Meckie Pilar
Mitglied
Fortsetzung 3
Als Herbert 15 Jahre alt geworden, waren die Faschisten an die Regierung gekommen. Die Familie von Herbert wollte nichts mit den neuen braunen Machthabern zu tun haben. Die Eltern hielten die Nationalsozialisten für proletarisch und damit für ganz und gar indiskutabel. Und weil sie die katholische Kirche ablehnten, schienen sie ihnen außerdem gefährlich und bedrohlich. Keines der Geschwister machte bei der Hitlerjugend mit. Wenn am Sonntag Nachmittag der Probst der Stadtgemeinde zu Kaffee und Kuchen im elterlichen Wohnzimmer saß, dann tauschte man sich mit besorgter Miene über die beunruhigenden politischen Entwicklungen aus. „Das Schlimmste an den Nazis“, sagte der Probst und stellte seine Kaffeetasse leise klirrend auf die Untertasse zurück, „das sind die heidnischen Bräuche, die überall propagiert werden.“ Und er warf einen Blick auf den in breitem Gold gerahmten schlechten Druck von Michelangelos Abendmahl, der über dem Sofa hing, und er lächelte zufrieden.
In der Jugendgruppe wurde auch über die Nazis gesprochen. Hier erfuhr Herbert von der unmenschliche Behandlung der Juden, von den Bücherverbrennungen und von den Plänen, andere Völker der eigenen, der angeblichen Herrenrasse unterzuordnen. Politik war Herbert eigentlich zutiefst fremd. Die Umstände brachten es jedoch mit sich, dass er im antifaschistischen Widerstand aktiv wurde. Seine Gruppe verbreitete heimlich die Schriften des Bischofs Graf von Gahlen und half Juden, sich zu verstecken und schließlich das Land zu verlassen.
Nachdem er die deprimierenden und demütigenden Erfahrungen der Grundwehrausbildung überstanden hatte, blieb er als Zeitsoldat bei der Wehrmacht. Es schien ihm ratsam, sich in der Höhle des Löwen zu verstecken. Er meldete sich für sechs Jahre, wurde bald Unteroffizier und konnte endlich, wie erhofft, ein Fernstudium zum Ingenieur beginnen. Nun saß er fast jeden Abend in der Stube, arbeitete an den Lehrbriefen, schrieb mit seiner exakten Schrift Seite für Seite voll, zeichnete, las, rechnete und paukte. Seine Mentoren waren begeistert. Seine Noten bewiesen, was er konnte und dass sein Einsatz sich lohnte. Herbert war jetzt kein einfacher Eisenwarenverkäufer mehr. Er war auch nicht mehr das vierte Kind der Familie Binder aus Gelsenkirchen, das einzige, das das Gymnasium nicht geschafft hatte. Er studierte. Er lernte. Die Welt öffnete sich ihm. Er würde dazugehören und mitreden können. Und all das hatte er geschafft aus eigener Kraft.
Einige Zeit später schickte man ihn als technischen Inspekteur nach Dresden, um dort Militärflugzeuge zu warten.
Für Herbert fing in Dresden ein neues Leben an. Ihm kam es so vor, als beginne er überhaupt jetzt erst damit, richtig zu leben. Hier, in dieser Stadt traf er auf so vieles, was er bisher nur aus seinen Büchern kannte. Der Himmel über Dresden erschien ihm weit und offen, die Menschen, mit denen er zusammen kam, wirkten auf ihn lebensfroher, gebildeter und an allem interessierter als die Menschen seiner Heimat. Herbert hatte das Gefühl, man habe ihn in eine Welt geschickt, in der das Leben wunderbarer Weise ganz nach den Gesetzen der Schönheit und des Geistes gestaltet war. Er genoss es, in einer Stadt zu leben, wo man Kultur und Schönheit nicht in dunklen Museen und Galerien aufsuchen musste, sondern wo man ihr an jeder Ecke begegnen konnte, im Vorbeigehen sozusagen.
