lietzensee
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Die Teerunde
Der Hagebuttentee funkelte im Kerzenschein. Großmutter füllte fünf dampfende Gläser und außen am Wohnzimmerfenster klebte ein welkes Blatt. Manchmal sind es die kleinen Details, die einem noch lange im Gedächtnis bleiben.
"Das ist ein Schmuddelwetter vor der Tür", sagte Großvater, wodurch mir der Kerzenschein noch gemütlicher erschien. An diesem grauen Novembernachmittag waren Wolfgang und Anneliese zu Gast und wenn sie kamen, tischten meine Großeltern nur das Beste auf. Wir setzten uns auf Korbstühle. Großvater bot den Besuchern Pfefferminzlikör an.
"Nein, vielen Dank", antwortete Anneliese. Sie erklärte, dass Wolfgang und sie jetzt auf ihre Gesundheit achteten. "Für uns beide kein Alkohol und keine Zigaretten mehr." Wolfgang nickte dazu und ich staunte, dass die beiden gesünder als meine Großeltern leben wollten.
Opa griff zu seinem Zeichenblock, mit dem er gerne kleine Szenen im Haus skizzierte. Ich glaubte, dass nun ein günstiger Moment gekommen sei. "Kriege ich einen Honigtaler?", fragte ich und blickte in die Runde, um möglichst auch die wohlwollende Aufmerksamkeit der Gäste zu gewinnen.
"Die schmecken dir, wohl?" lächelte Anneliese.
Ja, Honigtaler schmeckten mir sehr. Aber Oma erklärte ihren Besuchern, was ich befürchtet hatte, dass sie erklären würde: "Der Junge war heute Morgen beim Zahnarzt." Sie sah mich an. "Denke daran, wie du auf dem Stuhl geschrien hast. Jetzt willst du dich doch mit Süßigkeiten zurückhalten, oder?"
Darauf wusste ich keine Antwort. Zahnärzte gaben damals noch keine Betäubungsspritzen und der Schmerz in dem hohen Zahnarztstuhl war abscheulich gewesen. Aber das änderte nichts am süßen Geschmack der Honigtaler. Verführerisch lag das Gebäck in der Porzellanschale auf der bestickten Tischdecke. Ich begann zu schmollen. Dass ich beim Zahnarzt geschrien hatte, ging Wolfgang und Anneliese überhaupt nichts an. "So schlimm war das gar nicht", sagte ich trotzig. Großvater lächelte und skizzierte mein Gesicht.
Anneliese saß in ihrem langen Kleid sehr aufrecht. Wolfgang trug einen Anzug und lehnte sich lässig in seinen Korbstuhl zurück. Er sah mich an. Seine Augen standen weit hervor, was mir unheimlich schien. "Schmecken diese Honigtaler wirklich?", fragte er. Er griff eines der runden Gebäckstücke und biss hinein. Lange kauerte er, bevor er rief: "Die sind lecker!" Alle lachten.
Oma versuchte, mich abzulenken: "Hast du schon Opas letzte Zeichnung gesehen, die von dem Buntspecht?" Seine besten Zeichnungen kolorierte Opa mit Aquarellfarben nach. In meinem Wohnzimmer hängt noch sein Bild vom alten Apfelbaum. Der Baum ist längst gefällt, zersägt und verheizt. Heute fängt das Bild für mich nicht nur die knorrige Gestalt ein, sondern auch den Geruch des alten Gartens. Aber an diesem Nachmittag konnten Opas Bilder mich nicht von den Honigtalern ablenken. Missmutig hörte ich dem Gespräch der Erwachsenen zu. Die vier alten Leute, so viel verstand ich, waren früher zusammen jung gewesen. Es gab Andeutungen über einen Tisch, geschmückt mit billigem Nachkriegspapier, auf dem jemand getanzt hatte. Ein Thema, das Oma offensichtlich nicht gefiel und von dem sie das Gespräch abzulenken versuchte. Wolfgang erzählte von einer Napola-Schule. Den Namen fand ich lustig und viel später habe ich dann gelesen, dass Napola die nationalpolitische Erziehungsanstalt der Nazis hieß. Eines Nachts, so behauptete Wolfgang, habe er aus der Küche dieser Napola drei Schnitzel entwendet. "Das Beste, was ich im Jahre 45 gegessen habe." Anneliese biss sich auf die Lippen. Meine Großeltern lachten. Beiläufig griff Wolfgang in die Schale mit Honigtalern.
