Die Tür

Hans Dotterich

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Die Vorstellung beginnt in wenigen Minuten. Der Gong hat soeben zum dritten Mal geschlagen. Die Zuschauer drängen aus dem Foyer in den Großen Saal. Verdi. La Forza del Destino, die Macht des Schicksals. Ein kleiner älterer Herr am Stock in einem zwei Nummern zu weiten, grauen Anzug, mit dünnen weißen Haaren, die wirr über den fleckigen Schädel verteilt sind, tippelt rasch noch ins Herren-WC. Er zieht die Tür auf und verschwindet dahinter in einer der sechs weißen Kabinen. Langsam schließt sich die Tür hinter ihm, um dann, fast schon geschlossen, mit lautem Knall zuzufallen. Pomff! Ein satter Schlag hallt durch das Foyer. So einnehmend und gewaltig, dass sich die Menschen an den Eingängen des Großen Saals umdrehen. Als ob eine Bombe explodiert sei. Das, ha! Pomff! Ja, das hat mal wieder gesessen!

Die Tür hat schon viele Opernbesucher von dringlicher Not befreit. Selbstbewußt, in satiniertem, makellosem Altweiß präsentiert sie sich dem Blick. Verdi, Wagner, Beethoven, Mahler, Strauß spielt man, um auch ihrem Anspruch zu genügen, weiß sie. Das schätzt sie, die Kunst ist ihr Lebenselixier. Einzig das taugt ihr als Maß. Doch die Dynamik ihres Schlages, das hört sie auch diesmal durch die geschlossenen Pforten des großen Saals hindurch, erreicht kein Komponist, kein Beethoven oder Mahler, niemand. Nicht einmal die Macht des Schicksals. Nicht die harten, bedrohlichen Posaunenstöße. Nicht der brodelnde Paukenwirbel. Pomff! Ein Klang, der alles in sich trägt. Unerwartet, hart, aber warm und voller Melodie, der im Ohr unerreichte Farbenpracht entzündet.

Zufrieden sieht die Tür die Menschen plaudernd und scherzend nach Hause gehen. Sie strömen hinaus wie berauscht vom Klang, von ihrem Klang. Ihr Tagwerk ist nun getan, weiß sie, als der Hausmeister das Licht im Foyer ausschaltet.

Frau Doktor Elvira Woglinde Gollenstein-Schnitzelfeld beäugt trocken die Risse in der gelblichen Deckenverkleidung. Die hagere Frau im geblümten Rock mit elegantem blauem Zweireiher ist hoch gewachsen und unübersehbar. Durch die altmodische Perlmutbrille auf ihrer Hakennase entgeht ihr nicht die kleinste Kleinigkeit auf der Oberfläche der spröde gewordenen Hartschaumplatten. Die Delegation ist hochkarätig besetzt. Der Intendant des Hauses führt höchstpersönlich den stellvertretenden Bürgermeister, den Leiter des Amtes für städtische Liegenschaften, und sie, die Finanzdezernentin und Stadtkämmerin, durch den zwar immer noch repräsentativen, doch in die Jahre gekommenen postmodernen Theaterbau. Die lange hinausgeschobene Sanierung wird den ohnehin stark defizitären Haushalt der Stadt tiefer in die roten Zahlen drücken, doch ist die Sache nun unvermeidlich. Regenwasser dringt seit dem Winter zwischen den Betonplatten hindurch in Saal und Foyer. Man hat sogar Schimmelspuren gefunden. Noch vor der Sommerpause würde man einen Beschluss fassen müssen.

