Die Trennung

Die Trennung

Eine Geschichte von Stefan Seifert




Er war etwa fünf Jahre alt, als sie sich trennten. Es muß im Sommer gewesen sein. Sebastian spielte im Garten mit einem Ball. Nachdem er eine Weile still für sich gespielt hatte, schoß er den Ball hoch in die Luft, so daß er in ein entferntes Gebüsch fiel. Sebastian wollte den Ball holen. Das war nur recht und billig, schließlich hatte er ihn leichtfertig dorthin befördert. Aber Er wollte nicht. Er fand das Ganze mit dem Ball dumm und wollte lieber etwas anderes tun. Da trennten sie sich. Sebastian holte den Ball. Danach stand er mit dem Ball in der Hand da und sah die eigensinnige Gestalt, die bis vor kurzem noch ein Teil von ihm gewesen war, den Gartenweg hinuntergehen. Dann war sie verschwunden.

Seitdem hatte Sebastian diesen angestrengten, bemühten Ausdruck im Gesicht. Als müßte er etwas Fehlendes wettmachen. Es gab ein Photo, das nach seiner Schuleinführung bei einem Photographen gemacht worden war. Darauf saß Sebastian an einem Tisch vor einem Schreibheft, hielt einen Füllfederhalter in der Hand und lächelte in die Kamera. Alles war nett und ordentlich, wie es sein sollte. Und alles war falsch. Das Bild war gestellt, in dem Füllfederhalter war keine Tinte, in das Heft vor ihm würde er nie etwas schreiben und das Lächeln auf dem Gesicht war gezwungen. Man mußte nicht sehr genau hinsehen, um im Mundwinkel die angestrengte Verzerrung zu bemerken. Den Punkt, an dem die ganze trügerische Pose wie mit unsichtbaren Seilen festgezurrt war und von dem aus sie mit gewaltiger innerer Anstrengung aufrecht erhalten wurde.

Sebastian mußte immerfort viel Kraft aufbringen. Denn seine eigentliche, natürliche Kraft war gegangen. Der andere hatte sie mitgenommen. Das durfte keiner merken. Es wäre eine Katastrophe gewesen, ein Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit und Wertlosigkeit. Und so bemühte er sich unentwegt, genau dem Bild zu entsprechen, das man von ihm zu sehen erwartete. Wie eine mechanische Puppe, deren Räderwerk mit Hilfe kleiner Motoren unter der Oberfläche schnurrte und raste, um nach außen den Eindruck zwanglosen Lebens zu erzeugen.

Man kann nicht sagen, daß Sebastian in seinem Bemühen erfolglos war. Er galt als guter und strebsamer Schüler und als ein Kind, das sich hoffnungsvoll entwickelte. Aber er wurde nie Klassenprimus, auch nicht zweiter oder dritter. Paßte er einmal nicht auf und ließ in seinen fortwährenden Anstrengungen nach, konnte es passieren, daß er mit seinen Leistungen ins letzte Drittel der Klasse abrutschte. Er bemühte sich dann, den Anschein zu erwecken, als wäre er eine Art verbummeltes Genie, zwar begabt, aber faul. Die Wahrheit war das allerdings nicht. Die hielt er ängstlich verborgen.

Bei seinem Bemühen, ein von natürlichen Kräften gespeistes Leben zu imitieren, unterliefen ihm zuweilen absurde und peinliche Fehler. Er vergaß zum Beispiel Namen und Identität von Personen, die ihm vertraut sein müßten. Er siezte Familienangehörige oder sprach Schulkameraden mit falschem Namen an. Er verwechselte Termine und wollte am Sonntag in die Schule gehen. Das kam daher, daß er bei der rastlosen Organisation seines Lebens alles bis ins Kleinste berechnen mußte und Pannen, die es in jedem Leben gibt, an ganz lächerlichen oder banalen Stellen auftraten, an denen sie bei den anderen Menschen nicht aufzutreten pflegten. Es sei denn, es handelte sich um geistig verwirrte Personen. In Sebastians Fall erklärte man diese absonderlichen Fehlleistungen durch seine notorische Zerstreutheit. Statt dessen war er alles andere als zerstreut oder unaufmerksam. Vielmehr war er mit all seinen Sinnen und Fähigkeiten bemüht, in jedem Augenblick die richtige Haltung einzunehmen, das Richtige zu sagen, zu tun und zu denken. Doch konnte er mit seinen wachen Sinnen nicht überall gleichzeitig sein. Und er benötigte viel mehr Aufmerksamkeit und vorausplanende Berechnung zur Organisation eines normal wirkenden Lebens, als man vermuten konnte.

