Die Tänzerin

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Ro

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Seit Manfred die Stelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Herbsttag, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach dem sparsamen Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner gedruckte Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der großen Kreuzung nahe dem Campus zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Zwanzig Minuten später kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Hausmauer entlang in den Garten führte.

Dort angekommen, ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Fenster sah er in ein hell erleuchtetes Zimmer, wo eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung auf dem Boden saß. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer öfter das Gefühl, einen Beruf ergriffen zu haben, der ihm innerlich nicht zusagte. Mit der Erwartung eines langfristig sicheren Einkommens und einer gesicherten Stellung in der Gesellschaft hatte er sich in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Besser hätte er sich von seinen Interessen und Wünschen leiten lassen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst musste er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Den fand er nicht, indem er bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erledigte. Stattdessen musste er die Kraft und Lebendigkeit unkonventioneller Ideen in seine Forschung bringen. Dann, da war er sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er auf das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt, so wie die Begegnung mit der Tänzerin in ihm etwas ausgelöst, etwas angesprochen und freigesetzt hatte, was in seinem Inneren verborgen gewesen war.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war. Auch hätte er es unschicklich gefunden, einer Tänzerin nachzustellen. Und falls er ihr tatsächlich persönlich begegnen würde, von Angesicht zu Angesicht: Was sollte er ihr sagen?

Also verlies er den Ort. Auf den grauen Straßen in der grauen Stadt fühlte Manfred sich deprimierter denn je. Er hatte mit seiner Lebensführung seiner inneren Natur zuwidergehandelt und wusste, dass sie für immer verloren war. Es gab keine Rückkehr zu dieser Natur, so wie es keine Rückkehr in den leichten, beweglichen Körper eines Kindes gab.

Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, und die dumpfe Empfindung der Einsamkeit und Abgeschnittenheit wandelte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl. Schon morgen wollte er wie ein
Regisseur oder Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten; man könnte sagen: nach seinem Kommando zu tanzen.

Zu Hause arbeitete er hartnäckig an seiner neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld eventuell aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.

Die Berechnungen im Einzelnen waren kompliziert und zogen sich in die Nacht hinein. Irgendwann legte Manfred sich erschöpft auf das Sofa und schlief ein.

Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet und etwas verwirrt auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er zu sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am physikalischen Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel haben und gelegentlich nachts arbeiten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Fast in Dunkelheit tastete Manfred sich um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach, die ihm während seiner Planungen klar geworden waren. Falls der Dominoeffekt in Gang käme, musste es gefährlich werden. Doch das Risiko schien ihm der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Die Ahnung aufziehender Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit und sein Glauben, dass der Versuch gelingt, steigerte sich zur Gewissheit. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Irgendwann würde irgendwer diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.

Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner gedruckte Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der großen Kreuzung nahe dem Campus zögerte er. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Zwanzig Minuten später kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Hausmauer entlang in den Garten führte.

Von dort aus ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Fenster sah er in ein hell erleuchtetes Zimmer, wo eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung auf dem Boden saß. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred konnte nicht feststellen, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, doch kam ihm der unangenehme Gedanke, dass er beobachtet würde. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Mit der Erwartung eines langfristig sicheren Einkommens hatte er sich in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Besser hätte er sich von seinen eigenen Interessen und Wünschen leiten lassen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst musste er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Den fand er nicht, indem er bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erledigte. Stattdessen musste er die Kraft und Lebendigkeit unkonventioneller Ideen in seine Forschung bringen. Dann, da war er sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Auf den grauen Straßen in der grauen Stadt fühlte Manfred sich deprimierter denn je. Er hatte mit seiner Lebensführung seiner inneren Natur zuwidergehandelt und wusste, dass sie für immer verloren war. Es gab keine Rückkehr zu dieser Natur, so wie es keine Rückkehr in den leichten, beweglichen Körper eines Kindes gab.

Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, und die dumpfe Empfindung der Einsamkeit und Abgeschnittenheit wandelte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl. Schon morgen wollte er wie ein
Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen.

Zu Hause arbeitete er hartnäckig an seiner neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Die Berechnungen im Einzelnen waren kompliziert und zogen sich in die Nacht hinein.

