Die Tasse

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Dimpfelmoser

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Stefan balanciert die Tasse auf der Innenseite seiner linken Hand. Ein kurzer Blick auf das kleine Gefäß, dann wandern seine Augen zurück zum Schrank, dessen Tür er eben erst geschlossen hat. Seine Lippen bewegen sich, wollen eine Frage formulieren, die sein Gehirn aber nicht konzipieren kann. Daher sagt er nichts, steht mit halb geöffnetem Mund in der Mitte der Küche, den Schrank fixierend. Stefan zwingt sich, an sein Ritual zu denken. Keine Fragen, keine Unsicherheit, denn er weiß ja, was er zu tun hat, kennt sein Ritual genau. Das Küchenritual, so nennt Stephanie das immer, und Stefan gefällt das Wort. Er mag Rituale, denn er mag die Gewissheit, dass alles stimmt, dass alles so ist, wie es immer ist. Aber das hier, das stimmt nicht, und das ist nicht gut, überhaupt nicht gut. Donnerstag. Heute ist doch Donnerstag? Warum stimmt das hier dann nicht? Stefan weiß, was passiert, wenn etwas nicht stimmt. Angst. Er weiß, dass sie immer auf ihn wartet, lauert, ihn leise umschleicht. Zum Sprung ansetzt. Er schließt die Augen. Da, da ist sie. Sie ist da.

Das Küchenritual. Jeden Morgen betritt er den kleinen Raum, und alles dort hat seine Ordnung, hat seinen Platz. Zunächst nimmt er das alte, eiförmige Frühstücksbrettchen vom Wandhalter neben dem Toaster und legt es auf den kleinen Tisch, direkt vor seinen Stuhl. Daneben gehört dann ein Messer aus der Besteckschublade, rechtes Fach, direkt rechts neben das Brettchen. Anschließend der Toast: Die Packung steht links neben dem Toaster, er nimmt zwei Scheiben heraus, steckt diese in das Gerät, schaltet es ein. Der Drehregler steht auf Stufe 2, so dass der Toast nur leicht anbräunt. Wartet, bis der Toaster das Brot wieder frei gibt, nimmt die Scheiben und legt sie, noch warm, auf die linke Seite des Brettchens. Danach die Butterdose, die steht im obersten Fach des Kühlschranks, nimmt sie hinaus und stellt sie oberhalb des Brettchens auf den Tisch. Schließlich das Himbeermarmeladenglas, unten links im Kühlschrank, das gehört links neben das Brettchen, so dass er, wenn er das Glas öffnet, durch das Fenster zur Linken des Tisches blicken kann.

Das Fenster, das ist ihm wichtig. Denn schaut er hinaus, sieht er direkt auf die alte, große Ulme, die ihn jeden Morgen durch sein kurzes Frühstück begleitet. Stefan mag es, wenn sie ihm hin und wieder freundlich zunickt. Manchmal gestikuliert sie auch heftiger und mahnt ihn, zu essen und zu trinken, so wie Stephanie es auch immer wieder macht, wenn sie mit ihm zusammen am Tisch sitzt. Die Ulme ist Stephanies Lieblingsbaum, so unscheinbar und schmucklos sagt sie, und dabei doch so stabil und gewaltig. Ein völlig uneitler Baum, sagt sie, deshalb mag sie ihn so gern. Stefan freut sich jeden morgen auf die Ulme, freut sich auf Stephanie, seine Schwester. Weiß, dass sie immer für ihn da ist, immer bei ihm ist. Stephanie winkt ihm zu. Jeden Morgen.

Vorher aber noch der Kaffee, auch der gehört zum Küchenritual. Ein halber Liter Wasser in Mutters uraltem Topf auf den Herd aufgesetzt. Der Topf steht immer auf dem Herd, aber Mutter kann nicht mehr kommen, sagt Stephanie. Sie ist ja auch schon sehr alt, fast so alt wie der Topf, hat sie ihm gesagt. Aber Stefan denkt nicht mehr so oft an Mutter, nur wenn er den Topf auf dem Herd mit dem Wasser befüllt, erinnert sich etwas in Stefan, kann er kurz ihr Gesicht erkennen, ihre strengen Augen spüren und das straff gekämmte, graue Haar riechen. An ihre Stimme erinnert er sich nicht. Mutter ist alt, aber Stephanie, Stephanie ist bei mir und hilft mir.

Den Herd auf Stufe neun stellen, den Instantkaffee vom Regal rechts neben dem Herd nehmen, die Dose rechts neben den Herd stellen. Einen Kaffeelöffel aus der Besteckschublade nehmen, aus dem schmalen Fach links unten, den Kaffeelöffel rechts neben die Kaffeedose legen. Warten bis das Wasser kocht. Drei Löffel Instantkaffee aus der Dose in das Wasser einstreuen, mit dem kleinen Löffel kurz umrühren, den Herd ausstellen. Löffel in die Spüle legen, die Kaffeedose schließen und auf das Regal zurückstellen. Und nun noch die Tasse.