Sebastian wünschte sich oft, er wäre ein anderer Mensch, an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit, damit dieser gewaltige Druck nicht mehr auf ihm lastete.

Als er etwa zehn Jahre alt war, las er „Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson. Die Lektüre des Buches gewährte ihm die zeitweilige Erfüllung seines Wunsches auf nahezu perfekte Weise. Wann immer er es ermöglichen konnte, tauchte er in eine Welt ein, die von Möwengeschrei, Brandungsrauschen und Abenteuern erfüllt war. Seine Sehnsucht danach kannte keine Grenzen. Manchmal saß er zu Hause am Fenster und sah verträumt hinaus. Unter gewissen Blickwinkeln konnte er auf Grund von Fehlern und Luftbläschen im Glas die optische Illusion von Meeresbuchten erzeugen. Er glaubte, wenn er an einem fernen, südlichen Meeresstrand lebte, würde er glücklich sein. Dann würden sich alle seine Träume erfüllen.

Als er einmal in seine Lektüre vertieft im Garten saß, war der andere plötzlich wieder da. Sebastian hätte nicht sagen können, wann und wie er gekommen war. Es war ihm auch nicht wichtig. Er war nur froh, daß er mit jemandem über Jim Hawkins und die Schatzinsel und die „Hispaniola“ reden konnte. Der andere war sehr interessiert und ließ sich von Sebastian alles ausführlich erklären. Er war kleiner als Sebastian. Offenbar war er seit damals kaum gewachsen. Schließlich schlug er Sebastian vor, mit ihm zu kommen. Er wollte ihm zeigen, wo er jetzt lebte. Sebastian war einverstanden.

Sie gingen durch ein Wäldchen, das hinter dem Haus war. Bald kamen sie zu einer großen Rotbuche, an deren Fuß sich ein kleiner Teich befand. Der Kleine schlängelte sich zwischen den Wurzeln der Rotbuche hindurch und Sebastian hatte Mühe, ihm zu folgen, da er größer und ungeschickter war. Der Kleine schob einen Stein beiseite und sie krochen in eine Höhle. Darin saß ein altes Männlein in einem enganliegenden, braunen Gewand mit einer Kapuze. Es war nur wenig größer als Sebastians anderes Ich. Es mußte eine Art Liliputaner sein. Als der kleine Alte Sebastian erblickte, versteckte er sich scheu hinter einem Stein.

„Er muß sich erst an dich gewöhnen,“ flüsterte Sebastians Begleiter. „Am besten, du blickst ihn nicht direkt an, sondern nur aus den Augenwinkeln. Er ist ein weiser Gnom und heißt Wufnik. Das ist nicht nur ein Name, sondern auch ein Ehrentitel. Er bezeichnet einen Gerechten. Die Zahl der Wufniks ist geheim und sie muß immer gleich bleiben. Alles, was ich weiß, hat er mir beigebracht. Wenn er mich alle Weisheit des Universums gelehrt hat, stirbt er und ich werde seinen Platz einnehmen Aber bis dahin werden sicher noch viele hundert Jahre vergehen. Mich nennt man in unserer Welt übrigens Fetch.“

Der Wufnik war hinter einem Stein verschwunden. Sie folgten ihm und kamen in einen unterirdischen Gang. Er war sehr niedrig. Sebastian mußte sich bücken, um vorwärts zu kommen. Der Gang war durch ein warmes, indirektes Licht, das von den Steinen auszugehen schien, erleuchtet.

Nach etwa einer Viertelstunde, so schien es Sebastian, gelangten sie in eine riesige Höhle. Sie war hell erleuchtet, obwohl man keine Lichtquelle erkennen konnte. Ein Fluß schlängelte sich durch ein anmutiges Tal. Zu den beiden Seiten des Flusses waren die Häuser einer kleinen Stadt gelegen. Eine sanfte Brise brachte den Duft von Blüten aus den zahlreichen Gärten an den Hängen. Ein großer blauer Schmetterling setzte sich auf Sebastians Schulter.

„Hier ist es immer Sommer,“ sagte Fetch. „Niemand muß hier frieren oder sich plagen. Wir bekommen die Energie von den Steinen. In den Steinen ist alle Kraft der Welt. Von ihnen geht sie über auf die Pflanzen und die anderen Lebewesen.“

Er zeigte Sebastian einen durchsichtigen, funkelnden Kristall, den er bei sich trug. „Siehst du diesen schönen Stein? Ist er nicht vollkommen? In ihm wohnt mehr Energie, als du in deinem Leben je verbrauchen kannst.“

Sebastian nahm den Stein in die Hand und spürte, wie eine wohltuende Kraft in ihn hinüberströmte und ihn erfüllte. Alles Schwere fiel von ihm ab, alles wurde leicht und einfach. Er hatte das Gefühl, daß es nichts gab, was er nicht vollbringen konnte.

