Die Träume des einsamen Hirten (F)

Die Träume des einsamen Hirten

Tief im Gebirge, das die Grenze zwischen den Reichen des Ostens und denen der wilden, kannibalischen Waldmenschen bildet, lebte einst ein Hirte mit seiner Herde.
Der Hirte war einsam auf den Dächern der Welt, denn oftmals sehnte er sich nach den heimischen Klängen seines Volkes, das talgeboren untergehen musste, als die schrecklichen Winter reißend ihre Opfer verlangten. Nicht ahnte der Hirte, dass er der vergessene, letzte seines Volkes war, wenn er auf seiner knöchernen Flöte die sanften, vergangenen Melodien anstimmte.
Doch inmitten der windumtosten Gipfel, nicht fern aller Göttlichkeit, ereilte den Einsamen sein Schicksal in den Nächten, die der Mond hell strahlend den Wolfen verführt.
In einer Nacht solcherart, wie sie nur selten sind – von einem glitzernden Sternenhimmel bedeckt, am Boden warm, und doch von kühlen Luftströmen durchflossen, die sich an alten Bäumen, deren weitreichendes Wurzelwerk unsichtbar und doch spürbar für jenen, der daran lehnt, dringt; wenn Dryaden für die Reisenden singen und mit lieblichen Gesängen den Gedanken an vorvergangene Äonen erwecken, in einer solchen Nacht begab es sich, dass der Hirte sanft seine zauberhafte Weise spielte, und plötzlich sich umringt sah von Geschöpfen allergrößter Schönheit, Zartheit und Grazie, Nymphen, deren wortloses Hören ihn umso mehr verblüffte, als er solches bei den Menschen niemals erlebt hatte. Der Baum, an dessen Rumpf er sich gesetzt, wiegte sich seicht, und die zahlreichen, grünen Blätter raschelten leise im Wind und flüsterten schnell und verbreiteten die Botschaft vom traurigen Flötenspieler.
Viele zahllose Geschöpfe kamen da hinzu und lauschten der anmutigen Melodie, und als der Hirte geendet hatte, baten sie ihn, es von vorne zu spielen.
Also nahm ein zweites Mal der einsame Hirte die Knochenflöte zwischen die Lippen und spielte wunderbar die Melodie der Toten, und immer noch ahnte er nicht, dass er der Letzte seines Volksstamms war. Doch gesellten sich weitere Dryaden und Nymphen hinzu, und schauten träumend, wie der erhabende Wind die Töne hinwegtrug, nach oben, zu den Göttern, oder nach unten, zu den eisigen Totenfeldern.
Als er geendet hatte, sprachen sie mit glockenhellen Stimmen vom Untergang der Talgeborenen, und der Hirte schwieg und lauschte, bis sie verstummten.
Im Folgenden saß er manche Tage stumm am Fuße jenes ehrwürdigen Baumes, und er ließ seinen Blick über das Tal schweifen oder spielte die zauberhafte Weise zum Gedenken an sein Volk. Die Nymphen kamen nicht wieder, und der einsame Hirte auf dem Dach der Welt, der vom Tod seiner Freunde träumte, verhungerte an den dicken Wurzeln des Dryadenbaums, und sein Geist entfloh dem Grauen einer Welt; die für manchen nicht geschaffen ist.
 



 
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