Die Traumhändler. Erster Teil.

Wenn ich Ihnen meine Geschichte nun erzähle, werden Sie sich nicht glauben. Meine Aurachirurgin, Frau Dr. Wixen hat sich nicht geglaubt, nicht die Leute aus der Supervisionsgruppe und auch nicht der Therapeut, den wir von der Supervisionsgruppe kannten und sie ist doch wahr. So wahr ich hier sitze und Sie Ihnen erzähle. Aber es ist keine ganz kurze Geschichte. Das müssen Sie wissen, bevor sie beginnen zu lesen. Wenn Sie aber beginnen, dann bitte ich sie mir, in alle Abgründe zu folgen. Denn was ich entdeckt habe, möchte ich gerne mit ihnen teilen.

Ich hatte bereits meine ersten zwölf Millionen mit dem Verkauf von Bitcoins gemacht. Die hatte ich damals als junger Student gekauft, um damit das Gras zu bezahlen, das mein Studienfreund Thomas und ich regelmäßig mit den beiden Russenmädchen und dem blinden Opernsänger unten im Keller in der Schuhmann Straße in Lindenthal weggerauscht haben. Und die Pizza für den Fressflash danach haben wir manchmal auch noch mit Bitcoins bezahlt. Jedenfalls ist der USB Stick mit den Coins dann irgendwann in Vergessenheit geraten. Damit er nicht verloren geht, habe ich ihn in eine Tüte gepackt, die ich vom Grasabfüllen noch übrig hatte, sauber verklebt und dann zur Asche meiner Eltern in die Urne gegeben. Ich dachte mir, dass die Asche zum einen den Stick vor irgendwelchen zufälligen Stoßbeschädigungen, sozusagen als eine Art natürlicher Airbag, schützen würde, zum anderen gehörte ich zu der Sorte Mensch, die gerne wichtige Dinge verlegen. Ich hatte es mir daher zur Angewohnheit gemacht, besonders wichtige Sachen an Plätzen aufzubewahren, die ich niemals vergessen kann.

Ursprünglich hatten mein Vater und meine Mutter natürlich verschiedene Urnen gehabt. Aber Vater hatte wie immer die größere Urne. Genauso wie das Haus, dass er gekauft hatte, das Auto und die Stereoanlage war auch die Urne völlig überdimensioniert. Wir haben uns darin und damit nie richtig wohl gefühlt. Es war alles so groß, dass es einen immer drohte, zu verschlucken. Und so musste es für ihn am Ende dann auch die größte und breiteste Urne sein. Darin hätte ein ganzes Hochhaus Platz gehabt. Samt Haustieren. Nun lag Vater als kleines Häufchen Elend die ganzen Jahre in der großen Urne so alleine herum und ich hatte schon genug an ihr zu schleppen. Da war Mutters Urne, die zwar kleiner, aber nicht wesentlich leichter war, einfach eine zusätzliche Last. Eines Tages traf ich auf dem Höhepunkt eines DMT Trips, den wir uns mit echtem Krötengift gegönnt hatten (zu unserer Studentenzeit konnte man sowas noch machen, ohne gleich ins gesellschaftliche Abseits befördert zu werden) eine Delegation der so genannten Maschinenelfen, jene zierlichen Bewohner einer Paralleldimension, die unser Gehirn erst unter dem Einfluß von DMT wahrnehmen kann und die meist in Formen, Musik und Zeichen mit uns kommunizieren. Ich schlenderte gerade über eine große orange Wiese, Vaters Urne in der Einen und Mutters in der anderen Hand, als die beiden Kleinen einfach aus einer Wolke gesprungen kamen und sich schnatternd um mich scharten.