Nach wenigen Stunden Schlaf wachte er schweißgebadet und etwas verwirrt auf. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er zu sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am physikalischen Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach, die ihm während seiner Planungen klar geworden waren. Falls der Dominoeffekt in Gang käme, musste es gefährlich werden. Doch das Risiko schien ihm der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit und sein Glauben, dass der Versuch gelingt, steigerte sich zur Gewissheit. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Irgendwann würde irgendwer diese Möglichkeit nutzen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner gedruckte Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der großen Kreuzung nahe dem Campus zögerte er. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Zwanzig Minuten später kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Hausmauer entlang in den Garten führte.

Von dort aus ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Fenster sah er in ein hell erleuchtetes Zimmer, wo eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung auf dem Boden saß. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred konnte nicht feststellen, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, doch kam ihm der unangenehme Gedanke, dass er beobachtet würde. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Auf den grauen Straßen in der grauen Stadt fühlte Manfred sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, und die dumpfe Empfindung der Einsamkeit und Abgeschnittenheit wandelte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl. Schon morgen wollte er wie ein
Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen.

Zu Hause arbeitete er hartnäckig an seiner neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Die Berechnungen im Einzelnen waren kompliziert und zogen sich in die Nacht hinein.

Nach wenigen Stunden Schlaf wachte er schweißgebadet und etwas verwirrt auf. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er zu sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am physikalischen Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach, die ihm während seiner Planungen klar geworden waren. Falls der Dominoeffekt in Gang käme, musste es gefährlich werden. Doch das Risiko schien ihm der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit und sein Glauben, dass der Versuch gelingt, steigerte sich zur Gewissheit. Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, fundamental in die Natur einzugreifen. Irgendwann musste jemand dieses Experiment durchführen. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick streifte die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Affinorenmethode schien keine neuen Ergebnisse zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner gedruckte Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der großen Kreuzung nahe dem Campus zögerte er. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Zwanzig Minuten später kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Hausmauer entlang in den Garten führte.

Von dort aus ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Fenster sah er in ein hell erleuchtetes Zimmer, wo eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung auf dem Boden saß. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred konnte nicht feststellen, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, doch kam ihm der unangenehme Gedanke, dass er beobachtet würde. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Auf den grauen Straßen in der grauen Stadt fühlte Manfred sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, und die dumpfe Empfindung der Einsamkeit und Abgeschnittenheit wandelte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen.

Zu Hause arbeitete er hartnäckig an seiner neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Die Berechnungen im Einzelnen forderten seine gesamte Aufmerksamkeit und zogen sich in die Nacht hinein.

Nach wenigen Stunden Schlaf wachte er schweißgebadet und etwas verwirrt auf. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am physikalischen Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick streifte die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Affinorenmethode schien keine neuen Ergebnisse zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner gedruckte Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der großen Kreuzung nahe dem Campus zögerte er. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Zwanzig Minuten später kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Hausmauer entlang in den Garten führte.

Von dort aus ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Fenster sah er in ein hell erleuchtetes Zimmer, wo eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung auf dem Boden saß. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred konnte nicht feststellen, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, doch kam ihm der unangenehme Gedanke, dass er beobachtet würde. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Auf den grauen Straßen in der grauen Stadt fühlte Manfred sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, und die dumpfe Empfindung der Einsamkeit und Abgeschnittenheit wandelte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen.

Zu Hause arbeitete er hartnäckig an seiner neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Nach wenigen Stunden Schlaf wachte er schweißgebadet und verwirrt auf. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am physikalischen Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick streifte die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Affinorenmethode schien keine neuen Ergebnisse zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf, doch nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner gedruckte Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der großen Kreuzung nahe dem Campus zögerte er. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Zwanzig Minuten später kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Hausmauer entlang in den Garten führte.

Von dort aus ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Fenster sah er in ein hell erleuchtetes Zimmer. Eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden. Ihr Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred konnte nicht feststellen, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, doch kam ihm der unangenehme Gedanke, dass er beobachtet würde. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Auf den grauen Straßen in der grauen Stadt fühlte Manfred sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, und die dumpfe Empfindung der Einsamkeit und Abgeschnittenheit wandelte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen.

