Die Töchter aus Derdij

Omar Chajjam

Mitglied
Die Töchter aus Derdij

Heute ist Derdij nur ein kleiner Oasenort am Rand der Großen Sandwüste, und die Euro-päer, die auf ihren Wüstentouren das fast verlassene Nest passieren, ahnen nicht, daß unter den umgebenden Sanddünen die Reste einer goldglänzenden Hauptstadt liegen. Aber der Märchenerzähler im Café Süleiman erzählt den Männern, die auf den Stühlen unter dem Feigenbaum sitzen und die Wasserpfeife rauchen, immer wieder eine Ge-schichte. Die schlürfen ihren Pfefferminztee und träumen davon, daß Derdij einst Mittel-punkt eines blütenduftenden Landes war, in dem sich dreiundvierzig Oasen wie eine Per-lenschnur am Hals der Fatima aneinanderreihten.

Der Stolz der Frauen dieses Landes waren ihre Männer. Goldverzierte Rüstungen über wasserblauen Seidengewändern, in die schwarzen Locken Goldbänder geflochten, so saßen sie in den Teehäusern unter den Dattelpalmen oder schritten schwatzend, ihre Schwerter im Arm, durch die Gassen von Derdij. Hinter den Vorhängen, hinter den kleinen vergitterten Fensterlöchern blickten die Frauen manchmal träumend ihren Männern nach. Sie dachten an sie, wenn sie in den Plantagen die Erde hackten und die Weinreben hoch banden. Es waren glückliche Zeiten in Derdij.

Über alle Männer in Derdij und auch über alle Frauen, Kamele und Esel herrschte, ge-setzt von Allah, ein Fürst. Er war natürlich noch prächtiger anzuschauen als alle Männer seines Reiches. Jeden Morgen wurden seine Schnurrbartspitzen eigens von einem dafür angestellten Reichsvergolder vergoldet.

Im Arm des Fürsten lag die Reichskleinodie, ein Ebenholzstab mit Zauberkraft. Alle Erde, die der Fürst mit dem Stab berührte, bedeckte sich mit duftenden Blumen. Die Steine verwandelten sich in Rosenbüsche. Statt der Felsen, die den Sandstürmen der Wüste trotzten, wiegten sich Palmen im Zephir. Nur durch den Ebenholzstab, so meinte das Volk, sei aller Reichtum der Oasen gekommen. Die Macht des Fürsten und das Recht zu herrschen waren aus diesem Stab entstanden. Vom Vater hatte der Vater des Fürsten den Stab in einem großen Staatszeremoniell erhalten. Und so von Sohn zu Sohn erbte der sich fort.

Bis eines Tages, als es wieder ans Sterben ging, keiner im Harem sich fand, der sich Sohn nennen durfte. Nur dreiundvierzig Töchter hatten ihm seine vielen Frauen geboren - ebenso viele, wie sein Reich Oasen umfaßte. Und ihre Augen hatten die Farbe des E-benholzes.

Der Schrecken war groß unter den Oberen des Reiches, denn ohne den Arm, der den Stab trägt, so war ihre Meinung, sei er ohne Wert. Die Gelehrten wiesen weiter auf die Tatsache hin, daß Männer zur Befruchtung notwendig seien. Die Erde, sowie die Steine seien von Grund auf unfruchtbar, daher würde in den Frauen die Erde repräsentiert. Das würde schon in dem Begriff “Mutter Erde” deutlich werden. Stabträger dürfe darum nur ein Mann sein.

Die Priester aber deuteten die Schriften so, daß nur ein von Allah gesetzter direkter Ab-komme des Fürsten auch Fürst werden dürfe, um den Stab zu tragen. Aber da gab es weit und breit nur ebenholzäugige Töchter, und Schwiegersöhne hatten daher keine Chance.

Die Beamten, Gelehrten und Priester beriefen eine große Beratung ein und kamen zu dem Schluß, daß das Glück des Landes nur zu erhalten sei, wenn ein Sohn gefunden würde. Da es ihn aber nicht lebendig gab, mußte man ihn aus der Erde und den Felsen des Landes bauen. Gleich ging man ans Werk. Auf dem Marktplatz in Derdij errichteten die Handwerker die Gerüste. Die Steinfigur wuchs zum stolzesten Mann im Land und der Tag kam heran, an dem sie zum Stabträger, zum Fürsten des Landes geweiht werden sollte.