„Der Stein ist wunderbar,“ sagte er.

„Du kannst ihn behalten,“ sagte Fetch. „Ich schenke ihn dir zur Begrüßung in unserem Reich.“

Sebastian war dankbar und glücklich. Mit einem Mal schien sich sein ganzes mühseliges Dasein zum Guten zu wenden. Was eben noch unmöglich erschien, war plötzlich ganz einfach. Er lachte fröhlich.

Als sie hinab ins Tal gingen, trafen sie die ersten Bewohner des Reiches. Sie waren kleiner als Sebastian und in farbenfrohe, luftige Gewänder gekleidet. Sie grüßten ehrerbietig den Wufnik, dann wandten sie sich scheu, aber neugierig, Sebastian zu.

„Wen hast du denn da mitgebracht, Fetch?“ fragten sie verwundert. „Ist er nicht schon ein wenig zu groß?“

„Nein, nein,“ lachte Fetch. „Das ist Sebastian, ich kenne ihn sehr gut. Er paßt wunderbar hierher. Seht nur den glücklichen Ausdruck in seinem Gesicht. Es war allerdings höchste Zeit. Er wäre dort nicht froh geworden.“

„Was meint der ehrwürdige Wufnik?“ fragten die kleinen Leute.

Der Wufnik wiegte bedenklich den Kopf.

„Wenn er bleibt, ist es gut,“ sagte er. „Aber wenn er wieder zurückgeht, wird es ihm schlecht ergehen.“

Mit dieser Antwort gaben sich alle zufrieden. Sebastian und Fetch gingen zu einem kunstvoll geschmiedeten Tor, hinter dem sich ein großer Garten befand. Sie traten ein und mehrere Hunde liefen ihnen entgegen und sprangen verspielt um sie herum. Kieswege führten zwischen Wiesen, Blumen und Büschen hindurch zu einem schönen großen Haus mit einer breiten Terrasse. Springbrunnen plätscherten. Auf einer großen Wiese vor der Terrasse feierten Kinder und kleine Erwachsene eine Art Karneval. Sie trugen bunte Kostüme und veranstalteten Spiele, bei denen es Preise zu gewinnen gab. Sebastian und Fetch wurden mit freudigen Rufen begrüßt. Sie konnten sich jeder in einem Fundus ein prächtiges Kostüm aussuchen und beteiligten sich an dem ausgelassenen Treiben.

Sebastian war lange nicht so glücklich gewesen. Unter den Kindern war ein Mädchen mit großen dunklen Augen und kastanienbraunem Haar, das ihm besonders gefiel. Ihr Name war Echo. Sie schien ihn auch zu mögen und so blieben sie beisammen und hielten sich an den Händen. Die Zeit verging wie im Flug. Abends wurde es dunkel, wie auf der Erdoberfläche auch. Sie zündeten Laternen an und spielten weiter.

Da trat eine Zwergin zu Sebastian und fragte ihn nach seiner Mutter. Sebastian erschrak. An seine Mutter hatte er gar nicht mehr gedacht. Sie wußte nicht, wo er war und würde sich Sorgen machen. Er müßte schon längst zu Hause sein. Er verabschiedete sich hastig von seinen neuen Freunden und seinen Gastgebern. Echo blickte ihn traurig an.

„Wirst du wiederkommen?“ fragte sie.

„Aber natürlich,“ rief Sebastian. „Gleich morgen früh komme ich wieder her. Es sind doch Ferien und wir haben keine Schule.“

Auch Fetch schien besorgt.

„Merk dir den Weg gut,“ sagte er. „Paß auf deinen Stein auf. Und vor allem, sage nicht, wo du gewesen bist. Erzähle niemandem von uns. Das muß unser Geheimnis bleiben.“

Alle begleiteten Sebastian ein Stück auf dem Gartenweg. An dem kunstvoll geschmiedeten Tor drehte er sich noch einmal um, streichelte die Hunde und winkte den zurückbleibenden Freunden zu. Dann ging er den Weg hinauf, der ihn zu dem Gang führte, durch den er gekommen war. Er schlüpfte in den Gang hinein und eilte darin leicht gebeugt und mit eingezogenem Kopf vorwärts. Schließlich kam er zu der Höhle am Eingang. Er schob einen Stein beiseite und schlüpfte hinaus.

