Die Träume des Unteroffiziers

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Meckie Pilar

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Die Träume des Unteroffiziers

Vor einiger Zeit sah sich ein Freund von mir bei einer Haushaltsauflösung um. Er ist ein Sammler besonderer Bücher und hoffte, im Nachlass des verstorbenen alten Herrn etwas Interessantes zu finden. Als er im Bücherschrank einen dicken, handgebundenen Band entdeckte, sah er ihn sich genauer an. Der Lederrücken hielt die aus rohem Lindenholz gefertigten Buchdeckel zusammen, in die liebevoll Pflanzenornamente geschnitzt waren. Zwei schmale Lederbänder waren zur Schleife gebunden. Als er sie öffnete, sah er, dass es sich um viele Dutzend handgeschriebener Briefe handelte. Alle waren aus den letzten drei Jahren des Zweiten Weltkrieges datiert und es wechselten je ein Brief in einer exakten, klaren Handschrift mit Seiten, die mit einer fast fröhlich anmutenden Schrift aus runden, vollen, ein wenig verspielten Buchstabenketten bedeckt waren.
Mein Freund hatte sich mit dem Band auf einen der verbliebenen Wohnzimmerstühle gesetzt und wollte sich gerade in seinen Fund vertiefen, als ihm die Tochter des Verstorbenen, selbst schon eine ältere Dame, auf die Schulter tippte.
„Es tut mir Leid, die Briefe sind nicht verkäuflich. Ich hätte sie vorher an mich nehmen sollen. Entschuldigen Sie bitte. Es sind die Liebesbriefe, die sich meine Eltern vor ihrer Hochzeit geschrieben haben“, sagte sie etwas verschämt.
Mein Freund entschuldigte sich und mit einem Blick auf den dicken Band fügte er freundlich-höflich hinzu: „So viele Briefe. Das muss ja eine große Liebe gewesen sein!“
Die Dame zögerte einen Moment und meinte dann mit einem süß-saueren Lächeln: „Das kann man eigentlich nicht direkt sagen. Meine Mutter war während ihrer langen Ehe immer eine traurige und unglückliche Frau.“
Mein Freund sah sie erstaunt an. „Was ist passiert?“, fragte er und merkte im gleichen Moment, dass er zu weit gegangen war. Das ginge ihn nun wirklich nichts an, entschuldigte er sich sofort.
Die Frau blickte ein paar Sekunden nachdenklich vor sich hin. Dann sah sie ihn an. „Wissen Sie, ich habe mir gerade eine Kanne Kaffee gekocht. So eine Haushaltsauflösung ist anstrengend, auch für die Seele. Jetzt sind alle fortgegangen, Sie sind der Letzte. Wenn Sie Lust haben, trinken wir einen Kaffee zusammen und ich erzähle Ihnen die Geschichte? Irgendwann muss sie ja mal erzählt werden.“
Und so kam es, dass mein Freund nicht den Briefband aber dafür diese Geschichte mit nach Hause brachte.

***


Als der Unteroffizier Herbert Binder aus Gelsenkirchen im Jahre 1940 als Flugzeugtechniker in Dresden stationiert wurde, erschien ihm diese Stadt als die Erfüllung all seiner Träume.
An freien Abenden ging der junge Mann in seiner Unifom durch die belebte, barocke Innenstadt und konnte sich an ihrer Pracht und Schönheit nicht satt sehen. Von Brücken und Häuserfirsten grüßten überall bewegte, steinerne Figuren. Ihm kam es so vor, als wollten sie ihn einladen, in ihren Kreis zu treten. Die gegliederten Häuserfronten, die weiten, blühenden Parks, die lächelnde Elbe mit ihren breiten Ufern und der eleganten Dampferflotte, all das waren für ihn Symbole einer Lebensweise, wie er sie bisher höchstens aus Büchern kannte.
Die Stationierung in Sachsen war sein erster längerer Aufenthalt fern der Heimat. Wäre nicht der Krieg gewesen, so hätte er das Ruhrgebiet vielleicht nie verlassen. Er hatte bisher nicht viel mehr gesehen als die Ruhrstädte mit ihren zusammengewürfelten Häuser- und Menschenmassen. Seine Kindheit und Jugend hatte er zusammen mit fünf Geschwistern in einer Gründerzeitvilla verbracht, die hoch umzäunt und von undurchdringlichen Hecken umschlossen wie eine Insel mitten in der Innenstadt lag. Die Kammern der drei Jungen lagen im Dachgeschoss. Hier verlebte Herbert glückliche Kinderjahre. Das Allerbeste an seinem Elternhaus war für ihn das große Gartengrundstück hinter der elterlichen Villa. Dieser Garten erschien ihm riesig, vielgestaltig und unerschöpflich. Um ein verwildertes, rundes Rosenbeet herum lief ein breiter Weg, von dem sternförmig vier andere Gartenpfade abgingen. Die führten jeder in eine ganz eigene Gartenlandschaft. Für Herbert war es, als markierten sie unterschiedliche Erdteile seiner Kindheit.
Herbert nannte den Garten hinter seinem Elternhaus sein Paradies. Ihn vermisste er nach dem Krieg wohl von allem am meisten.

Fortsetzung folgt
 



 
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