Zu Hause arbeitete er hartnäckig an seiner neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Nach wenigen Stunden Schlaf wachte er schweißgebadet und verwirrt auf. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am physikalischen Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Affinorenmethode schien keine neuen Ergebnisse zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner gedruckte Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Fenster sah er in ein hell erleuchtetes Zimmer. Eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden. Ihr Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Nach wenigen Stunden Schlaf wachte er schweißgebadet und verwirrt auf. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Doch seine Affinorenmethode schien keine neuen Ergebnisse zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung smit gekreuzten Beinen. Ihr Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Nach wenigen Stunden Schlaf wachte er schweißgebadet und verwirrt auf. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ernöglichte einige elegante Herleitungen, doch schien sie nun keine neuen Ergebnisse zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden.

Nach wenigen Stunden Schlaf wachte er schweißgebadet und verwirrt auf. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht angeben können. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ernöglichte einige elegante Herleitungen, doch schien sie nun keine neuen Ergebnisse zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Unruhig wechselte er seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken.
Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ernöglichte einige elegante Herleitungen, doch schien sie nun keine neuen Ergebnisse zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken.
Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ernöglichte einige elegante Herleitungen, doch schien sie nun keine neuen Ergebnisse zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufagbe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, ja, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken.
Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ermöglichte einige elegante Herleitungen, schien aber nun keine neuen Ergebnisse mehr zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verlies er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, ja, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken.
Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ermöglichte einige elegante Herleitungen, schien aber nun keine neuen Ergebnisse mehr zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verließ er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, ja, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken.
Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ermöglichte einige elegante Herleitungen, schien aber nun keine neuen Ergebnisse mehr zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verließ er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, ja, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken.
Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ermöglichte einige elegante Herleitungen, schien aber nun keine neuen Ergebnisse mehr zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

In Manfred kam der unangenehme Gedanke auf, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verließ er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, ja, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen globalen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken.
Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ermöglichte einige elegante Herleitungen, schien aber nun keine neuen Ergebnisse mehr zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred kam der unangenehme Gedanke, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verließ er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, ja, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen globalen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerschein der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Kein Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken.
Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ermöglichte einige elegante Herleitungen, schien aber nun keine neuen Ergebnisse mehr zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred kam der unangenehme Gedanke, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verließ er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, ja, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes, beinahe stolzes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch arbeitete er hartnäckig an der neuen physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen globalen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch
dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerlicht der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken. Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ermöglichte einige elegante Herleitungen, schien aber nun keine neuen Ergebnisse mehr zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß, in warmes Licht getaucht, eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred kam der unangenehme Gedanke, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Das Seminar vergaß er. Auf dem Weg nach Hause erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verließ er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er nahm den kürzesten Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, ja, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch bearbeitete er konzentriert die neue physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen globalen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurchb dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerlicht der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 

Ro

Mitglied
Seit Manfred die Stelle in der mathematischen Abteilung des physikalischen Instituts angetreten hatte, begannen alle Tage gleich. Auch an diesem Tag, einem Montag im Herbst, drang Morgenlärm von der Straße durch ein gekipptes Oberfenster und beendete seinen traumlosen Schlaf, noch ehe der Wecker klingelte. Auch an diesem Tag setzte er nach dem Ankleiden die Brille auf, legte die schütteren Haare in einen Scheitel, begab sich in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb.

Nach zwei Tassen Kaffee ging er ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer. Automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Manfreds Lektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen sieben Tage.

Neben dem Monitor lag seit dem Vortag ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und ließ es wieder sinken. Sein Blick streifte die Ecke des Tisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ihm nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingebracht. Die Affinorenmethode ermöglichte einige elegante Herleitungen, schien aber nun keine neuen Ergebnisse mehr zu bringen. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, doch meldeten sich lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.

Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen der Aufgabenblätter, die wöchentlich von Studierenden bearbeitet wurden. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Artikeln, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Monitor listete eine Vielzahl von Treffern auf. Nichts davon half ihm weiter.

Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa bemerkte er im Vorbeigehen ein Schild. Er las den Text: »WIEDERERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter.

An der Kreuzung nahe dem Campus sprang die Ampel auf Grün, aber Manfred blieb stehen. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn des Seminars war noch Zeit. Er blieb nicht auf der Straße, die in Richtung des Institutes und seiner Wohnung führte, sondern bog ab auf den Waldweg. Einige Zeit später kam er beim alten Gebäude am Ende der Straße an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, danach kaum mehr betreten. Dennoch fand er gleich den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn an der Mauer entlang in den Garten führte.