„Hey ihr Kleinen, sprecht mal langsamer. Ich versteh kein Wort“ rief ich ihnen zu. Ich kannte sie bereits von anderen Trips und kam gut mit ihnen zurecht. Wenn man erst einmal akzeptiert hatte, dass sie das Universum aus drei Zeitdimensionen und nur einer Raumdimension wahrnehmen, konnte man deutlich einfacher auf alles klar kommen, was sie so an Eigenwilligkeiten von sich gaben. Die beiden gaben sich Mühe und begannen tatsächlich verständlicher zu sprechen. Maschinenelfen, gerade solche, die einem Tief in einem DMT Trip begegnen, können hilfreiche kleine Geister sein oder eine arme Seele auch mir nichts, dir nichts hinab in den Abgrund der Psychose stürzen. Meine beiden hatten einen hilfreichen Tip für mich parat. Sie schlugen mir vor, dass ich doch einfach die Asche meiner Mutter in die Urne mit der Asche meines Vaters kippen solle, damit ich künftig nur noch eine Urne mit mir herumzuschleppen hätte. Das fand ich eine außergewöhnlich gute Idee. Und sobald der Trip abebbte, das geht bei DMT recht schnell, machte ich mich ans Werk und mischte Mutter und Vater mit einem großen Kochlöffel ineinander. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Nicht nur war die hohle Vaterurne jetzt deutlich voller geworden, auch die langweilige Farbe, dieses Eisenbahngrau, war durch Mutters hellen Teint deutlich abwechslungsreicher geworden. Manchmal, unter dem Einfluss von etwas Meskalin, meinte ich sogar, darin eine Einstein-Rosen-Podolsky Brücke voller Farben und Formen sehen zu können.

Hier, bei Mama und Papa, hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, die wichtigsten Dinge zu lagern: Die Geburtsurkunde säuberlich gerollt und gefaltet, den Zweitschlüssel zur Studentenbutze, das Foto von Leonie, meiner Oberstufenliebe aus der zwölften Klasse, der ich mehr oder weniger heimlich von der achten bis zur Dreizehn hinterherschmachtete, ohne, dass ich jemals bei ihr aus der „Beste Freundzone“ herausgekommen wäre und natürlich meinen USB Stick. Auf dem waren nicht nur meine Bitcoins, sondern auch ein paar Gedichte, die ich für Leonie geschrieben hatte. Eine Rede, die ich halten wollte, wenn ich das erste Mal im Fernsehen auftreten würde mit den Namen meiner sämtlichen Ex-Freundinnen aus Schultagen, denen ich allen versprochen hatte, sie feierlich zu erwähnen, sobald ich berühmt wäre und ein Foto von meinem kleinen Bruder, der an einer Überdosis in den Neunzigern ganz tragisch verstorben war. Der Rest meiner Studentenbude glich einem Bombenfeld und hätte ich den Stick dort irgendwo aufbewahrt, wäre er, wie meine Hoffnungen, Sorgen und Ängste aus Kindheitstagen dem Vergessen anheim gefallen, oder schlimmer: dem Unbewussten.