Was aber hatte mit den dreiundvierzig Töchtern zu geschehen? Die Beamten des Landes fürchteten die dreiundvierzig möglichen Prinzen. Daher mußte ein Ehemann gefunden werden, der zugleich würdig war und die Macht nicht gefährdete. Man versprach sie dem Dschin des Tassili, dem mächtigen Herrn und Dämon des benachbarten Hochlandes. Zugleich mit der Weihe der Steinfigur sollte die Hochzeit vollzogen werden.

Die Bräute wurden in lichtblaue Seidengewänder gekleidet. In dieser Nacht war es üblich, daß die Bräute die Farbe der Männer tragen durften. Der alte Fürst schritt, gestützt von zwei Tscherkessen seiner Leibgarde durch die Vorhalle des Palastes auf den Marktplatz hinaus, um den Stab der Steinfigur im Zeremoniell zu übergeben. Durch das lybische Tor ritt der schwarze Dschin wie der Wüstenwind in die Stadt ein, und die Frauen verbargen sich voll Schrecken hinter den Fensterlöchern. Der Fürst hielt den Ebenholzstab weihevoll in beiden Händen und schritt die Treppen zum Standbild empor, als der schwarze Dschin den Marktplatz erreichte. Alles war genau geplant von den Priestern. Die dreiundvierzig Töchter mußten in dem Augenblick verheiratet werden, in dem der Stab in die Hände der Statue gelegt wurde. Die lichtblauen Fahnen flatterten in dem so ungewohnt heißen Wüs-tenwind, die Fackeln warfen unruhige Schemen an die Häuserwände, als die ungewöhnli-che Hochzeit und Herrschaftsübergabe vollzogen wurde.

Wer konnte wissen, daß die Macht des Ebenholzstabes in die ebenholzäugigen Töchter des Fürsten eingegangen war - wer, daß steinerne Söhne eben nur Steine zeugen kön-nen. Im Augenblick zerfiel das grüne Land in Sand und Felsen und unter dem glühenden Atem des Dschin vergingen die dreiundvierzig Oasen zu Sanddünen - da wo heute die Große Sandwüste liegt.

So endete der alte Märchenerzähler gewöhnlich die Geschichte, nachdem er eine bedeu-tungsvolle Pause gemacht hatte. “Morgen vielleicht, ihr Männer Derdjis, werde ich euch das Ende der Geschichte erzählen. Doch zuvor laßt mich die Frauen Derdjis befragen nach den Töchtern der Töchter des Fürsten. Denn nur diese werden den Bann lösen kön-nen in tausend und tausend Jahren. Und Zeit ist es doch, meine Söhne der Wüste, die tausend und tausend Jahre sind gekommen.”
 

George Polly

Mitglied
Hallo Omar,
das (hoffentlich abänderliche) Schicksal
meines Rechners erlaubt es mir zur Zeit
leider nur, in der Leselupe präsent zu sein.
Ich kann zu meiner Verzweiflung nicht einmal
die Startseite von boardy aufrufen.
Aber nun zu dieser Geschichte:
Das erinnert mich wirklich an einen alten
orientalischen Märchenerzähler.
Du hast die Fähigkeit und das Wissen, um
richtig authentisch zu erzählen.
Da macht es Spass zu lesen.
Hauptaussage ist für mich wie in der Zaubervase
die mystische Fruchtbarkeit, der Abglanz des
Paradieses.
Diesmal ist er aber konkret auf die Frau(en)
bezogen, was mich dazu führt, diese Geschichte
ebenfalls mit deinem Leben in Beziehung zu setzen.
Ich glaube, die meisten dieser orientalischen
Geschichten beruhen auf ähnlichen Erlebnissen,
oder auf Erfahrungen, die die Autoren gesammelt
haben. Manche schreiben indes vielleicht nicht
nur für sich selbst, sondern auch über die Geschichten anderer und geben ihnen dadurch wieder ein Stück
Hoffnung oder Lebensmut zurück.
Vielleicht ist es ja auch möglich, dass eine solche
Geschichte auch den Autor selbst beflügeln könnte,
wenn es ihm denn gelänge, etwas Trost zu spenden
und dass sich daraus etwas völlig Neues ergäbe,
das sich selbst und den Erzähler in nie gekannte
Höhen tragen würde.
Selbstverständlich steht dem Verfasser dieser
Antwort jedoch kein Urteil zu und er stellt auch
nur eine, etwas gewagte, aus Mutmaßung erstandene
These auf, für die er sich gern entschuldigen würde,
sollte sie nicht zutreffen.

Mit freundschaftlichem Gruß
Georgie
 



 
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