Und noch etwas trug dazu bei, dass er diese Stadt schon bald wie eine zweite Heimat empfand: Neben den Kunstschätzen und unerschöpflichen Bildungsquellen entdeckte auch vertraute Paradiese. In den großen, prächtigen Parks gab es überall verwunschene und verwilderte Ecken, die ihn an den elterlichen Garten erinnerten und in der Dresdener Heide, die seine Gruppe auf ihren Wochenendtouren durchstreifte, glaubte er sich in seine heimatlichen Wälder zurückversetzt.
Sein Studium nahm er auch weiterhin ernst. Es war für ihn jetzt erst recht zum Lebensnotwendigsten geworden.
Herbert vermisste in dieser Zeit weder seine Heimat noch seine Familie. All das war für ihn weit weggerückt. Dennoch schrieb er in den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Dresden pflichtbewusst regelmäßig nach Hause. Seine Mutter oder auch eine seiner Schwestern antworteten ihm dann mit kurzen, freundlichen Briefen und erzählten ihm, was es in Gelsenkirchen Neues gäbe.
Seine Eltern beobachteten seine berufliche Entwicklung mit Wohlwollen. Dass er nun ausgerechnet im Osten Deutschlands stationiert war, gefiel ihnen allerdings nicht besonders. Dresden war so weit weg von Westfalen und dazu so weit im Osten. Dort hinten fing vermutlich schon Polen an. Dass Herbert in seinen Briefen begeistert von Schlössern und Königspalästen schrieb, verwunderte die Mutter ein wenig. Das konnten aber wohl kaum wirklich deutsche Gebäude sein! Aber immerhin, und das war eigentlich das Wichtigere, sahen die Eltern, dass Herbert fleißig war und wie seine Brüder technische Begabung bewies. Das beruhigte sie und sie zeigten ihm in ihren Briefen, dass sie gut hießen, was er tat.
Herbert musste über solche Briefe schmunzeln. Von den Träumen in seinem Herzen und seinem Kopf wussten sie nichts und sie hätten diese Träume wohl auch nicht begriffen. Träume waren in der Familie von Herbert kein Thema, über das man sprach. Vielleicht hatte man einfach keine Träume. Aber wenn man welche hatte, pflegte man sich von ihnen wie von Jugendflausen zu verabschieden, sobald der Ernst des Lebens einen einholte.
Als Herbert 15 Jahre alt geworden, waren die Faschisten an die Regierung gekommen. Die Familie von Herbert wollte nichts mit den neuen braunen Machthabern zu tun haben. Die Eltern hielten die Nationalsozialisten für proletarisch und damit für ganz und gar indiskutabel. Und weil sie die katholische Kirche ablehnten, schienen sie ihnen außerdem gefährlich und bedrohlich. Keines der Geschwister machte bei der Hitlerjugend mit. Wenn am Sonntag Nachmittag der Probst der Stadtgemeinde zu Kaffee und Kuchen im elterlichen Wohnzimmer saß, dann tauschte man sich mit besorgter Miene über die beunruhigenden politischen Entwicklungen aus. „Das Schlimmste an den Nazis“, sagte der Probst und stellte seine Kaffeetasse leise klirrend auf die Untertasse zurück, „das sind die heidnischen Bräuche, die überall propagiert werden.“ Und er warf einen Blick auf den in breitem Gold gerahmten schlechten Druck von Michelangelos Abendmahl, der über dem Sofa hing, und er lächelte zufrieden.
In der Jugendgruppe wurde auch über die Nazis gesprochen. Hier erfuhr Herbert von der unmenschliche Behandlung der Juden, von den Bücherverbrennungen und von den Plänen, andere Völker der eigenen, der angeblichen Herrenrasse unterzuordnen. Politik war Herbert eigentlich zutiefst fremd. Die Umstände brachten es jedoch mit sich, dass er im antifaschistischen Widerstand aktiv wurde. Seine Gruppe verbreitete heimlich die Schriften des Bischofs Graf von Gahlen und half Juden, sich zu verstecken und schließlich das Land zu verlassen.