Jahre später -ich war gerade beisitzender Richter am Schwurgericht, einer großen Strafkammer am Landgericht an der die Kapitalverbrechen verhandelt werden, geworden und hatte frisch von der Staatsanwaltschaft in den Richterdienst gewechselt- fiel mir die Urne bei einem Umzug wieder in die Hände. Ich öffnete sie, befreite die kleine Tüte von den staubigen Überresten meiner Eltern und verkaufte alle Bitcoins zum Höchstkurs. Das machte mich auf einen Schlag zum Multimillionär. Natürlich verriet ich es niemandem aber ich bemerkte mit der Schwemme des Geldes, die mir plötzlich zur Verfügung stand doch eine Wesenveränderung an mir, die nicht zum Guten gereichte und mich in eine dunkle Richtung trieb, dich ich längst für überwunden gehalten hatte. Ich verfiel sogar in eine regelrechte Depression und es fiel mir immer schwerer am Morgen aus dem Bett zu kommen. Da ich mir plötzlich alles leisten konnte, war mir nichts mehr wichtig. Meine Arbeitskollegen zeigten auf dem Juristenball stolz ihre Rolex zur Schau. Darüber konnte ich nur schmunzeln. Ich selber hatte mehrere Patek Philippe zu Hause. Alleine von der Aquanaut besaß ich mittlerweile vier Stück. Die teuerste, die mit dem Tiffany und Co. Ziffernblatt, ein fast schon giftgrünes Absitnhgrün, war mittlerweile gute 2,5 Millionen wert. Ich hatte sie damals durch die Vermittlung eines mittlerweile guten Bekannten erhalten, den ich im Rahmen eines Aktfotoshootings kennengelernt hatte und der mein Faible für teure Uhren kannte und mich in Kontakt mit einer rotzfrechen und blutjungen Youtube Influencerin brachte, die diese Uhr wiederum von einem ihrer Sugar-Daddys geschenkt bekommen hatte. Ich kaufte sie ihr für 550k ab und betrank mich mit dem kölner Fotografen, der das Geschäft vermittelt hatte vor Freude bis zur Besinnungslosigkeit mit Limoncello Spritz, nur das unser „Spritz“ natürlich ein „Ace of Spades Brut Gold“ war, der nicht nur vom Namen her besonders gut zu Motorhead passte, die wir dabei rauf und runterhörten.

Dem Fotografen, der mich ohnehin schon nackt gesehen und für ein großes Foto in meinem Schlafzimmer in allen verschiedenen Posen fotografiert hatte (er hatte mein Po-Loch mit einer Makroaufnahme gar in einer Neuinterpretation des „Kraters des Apollon“ verwandelt) , und vor dem mir ohnehin nichts mehr peinlich sein musste, ein gewisser Dionysos von Enno, entlockte mir zu fortgeschrittener Stunde das Eingeständnis meines psychischen Zusammenbruchs. Und wie ich ihm so erzählte, dass ich meinen Sinn für den Sinn des Lebens verloren hätte, dass ich mich leer und einsam fühle, dass nichts diese Leere füllen könne, dass alles viel besser gewesen wäre, wenn ich damals auf dieser Lagerfeuerparty im Bergischen Leonie einfach geküsst hätte, mit ihr geschlafen hätte, mir ihr zusammengekommen wäre und ich nichts mehr bereue in meinem Leben, als diese Chance nicht ergriffen zu haben und dass ich dafür nun verflucht sei, niemals das Glück auf Erden finden zu können, da schämte ich mich plötzlich nicht mehr für mein Eingeständnis, denn von Enno hatte mir die ganze Zeit zugehört und -besoffen wie er war- doch endlich angefangen zu heulen wie ein Schloßhund. Dabei fiel er mir um den Hals und schluchzte: „Es tut mir so leid“. Seltsamerweise fühlte ich selber nichts, außer einer gewissen Befreiung und dem Mut, offener über meine Depressionen zu sprechen.

Die nächste Gelegenheit dazu ergab sich, als ich mit einem alten Freund, der im gleichen Jahr wie ich bei der Staatsanwaltschaft angefangen hatte, aber dort geblieben war, vom samstäglichen Badmintonspiel klitschnass geschwitzt aber glücklich verausgabt, im Café saß und er mir fast beiläufig den Zusammenbruch seiner ganzen Lebenswelt eröffnete: „Ich habe mich von Clarissa und Tanja getrennt“, murmelte er und rührte schweißgebadet in seinem Kaffee: „Ich suche gerade eine Wohnung. Kann ich bei dir einziehen für ein paar Tage?“