„In der Trattoria Pannacotta“, vetraut der stellvertretende Bürgermeister dem Intendanten an, “das liegt in einer kleinen Seitenstraße direkt am Pontevecchio. Da müssen Sie unbedingt die Langustinen a la Chef probieren. Ich sage Ihnen, der Geheimtipp schlechthin.“ „Im Zentrum von Florenz ist es halt schwierig geworden mit guten Restaurants“, entgegnet der Intendant, „vor 20 Jahren war das anders, da wurde man noch an jeder Ecke verwöhnt.“ „Die Innenstadt ist ziemlich überlaufen“, bedauerte der stellvertretende Bürgermeister, „Und die Preise in Florenz! Wir beziehen diesen Sommer auswärts Quartier, zwanzig Kilometer das Arnotal hinauf, auf einem biodynamischen Bauernhof, der schon bei den Etruskern bewirtschaftet wurde. Pure Entspannung, ganz ohne Akten und Laptop“, sagt der stellvertretende Bürgermeister. „So so, Herr Bürgermeister“, grinst der Intendant, „Ich bin immer nur zum Arbeiten dort. Früher fuhr ich jedes Jahr zum Theaterworkshop beim großen Tragöden Vittorio Lamenti, direkt bei den Offizien. Und abends wurde gemeinsam gekocht, gebacken und Barolo gekippt, was das Zeug hielt. Zur Inspiration natürlich. Das waren noch echte Könner. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch an der Theke“. Der Intendant machte eine kleine Kunstpause. „Ende August fliege ich in die Abruzzen. Mein Schwiegersohn hat dort einen Weinberg. Die ganze Familie trifft sich, auch ein paar von den Kollegen, und hilft bei der Lese. Einen exzellenten Roten macht er. Den alten Vittorio besuche ich natürlich auch, in seiner Seniorenresidenz. Bei Bionade und salzarmer Pasta. Der Ärmste, kaum vorzustellen.“ Eigentlich wollte auch der Bürgermeister selbst bei dem Rundgang dabei sein, obwohl er wusste, dass sein Stellvertreter in dieser Sache – Architektur und Florenz – der kompetentere Mann war. Und ein ausgewiesener Kenner toskanischer Weine. Terminlich war der OB auch leider verhindert, Ehrengast eines Ritterordens von Weinexperten bei der Jahrgangspräsentation in der Partnerstadt im Süden Frankreichs.

Der Frau Doktor Gollenstein-Schnitzelfeld passten solche Gespräche freilich nicht, sie hatte nichts übrig für Saufgeschichten. Sie war dienstlich hier. Und Alkohol mochte sie ohnehin nicht. Sie trank grünen Tee, oder handgelesenen schwarzen Tee aus den Vorgebirgen des Himalaya. Ab und zu sah man sie auch in dem kleinen Cafe gegenüber vom Rathaus bei einem Latte Macciato. Meist in Begleitung der Chefärztin des neuen Leber-Transplantationszentrums im städtischen Klinikum oder mit der Leiterin des Frauenhauses in der Kantstraße.

„Die Türen entsprechen ja schon längst der Brandschutzverordnung“. Bei diesen Worten zog der Intendant die Tür des Herren-WCs leicht auf und ließ sie gleich wieder los. „Sie schließen automatisch, wenn ein Rauchmelder Signal gibt, und melden auch, dass sie tatsächlich zu sind, bis in die Zentrale“. Pomff! Alle vier fuhren vor Schreck zusammen. Der Donner verhalte im leeren Foyer nur langsam. Es dauerte etwas, ehe man sich wieder auf das Gespräch konzentrieren konnte. Wenn es etwas gab auf der großen weiten Welt, das Frau Doktor Gollenstein-Schnitzelfeld absolut nicht ausstehen konnte, und zwar noch weniger als Bier, Wein und Schnaps, dann waren es lärmende Männerklos. Sie zog knisternd einen Tropfen durch die Nase hoch, nahm ein kleines schwarzes Notizbuch aus ihrer Jackentasche, schlug es auf, und man hörte wie ein Kuli, der plötzlich in ihrer rechten Hand war, darin – witsch – irgendetwas durchstrich.

Der Beginn der Sanierungsarbeiten verzögerte sich. Der Plan, sparsam, ausgeklügelt, mit der Oppositionsfraktion sorgsam verhandelt, war in letzter Minute am Veto der Stadtkämmerin gescheitert, zum Entsetzen aller. Ein akuter Haushaltsnotstand zwinge zu unbedingter Konsolidierung, sagte sie. Sie verwies auf das Gutachten eines renomierten Wirtschaftsprüfers, auf eines vom Landesfinanzministerium sowie auf statistische Prognosen über die Altersstruktur von Opern- und Konzertbesuchern. Die Opposition schrie Zeter und Mordio. Sogar alte Klassenkampfparolen ließ ein Stadtverordneter aufglühen und sich wie aus längst verloschen geglaubten Vulkanen über die gelangweilten Minen des Stadtrats ergießen. Man beschwor die untergehende Kultur des Abendlandes. Türen wurden zugeschlagen und Sitzungssäle aus Protest verlassen.