Nachdem er die deprimierenden und demütigenden Erfahrungen der Grundwehrausbildung überstanden hatte, blieb er als Zeitsoldat bei der Wehrmacht. Es schien ihm ratsam, sich in der Höhle des Löwen zu verstecken. Er meldete sich für sechs Jahre, wurde bald Unteroffizier und konnte endlich, wie erhofft, ein Fernstudium zum Ingenieur beginnen. Nun saß er fast jeden Abend in der Stube, arbeitete an den Lehrbriefen, schrieb mit seiner exakten Schrift Seite für Seite voll, zeichnete, las, rechnete und paukte. Seine Mentoren waren begeistert. Seine Noten bewiesen, was er konnte und dass sein Einsatz sich lohnte. Herbert war jetzt kein einfacher Eisenwarenverkäufer mehr. Er war auch nicht mehr das vierte Kind der Familie Binder aus Gelsenkirchen, das einzige, das das Gymnasium nicht geschafft hatte. Er studierte. Er lernte. Die Welt öffnete sich ihm. Er würde dazugehören und mitreden können. Und all das hatte er geschafft aus eigener Kraft.
Einige Zeit später schickte man ihn als technischen Inspekteur nach Dresden, um dort Militärflugzeuge zu warten.
Für Herbert fing in Dresden ein neues Leben an. Ihm kam es so vor, als beginne er überhaupt jetzt erst damit, richtig zu leben. Hier, in dieser Stadt traf er auf so vieles, was er bisher nur aus seinen Büchern kannte. Der Himmel über Dresden erschien ihm weit und offen, die Menschen, mit denen er zusammen kam, wirkten auf ihn lebensfroher, gebildeter und an allem interessierter als die Menschen seiner Heimat. Herbert hatte das Gefühl, man habe ihn in eine Welt geschickt, in der das Leben wunderbarer Weise ganz nach den Gesetzen der Schönheit und des Geistes gestaltet war. Er genoss es, in einer Stadt zu leben, wo man Kultur und Schönheit nicht in dunklen Museen und Galerien aufsuchen musste, sondern wo man ihr an jeder Ecke begegnen konnte, im Vorbeigehen sozusagen.
Und noch etwas trug dazu bei, dass er diese Stadt schon bald wie eine zweite Heimat empfand: Neben den Kunstschätzen und unerschöpflichen Bildungsquellen entdeckte auch vertraute Paradiese. In den großen, prächtigen Parks gab es überall verwunschene und verwilderte Ecken, die ihn an den elterlichen Garten erinnerten und in der Dresdener Heide, die seine Gruppe auf ihren Wochenendtouren durchstreifte, glaubte er sich in seine heimatlichen Wälder zurückversetzt.
Sein Studium nahm er auch weiterhin ernst. Es war für ihn jetzt erst recht zum Lebensnotwendigsten geworden.
Herbert vermisste in dieser Zeit weder seine Heimat noch seine Familie. All das war für ihn weit weggerückt. Dennoch schrieb er in den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Dresden pflichtbewusst regelmäßig nach Hause. Seine Mutter oder auch eine seiner Schwestern antworteten ihm dann mit kurzen, freundlichen Briefen und erzählten ihm, was es in Gelsenkirchen Neues gäbe.
Seine Eltern beobachteten seine berufliche Entwicklung mit Wohlwollen. Dass er nun ausgerechnet im Osten Deutschlands stationiert war, gefiel ihnen allerdings nicht besonders. Dresden war so weit weg von Westfalen und dazu so weit im Osten. Dort hinten fing vermutlich schon Polen an. Dass Herbert in seinen Briefen begeistert von Schlössern und Königspalästen schrieb, verwunderte die Mutter ein wenig. Das konnten aber wohl kaum wirklich deutsche Gebäude sein! Aber immerhin, und das war eigentlich das Wichtigere, sahen die Eltern, dass Herbert fleißig war und wie seine Brüder technische Begabung bewies. Das beruhigte sie und sie zeigten ihm in ihren Briefen, dass sie gut hießen, was er tat.
Herbert musste über solche Briefe schmunzeln. Von den Träumen in seinem Herzen und seinem Kopf wussten sie nichts und sie hätten diese Träume wohl auch nicht begriffen. Träume waren in der Familie von Herbert kein Thema, über das man sprach. Vielleicht hatte man einfach keine Träume. Aber wenn man welche hatte, pflegte man sich von ihnen wie von Jugendflausen zu verabschieden, sobald der Ernst des Lebens einen einholte.