Donnerstag. Also die Donnerstag-Tasse. Stefan weiß, dass sieben Tassen im Schrank stehen, für jeden Tag eine. Der Donnerstag ist blau. Also die Tasse mit dem blauen Schriftzug. Das Küchenritual: Er geht zum Schrank, öffnet die Tür, greift hinein und nimmt sich die Tasse mit dem blauen Schriftzug aus dem Schrank. Nicht den Henkel anfassen, das macht er erst, nachdem er Kaffee in die Tasse gegossen hat. Also von oben greifen, die Tasse mit der rechten Hand umfassen, herausheben und auf die linke Handfläche stellen, den Schrank mit der Rechten schließen, mit der Tasse auf der Linken zum Herd gehen.

Aber Stefan geht nicht weiter, er steht in der Mitte der Küche, die Augen immer noch geschlossen. Sein Ritual, das Küchenritual, stimmt nicht mehr. Das hier stimmt nicht. Warum? Was stimmt nicht? Die Tasse stimmt nicht. Die Tasse … Stefan öffnet seine Augen und betrachtet die Tasse auf seiner linken Hand. Nein, das ist nicht die Donnerstag-Tasse. Warum ist das nicht die Donnerstag-Tasse? Warum steht diese Tasse im Schrank? Warum habe ich diese Tasse hier in der Hand? Was ist das für eine Tasse? Was stimmt nicht? Warum? Stephanie?

Stefan schließt die Augen erneut, steht weiter wie angewurzelt zwei Schritte vom Herd entfernt, auf dem der Kaffee noch leicht köchelt. Es ist doch alles so wie immer? Was ist das für eine Tasse? Ich weiß doch, was als nächstes zu erledigen ist, alles ist geordnet, alles ist gut, sagt Stephanie immer. Aber das hier ist nicht gut, und jetzt ist sie da, die Angst. Angst, von der sie immer sagt, dass sie ihn bestimmt irgendwann vergisst, und die ihn doch immer wieder findet. Stephanie hilft ihm dabei, die Angst zu vertreiben, sie einfach wegsperren und den Schlüssel wegwerfen, sagt Stephanie immer. Alles hat seinen Platz, alles ist richtig und geordnet, Stephanie macht das. Stephanie? Die Angst, sie wächst langsam, aber unaufhaltsam, stetig. Was muss ich tun, Stephanie? Er presst die Augen zusammen, kann die Angst nicht vertreiben. Schluckt, will die Angst hinunterschlucken, irgendwo einsperren, öffnet ihr stattdessen jedoch die Pforten zu den hintersten Winkeln seines Selbst. Kann sie nicht mehr kontrollieren, konnte sie nie kontrollieren, Stephanie, sie kann das, sie hilft ihm, sie kann ihn retten. Stephanie?

Die Angst, sie wächst und wandert, kriecht den Hals hinab, füllt seinen Brustkorb, gleitet in seine Arme und findet seine Hände und Finger. Verflüssigt sich weiter, fließt seinen Rumpf hinab, dann seine Beine. Umspült seine Füße und verdunstet direkt. Benebelt ihn, umweht ihn, spielt mit ihm, täuscht ihn, wispert etwas, was? Ein Windhauch, irritierend zart, falsch und böse, bewegt die Äste. Sie winken ihm zu, die Blätter ein misstönendes Rascheln, raunen ihm etwas zu, was? Dein Frühstück, Stefan, iss. Alles ist gut. Nein, nicht die Ulme, lass sie. Lass mich in Ruhe. Lass sie in Ruhe, bitte. Stephanie? Kein Rascheln mehr, stattdessen ein Knistern und Knacken, der Hauch wird zum Wind, wird zum Sturm, wird drängender, fordernder, dichter. Greift schließlich zu, umfasst seine Glieder, krallt sich in seine Haut, frisst sich in seinen Mund, seine Ohren. In seine Finger, seine Hand. Stefan spürt die gewaltigen, brutalen Hiebe, fühlt, wie die Blätter, die Äste, immer heftiger gegen die Scheibe schlagen. Ihn mahnen, ihn bedrängen, ihm zurufen, etwas zu tun, was? Zerbrechen die Scheibe, zerbrechen ihn, Stephanie? STEPHANIE?