"Bau doch mit deinen Bauklötzen noch mal einen Turm", schlug Großvater vor, als er sah, dass ich mich langweilte. Seine Finger spielten mit einem Kohlestift. Kaum fünf Jahre später konnte er dann nach dem Schlaganfall keine Tasse mehr halten.
Ich lief die Treppe hinab, fand unten aber bald auch die Bauklötze langweilig und als ich die Treppe wieder hinauf wollte, sah ich einen Schatten auf der Terrasse. Vor dem Schatten schwebte ein Lichtpünktchen. Ich öffnete vorsichtig die Tür und entdeckte Wolfgang.
"Mach die Tür zu", flüsterte er. "Leiste mir Gesellschaft." In seiner Hand glomm eine Zigarette. "Anneliese soll sich nicht unnötig Sorgen machen, dass ich von dem bisschen Rauchen Krebs bekomme." Ängstlich und fasziniert zugleich sah ich zu, wie Wolfgang die Zigarette zum Glühen brachte und dann eine Schwade Rauch in den fahlen Novemberabend blies. Er erzählte mir von einer giftigen Kreuzotter, die er im Wald gesehen hatte. Die Schlange kroch über den Weg und blieb dann plötzlich tot liegen. "Weißt du warum?", fragte Wolfgang. Ich wusste keine Antwort. Er sah mich an. "Das dumme Tier hat sich auf die eigene Zunge gebissen." Die Straßenlaternen sprangen an. Ihr Licht spiegelte sich seinen hervorstehenden Augen. "Jetzt schleichen wir uns unauffällig wieder hoch!"
Oben im Wohnzimmer begann Wolfgang zu erklären, dass er die Benzinleitung seines Trabants überprüfen musste, weil die wohl oft leckte. Ich mochte Wolfgangs Trabant. Er fuhr damit immer so schnell um die Kurve, dass Anneliese laut schimpfte. Aber wie eine Benzinleitung an etwas lecken konnte, das verstand ich nicht. Während ihr Mann erzählt, hielt Anneliese ihren Blick auf die Porzellanschale gesenkt. Schließlich griff sie nach dem größten Honigtaler. Ich wollte darüber etwas Unhöfliches sagen. Da servierte Großmutter belegte Brote und ich schnappte mir die Schnitte mit Blutwurst und Senf. Vor dem Fenster legte sich Nebel über den Garten.
Nach dem Essen rief Wolfgang: "Ich muss noch mal die Benzinleitung prüfen." Er blickte mit seinem hervorstehenden Blick in die Runde und ich schaute unsicher in mein Teeglas. Schon hallten seine Schritte auf der Treppe.
"Jetzt raucht er wieder." Anneliese schüttelte den Kopf. Dann goss sie ein Glas Pfefferminzlikör ein. Sie leerte das Glas in einem Zug und schob es so über den Tisch, dass es direkt vor Opa zu stehen kam. Mein Großvater griff nach seinem Zeichenblock. Er skizzierte das Glas und darüber Annelieses Gesichtsausdruck. Ein Stoß von Oma unter dem Tisch ließ ihn den Block wieder beiseitelegen.
Als Wolfgang die Treppe hinauf kam, roch er nach Rauch und scharfem Pfefferminzbonbon. Er zwinkerte. Dann griff er sich den vorletzten Honigtaler und begann zu kauen. So ein Unsinn, konnte ich nur denken. Ein Pfefferminzbonbon musste doch den ganzen Honiggeschmack kaputt machen. Ich starrte in die Flamme der Kerze. Dann versuchte ich, sie mit der Spitze meines Teelöffels anzustupsen.