Dort ließ er den Blick über die rückwärtige Fensterfront schweifen. An dieser Seite des Hauses lagen im untersten Stock, halb in der Erde, schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Durch eines der Fenster sah Manfred in ein hell erleuchtetes Zimmer. Auf dem Boden saß, in warmes Licht getaucht, eine Frau in pastellfarbener Tanzkleidung. Ihre Beine waren gekreuzt, der Oberkörper war nach vorne gebeugt und die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt.

Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Pflanze. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an.

Manfred kam der unangenehme Gedanke, dass er seinerseits auch beobachtet würde und man sein Verhalten für unhöflich halten könnte. Er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also ging er. Er spürte sein Herz klopfen.

Unterwegs erinnerte er sich an die Ballettstunden, zu denen seine Tante ihn als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, Ballett sei nichts für Jungen. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Wochen bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.

In letzter Zeit bedrückte ihn immer mehr, dass er einen Beruf ergriffen hatte, der ihm innerlich nicht zusagte. Das Interesse an einem langfristig sicheren Einkommen hatte ihn in eine unbefriedigende und perspektivlose Situation manövriert.

Stattdessen hätte er seinen Neigungen und Wünschen folgen sollen. Für eine andere Berufswahl war es zu spät. Aber er war jetzt ein gut ausgebildeter Physiker. Er wusste viel über die Gesetze hinter den Erscheinungen, verstand Ursachen und Antriebskräfte, verstand Zusammenhänge. In der Wissenschaft und nirgendwo sonst wollte er einen Ersatz für das verlorene Leben finden. Er wollte nicht mehr bloß seine jeweilige kleine Aufgabe erfüllen, sondern durch unkonventionelle Ideen Kraft und Lebendigkeit in seine Forschung bringen. Dann, da war er sich sicher, könnte er auch etwas wirklich Bedeutsames in der Physik leisten.

Am nächsten Morgen im Institut verzichtete er auf die Literaturrecherche. Lange blickte er in das schwarze Monitorbild des ausgeschalteten Computers, äußerlich regungslos und zugleich tief konzentriert.

Sein Tagewerk bestand darin, Labordaten über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt spürte er ein starkes Bedürfnis, sein Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Durch ein Experiment. Keines der üblichen Art Experimente, die mit kleinen Effekten bekannte Gesetze oder Hypothesen bestätigen sollen, sondern einen Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoß versetzt und etwas Neues hervor bringt.

Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurückwirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und diese dann in kurzer Zeit übertragen.

Die Essenszeit war verpasst. Wie er es sich vorgenommen hatte, begab er sich zu den Übungsräumen im Waldweg. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Er trat näher an das Glas heran und sah nur sein eigenes schwaches Spiegelbild. Einen Moment lang erwog er, sich im Haus zu erkundigen, um den Namen der Frau ausfindig zu machen. Vielleicht trat sie öffentlich auf. Doch im gedrängten Publikum, entfernt von der Bühne, würde es ihm kaum anders ergehen als vorm Fernsehapparat, wenn er auf einem Spartensender einen Ballettmitschnitt fand, aber bald umschaltete, weil von der Anmut und der Intensität des Tanzes, der ihn so faszinierte, nichts zu spüren war.

Also verließ er den Ort. Ziellos lief er neben grauen Straßen durch die graue Stadt. Manfred fühlte sich deprimierter denn je. Doch dann dachte er an sein neues wissenschaftliches Vorhaben, sein Gang wurde schneller und er steuerte auf kürzestem Weg nach Hause, am Ende fast im Laufschritt. Schon morgen wollte er wie ein Choreograph der Welt gegenübertreten und sie dazu bringen, sich nach seinem Kommando in Bewegung zu setzten, ja, nach seinem Kommando zu tanzen. Die dumpfe Empfindung der Einsamkeit hatte sich in ein helles, hartes Gefühl gewandelt.

