer Sprachbarriere hatten sich in eine universelle Sprache verwandelt, mit der mittlerweile Menschen auf der ganzen Welt miteinander kommunizieren. Eine unerwartete Verbindung zwischen Kunst, Kommunikation und Technologie war so entstanden. Gaugins Werke hatten damals die Welt der Malerei entscheidend beeinflusst, jedoch seine schlichten, funktionalen Symbole waren in der großen Kunst ihrer Einfachheit zu einem alltäglichen, globalen Phänomen geworden.
 

Ubertas

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Hallo @rubber sole,
ich mag deine Geschichte sehr. Reicht nicht. Ich liebe sie. In einem nicht besonders gut sortiertem Winkel meiner Büchersammlung befindet sich ein sehr altes Buch mit Illustrationen von Gauguins Werken, mit Texten zu seinem Leben. Es ist reichlich zerfleddert, durch viele Hände gereicht. Ein Buch.
In deiner Geschichte finde ich mehr.
Nicht Symbolismus, ich finde Übersetzung.
Lieben Gruß ubertas
 

lietzensee

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Hallo Ruber Sole,
das ist eine interessante Idee. Ich mag den Twist am Ende sehr. Ich finde aber, dass du aus dieser Wendung noch deutlich mehr raus holen könntest. Der Erzähler erzählt, wie Dritte ihm etwas erzählen. Das könnte man spannender machen. Warum zB nicht den Erzähler selber das Geheimnis entdecken lassen? Der Anfang des Textes ist so schön beschreibend, aber das Ende ist kaum mehr als die Inhaltsangabe eines Textes. "Die Familie" wird nicht in einzelne Charekter aufgelöst, sondern bleibt ein amorpher Blob.


Auch sprachlich ist der Text eher schwach. Zum Beispiel holpert dieser Satz stark:

Ein Familienmitglied erzählte weiter, dass vor einigen Jahrzehnten ein japanischer Tourist die Insel besucht hatte und die Piktogramme in einer kleinen Galerie gesehen hatte, von deren Klarheit beeindruckt war, und Kopien davon mit nach Hause genommen hatte.



Kleine Nebensache, aber ist es wirklich realistisch, dass er Pergament genutzt hat? Das wird aus Tierhäuten gemacht und sehr teuer.

Viele Grüße
lietzensee
 
Zuletzt bearbeitet:

rubber sole

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@Ubertas

Hallo Ubertas,

es freut mich außerordentlich, dass dich dieser Text so stark anspricht - mehr kann ich als Autor kaum erwarten, herzlichen Dank dafür. Die auf der Insel entstandenen Symbole sind das Thema dieser Geschichte, die, wenn man sie über diesen Rahmen hinaus weiterspinnt, einen Bezug zur Bildenden Kunst herstellen kann, der über die Freude am rein formalästhetischen Ausdruck hinausgeht.

Gruß von rubber sole
 

rubber sole

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@lietzensee:

Hallo lietzensee,

danke für deine Anregungen, die ich aufmerksam registriere. Ja, möglicherweise böte die Position des Erzählers - er steckt schließlich in der Geschichte drin – die Möglichkeit zu größerer Nähe, zu weiteren Details über die darin vorkommenden Personen, was letztlich mehr Farbe in die Erzählweise bringen könnte. Das mit dem Pergament habe ich einfach so hingeschrieben, ich wusste es nicht besser.

Gruß von rubber sole
 

petrasmiles

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des berühmten Malers Paul Gaugins
Ich möchte mal mein intuitives Grammatikverständnis überprüfen - mir scheint das s am Nachnamen falsch, aber ich bin mir nicht sicher.
Weiß jemand das genau?

Sorry, wenn ich mit diesem Kram anfange, rubber sole, aber das hat mich beschäftigt ... ich fand das Thema auch spannend! Ingewisser Weise hat lietzensee Recht, die beiden Teile fallen irgend wie auseinander.
Trotzdem gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
 

Ubertas

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Liebe Petra,
ich klinke mich hier kurz ein, da ich deine Frage wirklich sehr interessant finde!
Durch das des ist der Genitiv schon genug definiert, also Gauguin. Stünde dort: "er wandelte auf den Spuren Gauguins" dann mit s. Gefühlsmäßig hatte ich die gleiche Annahme wie du, habe aber doch den Gockel um Rat gefragt, denn so hundertprozentig sicher war ich mir auch nicht. Wäre der letzte Buchstabe ein s, selbst ein stilles, käme ein Apostroph zum Einsatz. Hach wie schön:)...man lernt nie aus! So glaub ich zumindest.
Liebe Grüße an dich Petra und an rubbersole für seine wunderbare Geschichte!
ubertas/gscheidhaferl/googlerin
 

petrasmiles

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Gut, dass wir das geklärt haben!
Da ich grammatikalisch meist auf Autopilot fliege - dank einer guten Schulbildung - mache ich manchmal mehr richtig, als ich weiß :D
das erinnert mich wieder an den klugen Satz von Heisenberg, dass Bildung da anfange, wo man alles vergessen habe, was man gelernt hat.

Schöne Festtage Euch!

Liebe Grüße
Petra
 



 
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