Die Tanzmaus

5,00 Stern(e) 1 Stimme

matrix

Mitglied
Sie war die schönste Feldmaus im ganzen Land. Das Eichhörnchen vergaß, Haselnüsse zu sammeln, und blickte sie unverwandt an. Eine Horde Waschbären, die aus der Nachbarschaft zu Besuch kamen, bewunderten ihre weißen Füßchen und lobten ihre grazile Gestalt. Die Weinbergschnecken ließen ihre Augen auf Stielen wachsen und schauten ihr neugierig hinterher. Sogar die weiße Eule, die nach Beute suchte, verlangsamte ihren geräuschlosen Flug, nur um einen kurzen Blick auf das zierliche Geschöpf zu werfen. Ganz in ihren Anblick versunken, beschloss sie, von nun an über das kleine Mäuschen zu wachen.
Die Tiere erfreuten sich an ihrer zarten Gestalt, an den Liebreiz ihrer Erscheinung und an ihren feinen, eleganten Bewegungen. Ja, sie war das Herz der Heide, die Sonne im Wald und der Glanz der Weide. Ihr Anblick verzückte alle Tiere.

Sie staunte und freute sich am allgegenwärtigen Interesse und blieb doch scheu, ja verlegen ob der großen Aufmerksamkeit. Denn war da nicht ein kleines Zucken im Auge der Nebelkrähe, ein etwas zu lautes Grunzen des Rothirsches, ein hastiges Wegdrehen der Hornisse. Hatte nicht der alte, graue Wolf sie gerade noch mitleidig aus den Augenwinkeln heraus betrachtet und darauf hin mit seiner Meute getuschelt. Schauten nicht die schwarzen Edelziegen und die Bergschafe immer dann zur Seite, wenn sie, freundlich ihnen zunickend, in ihre Richtung sah? War alles in Ordnung mit ihr? Gab es da nicht irgendetwas Hässliches, auf ihrem Rücken vielleicht, das für sie nicht erkennbar war?

Sie sah auf ihr seidig glänzendes Fell, auf ihre zarten Nasenhärchen, auf ihren lieblich gerundeten Bauch. Nein, hier war alles schön und gut. Es musste etwas mit ihrem Rücken zu tun haben. Ja, jetzt konnte sie es spüren. Ganz bestimmt verunstaltete dort ein Mal, ein hässlich wucherndes Ding, ihren Körper. Und alle versuchten sie von dieser schrecklichen Erkenntnis abzulenken.
Sie schaute, so gut sie es vermochte, über ihre Schulter nach hinten, aber da war nichts Auffälliges zu entdecken. Vielleicht, wenn sie sich noch weiter in diese Richtung mühte, vielleicht könnte sie dann erfahren, was es auf sich hatte mit ihr.

So drehte sie ihren Kopf gleichzeitig mit ihrem Hals immer weiter und noch ein Stückchen mehr. Wie von selbst folgte ihr schlanker Körper diesen Bewegungsimpuls, erst verhalten, dann zunehmend beschleunigt. Schon lief sie im Kreis ihrem Schwänzchen hinterher. Ohne Mühe hielt sie das Gleichgewicht. Immer schneller lief sie auf ihrer rasanten Jagd, ihre Beinchen wirbelten, ihre Öhrchen schmiegten sich an ihr Hinterhaupt. Im rasenden Tempo streckte, drehte und bog sich ihr Körper, ohne zu stocken oder gar zu stolpern ... Irgendwann musste es doch gelingen! Ihre Augen glänzten vor Aufregung und in Anstrengung.

Alle Tiere hielten inne, schauten und nickten sich freundlich zu. Sie waren angetan von ihrer wilden Entschlossenheit, ihrer Geschmeidigkeit und ihrer Anmut.
Der Luchs ergriff das Wort. Er sprach aus, was alle fühlten:
„Seht! Wie schön sie tanzen kann, unsere Tanzmaus!“
 



 
Oben Unten