„Klar“ sagte ich. Ich wollte viel mehr sagen, aber mehr ging nicht. Ich war völlig schockiert. Stig Barty war mein Beziehungsheld gewesen. Nicht nur, dass er -anders als ich- überhaupt eine feste Beziehung über mehrere Jahre zu Stande gebracht hatte. Er hatte sogar zwei gestandene, wunderschöne und hochintelligenter Frauen gleichzeitig gehabt und lebte über mittlerweile fünf Jahre in einer Dreierbeziehung mit beiden. Nun war es offenbar vorbei. „Klar kannst du“ sagte ich wieder und kam mir dabei so dämlich vor, dass ich merkte, wie ich rot wurde, was seit meiner Kindheit nicht mehr passiert war. „Ich meine.. klar.. sorry, Stig. Es tut mi leid“. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. Soviel Körperkontakt hatten wir noch nie gehabt, obwohl wir uns durchaus nahe standen. Er blickte mich aus seinen großen, schlauen, braunen Augen an aber darin war wirklich eine erschütternde Traurigkeit, die mich nötigte, mit einer noch depressiveren Geschichte von mir selbst für Ablenkung zu sorgen: „Du, ich leide an Depressionen“, murmelte ich: „Ich bin total antriebslos. Ich habe zu gar nichts mehr Lust. Dabei kann ich mir alles leisten. Aber es bedeutet mir nichts mehr. Es ist schrecklich.“

„Um Gottes Willen“, sagte Stig Barty und wischte sich die Tränen aus den Augen: „Das ist ja furchtbar. So schlimm ist es bei mir zwar noch nicht, aber ich fürchte, dass ich auch da landen werde. Wie ist es denn so weit gekommen ?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube es liegt an Leonie“, sagte ich und seufzte.

„Wer ist Leonie“, fragte er und begann bedächtig an seinem Kaffee zu schlürfen. Ein Zeichen dafür, dass mein Ablenkungsmanöver funktionierte. Die Sache hatte nur einen Haken: Ich selber wurde immer niedergeschlagener, je mehr ich darüber erzählte: „Ach Leonie, weißt du damals in der 13. Ich fand sie eigentlich schon immer total toll und habe mir ausgemalt, dass mein Leben eigentlich nur mit ihr richtig funktionieren kann, schon damals, hab ich so gedacht. Aber sie war immer in irgendwelchen Beziehungen und mehr als gute Freundschaft war für mich nicht drin. Aber den guten Freund habe ich wirklich gut gespielt und im Geheimen sie angeschmachtet und mich nach ihr gesehnt. Dann kam er endlich, Dieser Abend, der mein Leben hätte verändern können, dieser verfluchte Abend. Wir waren irgendwo im Bergischen zelten und hatten ein Lagerfeuer gemacht und dabei Apfelkorn rumgereicht und auf der Klampfe gespielt und gesungen und dann hat sie sich tatsächlich an mich geschmiegt. Ich konnte ihren Atem riechen: so frisch und rein. Mein Gott, wie ihre Haare geduftet haben. Das war unglaublich. Ich dachte, wenn alle Frauen nur so riechen könnten, wäre es der Himmel auf Erden. Und dann hat sie mich an die Hand genommen und wir sind zum Waldrand gegangen, Hand in Hand.“

„Klingt romantisch“, schmatzte Stig Barty, der mittlerweile seine eigenen Sorgen vergessen hatte und die ganze Sahne auf einmal in den Mund genommen hatte. Links und rechts hing sie ihm schon im Bart.

„Und dann hat sie tatsächlich mit diesem Lächeln, diesem Leonie Lächeln, plötzlich ein Kondom hochgehalten und damit gewedelt. Sie hat gar nichts gesagt. Sie hat nur gelächelt und da war so ein Funkeln in ihren Augen und ihre Haut war so rosig und warm.“

„Wow“, machte Barty und nahm sich nun auch die Sahne von meinem Kaffee.

„Und ich habe dann. Also ich habe dann. Ich bin.“

„Ja habt ihr es direkt da am Waldrand getrieben ? Da in der Nähe des Lagerfeuers ? Mutig aber sehr fresh“, sagte er und versuchte sich durch seine Sprache die Jugendlichkeit zu bewahren, die er in Berufsdingen immer ablegen musste.