Billiger Touristenschrott? BILLIGER TOURISTENSCHROTT? DU BLÖDER ARSCH!“ Stephanie schien plötzlich außer sich vor Wut, aber das war sie nicht wirklich. Ja, sie schrie ihn an, und das passierte häufiger, auch wenn es ihr hinterher immer leid tat. „Verdammt, Stefan.“ Stefan blickte irritiert auf die wilden Haare, dann in ihr blitzendes Gesicht. Er sagte nicht sehr viel, es gab für ihn einfach nicht viel zu sagen. Wenn er dann aber doch mal sprach, passierte es hin und wieder, dass seine Schwester zum Vulkan wurde und all ihren Emotionen unmittelbar und ungefiltert Raum gab. Ihre Augen brannten sich dann magmaglühend direkt in sein Herz, ihre Stimme donnerte durch seine Brust, und ihre Haare, pechschwarz, ein Orkan ihrer Emotionen, verwirbelten seine Gedanken zu einer amorphen, konturlosen Masse, wrangen ihn aus, so dass kein weiteres Wort aus ihm heraustropfen konnte. Aber mochte der Ausbruch auch noch so heftig gewesen sein, schnell kühlte sie wieder ab und schaute dann mit plötzlich traurig schimmernden Augen hoch zu ihrem Bruder, der groß und stark, und doch so schlicht, so verletzlich vor ihr stand. „Ach Stefan, Du bist manchmal echt … naja, ich weiß, Du meinst es nicht so. Aber das hier, das ist, schau doch mal, hier, das ist Dein Sternzeichen.

Stefan betrachtete die Tasse. Ja, ein Kaffeebecher, Keramik, kein Porzellan. Aufgedruckt ein Löwe, in einem Trikot, darauf zu sehen eine Flagge. „Das ist der Union Jack, Stefan. Du weißt doch, ich war in London. In England. Das hier ist die Flagge von England. Naja, Großbritannien, ist ja auch egal.“ Löwe, sein Sternzeichen, das stimmte. Genau, Stephanie, das wusste er jetzt wieder, war über das Wochenende nach London gefahren. Sie musste mal raus aus der rheinischen Provinz, so sagte sie. Ich halte das hier in diesem Kaff nicht länger aus, schrie sie manchmal, wenn Sie ihm eigentlich erzählen wollte, wohin sie das Wochenende fahren würde. Wohin sie flüchten würde, so nannte sie das, wenn sie ihn nicht besuchen konnte. „Gernot war doch zwei mal am Tag bei dir? So wie ich doch auch immer. Ihr versteht euch doch ganz gut, ihr zwei?“ Aber sie war doch seine Schwester, und sie musste ihm sagen was zu tun ist. „Stefan, wenn Du weiter hier wohnen möchtest, dann musst Du auch auf Gernot hören. Das schaffst Du auch, das weiß ich.“ Er wusste das nicht, und wollte das nicht. Alles ist doch geordnet, Stephanie? Alles ist doch in Ordnung, oder? Warum bist Du immer wieder weg? Ich mag Gernot nicht. Gernot, der mir hilft, wenn Du nicht da sein kannst. Mir hilft und mir sagt, was zu tun ist. Stephanie, ich will nicht, dass Gernot hier ist. Geh nicht so häufig weg, Stephanie. Geh nicht, bitte, geh nicht!

Stefan öffnet die Augen, blickt zum Boden, sieht die Scherben der Tasse weit über die Küchenfliesen verteilt. Blickt nach links zum Fenster, hinter dem sich die starken Äste der Ulme im Herbststurm wiegen. Blickt auf den Tisch, sein Frühstücksplatz immer noch ohne Kaffee. Blickt auf den rechten Platz des Tisches, vor dem Gernot sitzt und ihn ansieht. „Stefan, oh mein Gott, es tut mir leid, so unendlich leid …“ Stefan sieht, wie Gernot sich mit seiner rechten Hand Tränen aus den Augen wischt. Sieht in Gernots linker Hand den Brief, den Gernot ihm zeigen will. „Sie hatte … Stephanie hatte … sie hatte einfach keine Chance, weißt Du? Der Wagen ist bei rot, ist viel zu schnell gefahren …“ Gernot spricht nicht weiter, kann nicht aussprechen, was nicht sein kann. Stephanie? Was muss ich tun? Stephanie, geh nicht. Bitte!

Der Kaffee auf dem Herd. Stefan riecht ihn, spürt die Wärme der Flüssigkeit in seinem Gesicht. Er blickt zurück zum Schrank. Donnerstag, heute ist doch Donnerstag? Ich brauche die Donnerstag-Tasse. Stefan geht zum Schrank und öffnet ihn. Mit der linken Hand, richtig, Stephanie?
 
Zuletzt bearbeitet:

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Dimpfelmoser,

eine bedrückende, sehr einfühlsam erzählte Geschichte!

Gefällt mir gut!

Du schaffst es, den Protagonisten beim Lesen nicht nur vor Augen zu haben, sondern sich auch in ihn direkt hineinversetzen zu können.

Perfekt auch die offene Frage am Schluss.

Viele Grüße

DS
 

Dimpfelmoser

Mitglied
Hallo DS,

vielen Dank für Deine Bewertung und Deinen Kommentar. Es freut mich, wenn die Geschichte in dieser Form funktioniert.

Viele Grüße
Dimpfl
 



 
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