Draußen war es kalt und dunkel. Man konnte nicht die Hand vor Augen sehen. Sebastian tastete sich zwischen den Wurzeln des riesigen Baumes hindurch. Plötzlich glitt er aus und fiel in das kalte Wasser des Teiches. Verzweifelt versuchte er, wieder herauszukommen. Seine Hände glitten an dem glitschigen Uferbewuchs ab. Schließlich schaffte er es doch und zog sich an Grasbüscheln heraus. Er zitterte vor Kälte und Schrecken.

Seine Mutter riß entsetzt die Augen auf, als sie ihn sah. Sebastian versuchte, eine Erklärung zu stammeln, doch sie hörte gar nicht zu. Sie zog Sebastian aus, duschte ihn warm ab und steckte ihn ins Bett. Dort blieb er die nächsten Tage. Er bekam Fieber und phantasierte. Der Hausarzt, Dr. Feingold, kam, hörte Sebastian ab und empfahl Wadenwickel, um das Fieber zu lindern. Sebastian glühte förmlich und sprach wirr und erregt von Zwergen und Höhlen und einem Echo.

Eines Morgens wachte er auf und das Fieber war gegangen. Sebastian wollte aufstehen, aber er war noch zu schwach. Seine Mutter kam ins Zimmer und zog die Vorhänge beiseite, um das Tageslicht hereinzulassen.

„Wie schön, daß es dir wieder besser geht,“ sagte sie. „Du hast mir ganz schön Angst gemacht. Du hörtest nicht auf, von Zwergen und Gnomen zu phantasieren. In irgendwelche Höhlen wolltest du gehen. Es war richtig unheimlich. Jetzt werde ich dir erst einmal eine Haferflockensuppe kochen. Du mußt wieder Kräfte sammeln und auf die Beine kommen.“

„Wo ist mein Stein?“ rief Sebastian plötzlich. „Hast du meinen Stein aufgehoben? Er muß in meiner Hose gewesen sein.“

„In deiner Hose war kein Stein,“ sagte Sebastians Mutter. „Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe auch nicht darauf geachtet. Ich hatte andere Sorgen, als du hier abends völlig durchnäßt aufgekreuzt bist. Deine Sachen sind gewaschen und gebügelt, wie sich das gehört. Wenn du wieder gesund bist, kannst du noch genug Steine sammeln."

Später ging Sebastian noch einmal zu der Rotbuche, aber von einem Eingang zu einer Höhle konnte er nichts entdecken. Sollte er sich das alles nur eingebildet haben? Sein Leben nahm wieder seinen gewohnten Lauf. Es war so, wie es zuvor gewesen war. Er mußte gute Miene zum bösen Spiel machen.

Die Zeit verging. Sebastian absolvierte die Schule mit mäßigem Erfolg und begann eine Laufbahn in der Werbebranche. Er heiratete und hatte zwei Kinder. Bald bezog er mit seiner Familie ein nicht eben großes, aber finanzierbares Haus in einem Vorort. Jeden Morgen fuhr er mit der Stadtbahn zu seiner Arbeitsstelle und am späten Nachmittag wieder zurück. Sein Haar wurde allmählich schütter und begann, an den Schläfen zu ergrauen. Ein resignierter Ausdruck grub sich in seine Gesichtszüge ein. Er schien seinen Platz im Leben gefunden zu haben.

Eines Nachmittags wollte er sich wie gewohnt am Kiosk eine Zeitung kaufen, um sie während der Heimfahrt in der Bahn zu lesen. Da sah er in der Auslage ein Taschenbuch. Es war „Die Schatzinsel“ von Stevenson. Irgend etwas Verschüttetes, Vergessenes in seinem Inneren regte sich. Er gab der Regung nach und kaufte das Buch.

Sein Zug kam und er stieg ein, in den gleichen Wagen, in den er immer stieg. Es war ziemlich voll, aber er fand einen Platz am Fenster. Ihm gegenüber saß eine Frau mit einer Zeitung. Sie hielt die Zeitung so, daß sie enorm viel Platz damit beanspruchte. Jedesmal, wenn sie umblätterte, vollführte sie eine ruckartige, gewalttätige Bewegung, die von einem bösartig knatternden Geräusch des Papiers begleitet wurde. Immer dann sah Sebastian ihr Gesicht. Sie war in mittlerem Alter, hatte sehr kurze Haare und trug eine große Brille. Ihr Blick war wütend und von kaum verhohlenem Haß erfüllt. Sebastian versuchte, ihr zuzulächeln. Nicht weil sie ihm sympathisch war, sondern wie ein Komplize. Um zu zeigen, daß er sie verstand und durchschaute. Ja, man war wütend, man war enttäuscht, aber man ließ sich doch nicht so gehen. Er hatte sich da besser im Griff.