„Ich bin wieder zum Lagerfeuer gegangen“, keuchte ich und schwieg.

„Du bist was ?“ fragte Barty ungläubig. Er spuckte den Kaffee auf seinen Löffel und ein Teil davon landete auf meinem Badmintonschläger.

„Ich bin wieder zurückgegangen. Ich konnte es nicht tun. Ich habe zu ihr gesagt: Lass uns nichts überstürzen. Wir haben doch alle Zeit der Welt. Ich bin dafür noch nicht bereit, obwohl ich nichts so sehr begehre wie dich. Kannst du das verstehen ?“

Barty lachte. Es machte mir nichts mehr aus. Ich erzählte einfach weiter: „Sie sagte sowas wie, ja klar, und es wäre nicht schlimm und so aber kurz danach kam sie mit einem von den Basketballspielern zusammen und das war es dann“.

Barty hörte auf zu lachen und nun war er es, der seine Hand auf meine Schulter legte: „Hörmal. Die Liebe, Sex. Gefühle. Das ist alles verdammt kompliziert. Mach dir doch keine Vorwürfe. Das sollte vermutlich alles so sein“

Und nun geschah etwas sehr peinliches. Ich begann mitten im Café zu heulen wie ein Schlosshund: „Es ist alles dieser eine Moment Stig! Wenn ich damals bloß anders gehandelt hätte! Alles wäre anders gekommen. Sie wäre jetzt bei mir. Mein Leben hätte einen Sinn!“

Barty blickte sich im Café um und begegnete den schockierten Blicken der anderen Spieler mit einer gewissen, nur ihm eigenen Ruhe und Gelassenheit: „Die Wechseljahre“, rief er den anderen Gästen zu: „Ihm gehts gut. Er braucht nur etwas frische Luft“ und mit diesen Worten zerrte er mich hoch und wir verließen das Café und gingen auf den Parkplatz. Dort hatte ich mein SF 90 Stradale Cabrio geparkt, das ich nur privat und auch nur außerhalb der Stadt fahren konnte, um bloß von keinem meiner Kollegen damit gesehen zu werden.

„Warst du schonmal bei einem Psychologen mit deinem Problem? Du weißt ja, ich kenne da ein paar gute aus der Supervisionsrunde aus der Streichelzooabteilung“

Streichelzoo war ein etwas ins „Unreine“ gesprochenes Floskelwort in der Behörde für die Strafabteilung bei der Staatsanwaltschaft die sich mit sexuellen Delikten zum Nachteil von Minderjährigen beschäftigte.

„Ja“ sagte ich: „Es hat nichts geholfen. Ich erkenne mich selber nicht mehr wieder. Es ist furchtbar. Früher hab ich über so was gelacht. Stell dir das mal vor. Wie erbärmlich von mir. Heute bereue ich jeden einzelnen Schmunzler. Das ist ja wie eine Krankheit“

„Das ist eine Krankheit“, unterbrach mich Barty: „Aber nichts, was man nicht wieder in den Griff kriegen kann. Ich habe eine Idee. Vertrau mir!“

Ich vertraute ihm. Auch noch, als wir am Samstag Abend zum Rudolfplatz fuhren und vor einem Tattoostudio mit angeschlossenem Nachtclub ankamen: „Das Roxy ? Ist das dein Ernst ? Ich hab es schon mit Alkohol versucht,. Es hat nicht funktioniert!“

„Nein, kein Alkohol“ sagte er und schob mich an den Türstehern vorbei, die ihn offenbar gut zu kennen schienen und uns einfach passieren ließen. Wir betraten die Discothek und sofort erwischte uns der fette Sound von Metallica direkt am Kinn: „Master of Puppets! Wunderbar!“.