Am häuslichen Schreibtisch bearbeitete er konzentriert die neue physikalischen Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa ganz gewöhnliches Wasser, energetisch anregen, indem man die Probe mit Teilchen beschiesst, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls es ihm gelänge, die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers exakt in ein bestimmtes Zahlenverhältnis mit der Wellenzahl der Protonenwellen zu bringen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld in einen instabilen Zustand bringen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Geriet das Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen. Wenn der Dominoeffekt in Gang käme, musste das Experiment gefährlich werden. Doch das Risiko erschien Manfred als der akzeptable Preis, mehr noch: die logische Folge, wenn er sich daran machte, mit einem Schlag die Belanglosigkeit seines Daseins zu überwinden. Ermüdet legte er sich schließlich auf das Sofa und schlief sofort ein.

Er träumte, dass er im Meer badet und auf eine leuchtend blühende Seerose zuschwimmt. Als er sich umblickt, bemerkt er, dass er gefährlich vom sicheren Ufer abgetrieben ist. Beim Wendeversuch ergreift ihn eine starke Strömung, die ihn immer mehr hinaus zieht, obwohl er mit Armen und Beinen panisch dagegen anrudert. Unerbittlich schrumpft der Strand zu einer schmalen Linie am Horizont schwarzen Wassers.

Schweißgebadet und verwirrt wachte er auf. Er wechselte unruhig seine Lage auf den Polstern und stieß dabei fast die Uhr vom Tisch. Wozu warten?, sagte er sich selbst. Er stand auf, sammelte die Blätter mit den Berechnungen zusammen und machte sich auf den Weg.

Kurz vor vier kam er am Institut an. Er begab sich zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals und nahm die Steintreppe am Rand, immer zwei Stufen auf einmal. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den Fenstern der umliegenden Häuser, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun musste er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?«, zischte die Gegensprechanlage. »Bibliothek«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unentschlossen im Lautsprecher, doch der Pförtner kannte Manfred als Institutsmitarbeiter und wusste, dass alle wissenschaftlichen Mitarbeiter einen eigenen Bibliotheksschlüssel hatten und gelegentlich nachts arbeiteten. Der Eingang wurde freigegeben.

Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen das Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Er ging zum Gebäude, wo seit einigen Monaten die kleine Fachbibliothek für Institutsangehörige untergebracht war, und begab sich in den Keller.

Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten und ringförmigen Gang unter der Erde. Von der Anlage führte ein unterirdischer Korridor zum Keller der Bibliothek. An beiden Enden wurde dieser Korridor durch massive Stahltüren begrenzt, doch die waren, wie Manfred richtig vermutete, aus Bequemlichkeit nicht verschlossen, denn je ein Teil des Durchgangs wurden von der Bibliothek beziehungsweise der Beschleunigeranlage aus als Abstellraum genutzt.

Manfred tastete sich im Dunkeln um schattenhafte Kartons herum zum Beschleuniger vor. Im letzten Jahr hatte eine Modernisierung die nutzbare Energie gewaltig gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief umständlich formulierte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch zwei gegen Ende seines Studiums absolvierte Praktika wusste er, wie alles zu bedienen war. Er legte den Hauptschalter um und aktivierte die notwendigen Systeme. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert.

Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verwendete keinen Gedanken darauf, die Geschehnisse zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht mehr über die Risiken des Experimentes nach. Die aufziehende Gefahr verstärkte seine Entschlossenheit. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen. Er war derjenige, der sie als Erster entdeckt hat und nutzen würde. Das Blut pochte in seinen Schläfen.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass der Pförtner hinter ihm stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred fuhr herum. Nichts. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige Stimme von hinten, von oben, von überall her dröhnen müsse: »NEIN!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.

Vor vierzehn Milliarden Jahren war das Higgsfeld auf einen globalen metastabilen Zustand eingerastet, in der Probe begann es jetzt zu fluktuieren. Erst stieg die Feldstärke um ein Milliardstel ihres Wertes, anschließend verringerte sie sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm enthaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurchb dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde nirgendwo halt machen.

In diesem Moment sah Manfred im Flackerlicht der Entladungsblitze eine Gestalt erscheinen. Es war die Tänzerin. Er sah sie direkt vor sich stehen, aufrecht, gestreckt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der volle Mund war in leuchtendem Rot geschminkt; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Über ihren Körper spannte sich bis zu den Füßen schwarze Kleidung wie eine glänzende Haut. Große dunkle Augen erwiderten Manfreds Blick.

Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell, als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein Staunen und ein kindliches Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
 



 
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