Dann zog Sebastian das Buch, das er gekauft hatte, aus der Tasche. Es war gut, daß er nicht seinerseits eine Zeitung entfaltete, denn dann hätte es Platzprobleme mit der wütenden Dame vis-à-vis gegeben. Er hielt das Buch in seinem Schoß, schlug es auf und begann zu lesen. Der alte Zauber wirkte immer noch. Er vergaß seine Umgebung. Plötzlich war er wieder Jim Hawkins und lauschte im Gasthof seiner Mutter den Reden des geheimnisvollen fremden Kapitäns.

Als er einmal aufsah, war er fast alleine im Abteil. Auch die aggressiv zeitunglesende Dame war gegangen. Dafür saß jemand neben ihm. Es war der Kleine, wie hieß er doch? Fetch. Er war kaum gewachsen, aber er wirkte irgendwie reifer im Gesicht.

„Ich konnte damals nicht kommen,“ sagte Sebastian nach einem Augenblick des Schweigens. „Ich war krank geworden. Danach habe ich den Weg nicht mehr gefunden.“

„Ich weiß,“ erwiderte der Kleine. „Aber das macht nichts. Du kannst ja immer noch kommen.“

„Das geht doch nicht mehr,“ sagte Sebastian ungläubig lächelnd. „Ich bin jetzt viel zu groß. Ich bin ein erwachsener Mann. Ihr würdet mich gar nicht haben wollen.“

„Was bist du für ein Dummkopf,“ sagte der Kleine kopfschüttelnd. „Wir warten doch alle auf dich. Wer einmal bei uns war, der gehört zu uns.“

„Und Echo?“ fragte Sebastian leise. „Denkt sie noch an mich?“

„Sie hat mich geschickt,“ antwortete Fetch. „Sie hat mir gesagt, ich soll dich holen.“

Dann schwiegen sie beide.


Drei Wochen später wurde Sebastians Leiche in einem stillgelegten Bergwerk gefunden. Der Stollen war schon lange verschlossen. Sebastian mußte sich gewaltsam Zutritt verschafft haben. Sein plötzliches Verschwinden und sein Tod waren für seine Angehörigen und Kollegen so bestürzend wie rätselhaft. Gerüchte über ein Verbrechen wurden laut. Die Polizei schloß allerdings einen gewaltsamen Tod aus. Sebastian war in den Schacht eingedrungen und hatte sich in dem Labyrinth der Stollen und Gänge verlaufen. Das Motiv seines Handelns war unklar. Vielleicht hatte er nach einem vermeintlichen Schatz gesucht, vielleicht sich in einem Zustand geistiger Verwirrung befunden. Allerdings hatte er am Tag seines Verschwindens auf seine Familie und seine Kollegen einen völlig normalen und ausgeglichenen Eindruck gemacht. Er war an Auszehrung und Erschöpfung gestorben. Die ihn fanden, stellten erstaunt fest, daß der Tote lächelte. Seine rechte Hand hielt etwas fest umschlossen. Als man sie gewaltsam öffnete, fand man darin einen gewöhnlichen Kieselstein.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

wünsche frohes fest gehabt zu haben. deine geschichte finde ich zum heulen schön. kommt in meine sammlung. bis bald, und wenn nicht, dann ein frohes und gesundes neues jahr. ganz lieb grüßt
 
Danke

Hallo Flammarion,
Vielen Dank für die Grüße und ebenfalls alles Gute für das neue Jahr und weiterhin viel gute Ideen und Liebe zur Literatur.
Es freut mich, daß Dir meine Geschichte wieder gefallen hat. Ich will jetzt vielleicht einmal etwas Längeres versuchen, aber dazu braucht man Ideen ...

Beste Grüße

Stefan
 

Ingwer

Mitglied
*

Hallo Stefan,
mir gefällt Deine Geschichte auch, obwohl ich finde, dass die Einleitung sich zu sehr hinzieht. Das Ende allerdings entschädigt dafür!
LG
Ingwer
 
Hallo Ingwer,
Ähnliche Gedanken sind mir auch schon gekommen. Ich veröffentliche jetzt noch mal die neueste Fassung meiner Geschichte. Der Unterschied ist nicht groß, aber vorhanden.

Beste Grüße
 



 
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