Barty zog mich durch den ziemlich vollen Laden direkt zur Theke, wo uns eine schlangenäugige Bedienung zischend begrüßte. „Wow“, sage ich zu Barty: „Die Dame hat ja Reptilienaugen.! Die Augen, wie von einer Viper! Sensationelle Kontaktlinsen“, sagte ich. Barty lehnte sich zu der exotischen Frau und sprach mit ihr. Sie nickte kurz und ging dann. Nach kurzer Zeit kam sie zurück: „Kommen Sie bitte mit Herr Staatsanwalt. Sie können direkt mit durchkommen“. Dann führte sie uns an der Theke vorbei durch einen langen Flur in einen großen Raum, wo wir vor einem gigantischen Schreibtisch aus dunklem Holz Platz nahmen. Kerzen erleuchteten den Raum. Schwere Samtvorhänge, mit seltsamen silbernen Runen verziert, hingen vor den Fenstern und im gemauerten Kamin prasselte ein Feuer, passend zur Jahreszeit. Man reichte uns zwei grüne Getränke in aufwendig verzierten Gläsern. Ich nahm es auf und roch daran. Es roch streng, stark, nach Wermut, Edelraute, etwas Orange, auch Zitrone: „Absinth?“ flüsterte ich. Barty nickte: „Es gibt hier die beste grüne Fee weit und breit. Ich wundere mich, dass du noch nie hier gewesen bist!“ Das klang fast vorwurfsvoll und ich entgegnete: „weil ich normalerweise viel und hart arbeite und ich mit solchem Mittelalterkam nichts anfangen kann!“

Bevor Barty etwas erwidern konnte, öffnete sich eine andere Tür im Raum und hinein trat ein großgewachsener Mann mit blasser, fast weißer Haut. Seine Haare waren glatt wie Seide und ebenfalls schneeweiß und aufwendig zu einem Zopf geflochten, der von mehreren Spangen, die mit Mondsteinen verziert waren, gehalten wurden. Die langen Beine steckten in hohen Lederstiefeln. Der peschschwarze Gehrock lag elegant über dem kostbaren Seidenhemd, das aufgeknöpft war und die nackte Brust des Mannes umspielte. Er setzte sich direkt vor uns an den Schreibtisch.

Er hatte hohe Wangenknochen, ein fast zu filigranes Gesicht für einen Mann von seiner Größe und Statur. Die Nase war lang geschwungen, wie der Schnabel eines Adlers. Die großen Augen aber waren es, die alle Blicke sofort auf sich zogen. Sie waren bernsteinfarben und funkelten gefährlich im Schein des Feuers: „Hier haben sie es aber mit Kontaktlinsen“ flüsterte ich, mehr zu mir selber, als zu Barty. Der Mann saß uns nun recht Nahe gegenüber, so dass man seinen Geruch wahrnehmen konnte und instinktiv kräuselte ich die Nase. Er roch stark, streng. Da war ein Gerucht wie von verbranntem Laub, von Erde und Eisen, fast wie von Blut, von ganz frischem Menstruationsblut um ihn und als er zu sprechen begann kam seine Stimme tief und bronzen, klar und doch ganz ursprünglich: „Ich grüße sie, Herr Staatsanwalt! Wie schön, sie wieder als meinen geschätzten Gast begrüßen zu dürfen. Und wie ich sehe haben sie Besuch mitgebracht ? Nun mein Name ist Caliban. Ich bin der Inhaber dieser Lokalität. Und ich kredenze ihnen den besten Absinth, den sie weit und breit finden werden“ Er schnippte mit den Fingern und die Reptilienfrau brachte uns zwei Bergkristallgläser mit eiskaltem Wasser. „Gletscherwasser“, raunte Caliban: „echtes Gletscherwasser. Nur das reinste und beste für meine Gäste“. Er lachte: „Das hat sich fast gereimt, haben sie gehört ? Wunderbar! Nun, was führt sie zu mir Herr Staatsanwalt ?“