Später am Abend wurde das Gespräch angeregter. "Eine strenge Rüge der Partei...", lachte Großvater, ohne den Satz zu beenden. Anneliese schüttelte den Kopf. Von der Partei wusste ich damals nur, dass Gespräche über sie langweilig waren. Erst viel später habe ich gelesen, dass strenge Rüge ein offizieller Begriff aus den Parteistatuten der sozialistischen Einheitspartei war. Aber wofür ein erwachsener Mann wie Wolfgang eine strenge Rüge bekommen konnte, das regte meine kindliche Fantasie an.
Oma und Opa tranken jeder einen Pfefferminzlikör. Alle lachten und mein Blick hing an der Porzellanschale. Klein und mit zerbröseltem Rand, lag darin noch ein einziger Taler. Kerzenschein tanzte über seine Glasur. Meinem Blick folgend, strich Oma mir über den Kopf und tippte bedeutungsvoll mit dem Finger an ihr künstliches Gebiss. Oma buk ihre Honigtaler aus eigenem Honig. Die Bienenstöcke standen in der hinteren Ecke des Gartens, wo ich sie als junger Mann dann im Gras liegen fand. Eines Nachts, als sie kaum noch laufen konnte, hatte sie sich verwirrt noch einmal zu den aufgegebenen Bienenkästen geschleppt. Ihre Hand war kalt. Um sie herum summten emsig Insekten.
Wolfgang stieß meinem Großvater an. Er rief: "Weißt du noch? Wie frech du damals Aneliese in unserem Lehrerseminar..."
"Junge", unterbrach da meine Oma das Gespräch. "Es ist schon spät! Geh dich waschen und putz dir gründlich die Zähne."
"So spät ist es noch gar nicht", protestierte ich, konnte aber leider die Uhr noch nicht lesen. Im Badezimmer kroch der Novemberwind durch das undichte Fenster. Ich schmierte Zahnpasta auf die Bürste. Einmal hin, einmal her, dann spuckte ich weißen Schaum ins Waschbecken, damit Oma sah, dass ich wirklich geputzt hatte.
Ein letztes Mal durfte ich noch zum Gute-Nacht-Sagen ins Wohnzimmer. Wolfgang und Aneliese zogen sich schon ihre Mäntel an und die Porzellanschale war leer. Großmutter räumte Gläser vom Tisch. Großvater bließ die Kerzen aus.
"Gute Nacht, mein Junge", sagte Aneliese und versuchte, sich in Kleid und Mantel zu mir herabzubeugen. Sie ist wohl erst vor ein paar Jahren in einem Pflegeheim gestorben. Wolfgang zögerte, bevor er mir die Hand gab. Im nun dunklen Zimmer glänzten seine hervorstehenden Augen noch unheimlicher.
Er zwinkerte: "Keiner hat es gemerkt." Dabei ließ er in meiner Hand den halb zerkrümelten Honigtaler zurück. Der roch nach Tabak. Trotzdem, als alle Erwachsenen die Treppe hinab stiegen, schob ich das Gebäck gierig zwischen meine Zähne. Sein Geschmack mischte sich mit Pfefferminze der Zahnpasta. Zum Abschied ließ Wolfgang noch die Hupe des Trabants quaken. Scheinwerfer leuchteten vor dem Wohnzimmerfenster auf. Ihr Licht strich durch die kahlen Gartenbäume, schlingerte die Betonstraße hinab und verschwand schließlich zwischen den Kiefern am Waldsaum. Wolfgang ist nicht an Krebs gestorben. Er kaufte sich in den 90ern einen VW-Polo. Damit fuhr er zu schnell in eine Kurve und gegen einen Baum. Seine Todesanzeige habe ich aus der Zeitung geschnitten.
Fünf Menschen goss Oma dampfenden Tee in die Gläser. Ich bin der Einzige, der davon noch berichten kann. Damals konnte ich es nicht ahnen. Aber heute ist rauchiger Pfefferminz-Honig-Taler der Geschmack meiner Kindheit.
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