„Mein Freund hier“, begann Barty: „ist in ein tiefes Loch gefallen und kommt alleine nicht mehr hinaus. Ich dachte, wo sie mir schon einmal geholfen haben, könnten sie ihm vielleicht auch helfen ?“

Caliban schaute mich mit großen Augen an. Der Bernstein in seinen Augen hatte seltsamerweise nichts bedrohliches. Eher etwas beruhigendes. Wie ein Sonnenuntergang oder wie die Flocken des Südens: „Dann erzählen sie doch mal von ihrem Problem“ flüsterte er und nahm einen großen Schluck vom Absinth. Seltsamerweise machte es mir nichts aus, diesem Wildfremden mein Herz auszuschütten und so erzählte ich ihm die ganze Geschichte: Wie ich Leonie das erste Mal getroffen hatte, wie ich ihr Freund wurde, natürlich nur ihr platonischer Freund, wie ich ihr immer mit Rat und Tat zur Seite stand, ihre Haare beim Kotzen gehalten hatte, sie nachts von irgendeiner Disco nach Hause begleitet hatte, ihr Alibi gewesen war, wenn sie mit einem ihrer vielen Typen eine Nacht verbracht hat, mit ihr für Deutsch und Philosophie und für Englisch gelernt hatte, Gedichte von Robert Lowell für sie interpretiert hatte, seine Verbindung mit Rilke und Thomas Mann in einem Referat für sie ausgearbeitet hatte, für das sie eine eins plus bekommen hatte und wie ich in dieser schicksalsschwangeren Nacht im Oberbergischen am Rand des Lagerfeuers abgelehnt hatte, sie zu küssen oder mit ihr zu schlafen, Ich offenbarte diesem Fremden den Fehler meines Lebens. Den Grund für meine Depression und meinen unaufhaltsamen Verfall.

„Wenn sie mich heilen können. Ich habe genug Geld“, murmelte ich abschließend. Dann starrte ich ihn an und das Schweigen kam mir vor wie eine Ewigkeit. Dann nahm ich einen großen Schluck vom Absinth und lies mich in dem uralten Stuhl zurückfallen.

Caliban musterte mich lange und lange sagte er nichts. Dann endlich begann er zu sprechen in dieser ganz tiefen, ihm eigenen sonoren Stimme: „Ich könnte ihnen hundert Mal erklären, dass ihr Problem nicht Leonie heißt, dass sie vermutlich nicht einmal ein Problem haben, sondern bloß eine Aufgabe, nämlich legitimes Leid zu durchleiden. Aber das würden sie nicht verstehen und deswegen gebe ich Ihnen die Chance an den Ort und die Zeit zurückzukehren, um den Fehler, von dem Sie glauben, dass es ein Fehler ist, von dem sie glauben, dass er ihr ganzes Leben bestimmt und bis zu ihrem Tod bestimmen wird, wieder gut zu machen, sich und ihre Zukunft zu heilen. Aber diese Erfahrung kommt mit einem sehr großen Preisschild“

„Wie ich bereits sagte, ich kann jeden Preis bezahlen“. Mein Hals fühlte sich furchtbar trocken an. Ich nahm einen tiefen Schluck vom Gletscherwasser, das unfassbar belebend war.

Der Nachtalb lachte laut auf: „Ich brauche kein Geld. Geld ist bloß ein Tauschmittel, ob legitim oder nicht, ob gerecht verteilt oder nicht, das liegt nicht an mir zu entscheiden, aber dennoch ist es nichts anderes, als ein Tauschmittel. Tauschen muss nur der, der etwas braucht. Ich brauche nichts, weil ich nichts wünsche. Aber das spielt keine Rolle. Der Preis, den sie zahlen müssen ist diese eine Erinnerung, die sie so lange angetrieben hat und die sie jetzt lähmt. Denn wenn sie zurückkehren, werden sie nicht mehr derjenige sein, der die gefährliche Reise begonnen hat, auf die ich sie schicken kann.“

„Welche Reise bitte ?“ Ich musste husten. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Langsam wurde mir die Sache unheimlich, Das Leuchten in seinen bernsteinfarbenen Augen wurde stärker: „Nun, wie ihnen der Herr Staatsanwalt sicher erläutert hat, bin ich nicht nur nachts ein Discothekenbesitzer, tagsüber ein Tattoomeister, sondern immer schon ein Traumhändler. Und in dieser uralten Eigenschaft kann ich sie an den Ort und an die Zeit zurückführen, zu der sie sich so sehnlich zurückwünschen, um alles zu heilen, alles in Ordnung zu bringen“: Er lachte, als er „alles heilen“ betont langsam und gedehnt aussprach.

„Verzeihung“, ich würgte die Worte hervor: „Wer oder was sind die Traumhändler bitte ?“

Da erhob sich Caliban von seinem Platz und ging zur Wand, nahm die Laute auf und sprach wieder: „Ihr wollt wissen, wer die Traumhändler sind ?Dann hört gut zu. Ich will es euch erzählen“ und mit diesen Worten begann er eine seltsam fremdländische Melodie zu spielen und dabei die uralten Verse zu rezitieren:

Am Ende des Dunkelwalds endet die Welt
Dort leben die Traumeshändler
Aus Manticorleder genäht ist ihr Zelt
Sie alle sind Weltenpendler

Zwischen unserer Welt und der Anderen
wo die Schatten in Träumen gehen
wo im Schlaf unsre Seelen hinwandern
sich bloß noch in Wahrheiten sehen

Der Dunkelalb Caliban, mit schneeweißen Haaren,
der führt der Träumer begierige Seelen
Damaris im Federkleid treibt die Scharen
die Seelenfresser und dunklen Schemen

mit ihrem Gesang
und Federtanz

Shirtan, in Kleidern aus Namen der Wacht,
singt mit dem Träumer den wahren Namen
um ihn nicht zu verlieren in der Traumreise Nacht
(und ihn auch im Wahnsinn zu ahnen)

Dorthin wo die Reise gehen soll,
kann ein Mensch nur durch Träume gehen
Verborgen die Wege, von Verlockungen voll
eben war da ein Weg, jetzt ist nichts mehr zu sehen !

Zu viele hat der Schlund schon gefressen
Die sind in der Nacht verloren gegangen
Ihr Seelenfaden zu früh gerissen
und hat der Wahnsinn sie eingefangen

schlimm steht's um die ohne Namen,
denn die Traumhändler finden ihn nicht für Dich !
Du musst ihn finden und Shirtan aufsagen,
sonst findet im Schlund deine Seele nicht Halt

Dann trägt man Dich auf den Scharlachkatafalk
und Cail Trikesh, der Heiler, besingt deine Seele
gesichts- und namenlos bleibst Du gefangen
von Dämonen, die Dich verspotten und quälen

Zwar schaut der Alb mit den Bernsteinaugen
auch durch den Trug der "Wirklichkeit";
doch der Schlund ist des Neids und gierig sein Saugen
und die Bernsteinaugen verdunkelt das Leid

(Allzu schnell verfällt ihr Morgenlicht
wie dieses Lied in der Zeit)

Warum, so fragst Du, will einer reisen
wo die Rückkehr doch so ungewiss ist ?

Nun

man sagt, sie mache selbst Irre zu Weisen
erinnert an Wichtiges, das man vergisst

Im Zentrum des Schlundes, da läge verborgen
ein sich selbst genügender, friedlicher Sinn
Dort gibt es kein Gestern, kein Heute und Morgen
Dort fände, wer suche :

"Ich bin, der Ich bin"

Doch die Reise ist weit und das Licht ist schwach,
wenn Damaris die Glocken und Schellen spielt

Wenn Shirtan die Flammen des Aufbruchs anfacht
und Caliban in Deine Lügen lacht
und schreit Deine Angst nicht
mit aller Macht

FLIEHT ?!
 
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