Normalerweise pflegte die Oppositionsfraktion einen feinen, wenn auch durchaus kritischen Kommentarstil. Die Haushaltsvorlagen der Amtsvorgänger von Frau Doktor Gollenstein-Schnitzelfeld hat sie fast immer mit wortreichen, rhetorisch beispielhaft begründeten, aber doch oberflächlichen Abstrichen durchgewinkt. Doch das hatte sich nach der Berufung von Frau Doktor Gollenstein-Schnitzelfeld in das Amt des Stadtkämmerers ins Gegenteil verkehrt. Man traute ihr zu, dass sie den defizitären Stadthaushalt wirklich und tatsächlich sanieren könnte, und unterstellte ihr das als einen Akt unverholener Bosheit. Die Verdienste um der Gestaltung des Sparkurses, mit der die Opposition sich vor ihren Wählern brüstete, sah die Opposition kurzerhand aus dem Haushalt gestrichen – witsch ! Was wolle die Stadtkämmerin denn im Haushalt des darauffolgenden Jahres eigentlich einsparen, fragte man ungläubig, wenn sie im laufenden Jahr keine einsparwürdigen Ausgaben genehmige ? So einigte man sich nach einigen Runden festgefahrenen Debattierens auf minimal notwendige Sanierungsarbeiten am Dach des städtischen Theaters.

Die Premiere von Richard Wagners Götterdämmerung, in der neuen Saison mit Spannung erwartet, war ein Traum, ein glänzender Erfolg. Alle Vorstellungen waren im Nu ausverkauft. Deutschlandweit wetteiferten die Feuilletons mit Superlativen. „Zukunftsweisend“, „Eine Wiedergeburt“, „Tiefmenschlich, sensibel, ergreifend, ja erschütternd, und doch ein Monument des Klangs und der Farben“, „Der schwere Stoff echt und authentisch. Ein Rausch der Gefühle“, lass der Intendant am Montag Nachmittag in seinem Büro nach feierlich durchwachtem Wochenende mit nur einem offenen Auge und zwei Aspirin im Pressespiegel.

Das volle Haus und die langen Akte der Götterdämmerung bescherten auch der Tür des Herren-WCs in den Pausen eifrigste Kundschaft. Auch sie hatte die Begeisterung für das Riesenwerk übermannt. Manchmal musste sie sich beim Zufallen richtig konzentrieren und zusammenreißen, um ihrem eigenen hohen Anspruch zu genügen. Pomff! Und immer wieder Pomff! Am Ende des Abends schwitzte und keuchte sie, Sie spürte ein Ziehen in den Gelenken, war aber um so stolzer auf ihren kleinen, aber hart erarbeiteten Beitrag zu dem wunderbaren Erfolg.

Es mag an der starken Beanspruchung oder an der Feuchtigkeit gelegen haben, die sich auch nach der Dachsanierung im Foyer gehalten hat, dass sich ein leichtes Nebengeräusch vor das Pomff einschlich. Zunächst klang es wie ein leichtes Schleifen am Boden, wie wenn sich Schmutzgewöll unter der Tür angesammelt hätte. Aber trotz regelmäßiger Reinigung des Spalts an ihrer Unterseite wurde es mit der Zeit immer intensiver und hörbarer. Zunächst nahm das keiner der Opern- und Konzertbesucher wahr. Dazu war es zu leise. Aber die Tür, selbstkritisch wie sie war, musste es natürlich bemerken.

Eines Abends dann geschah das Unglück. Haydn. Die Sinfonie mit dem Paukenschlag. Haydn ist ein Magier. Seine zahlreichen Sinfonien klingen leicht, wie ein Federkissen, doch dramatisch legen sie sich auf die Augenlider. Sie fesseln den Zuhörer, hypnotisieren ihn. Sie wiegen ihn in tiefe Träume. Bis zum gefürchteten Paukenschlag. So geschah es der Tür. Noch etwas müde von der Götterdämmerung, die am vorhergehenden Abend gespielt wurde, dämmerte sie während des zweiten Satzes der Sinfonie im leeren Foyer einen kurzen Moment vor sich hin. Ta…ta…Bumm! Da, ein Krampf, ein stechender Schmerz, flammte auf in ihren Scharnieren, strahlte aus bis in die Türklinken. Ebbte ab und verbarg sich wieder.

Als der Applaus aus dem Großen Saal verklungen war und die Besucher in die Pause strömten, war es nicht mehr zu verheimlichen. Sie hatte es schon geahnt und beklommen auf den ersten Besucher des Herren-WC gewartet. Ein kleiner, gebeugter Mann am Stock nur, kaum einen Meter sechzig groß, setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, wie träumend, die dünnen Haare wie Spinnweben wirr noch vom Klang der Musik über dem fast kahlen Schädel tanzend. Nicht die Jungens aus der Schulklasse, die mit ihrem Musiklehrer aus einer Kleinstadt im etwas abseitigen Hinterland zum ersten Mal ein Sinfoniekonzert besuchten und flink aus dem Saal ins Foyer huschten, erreichten das WC als erste. Nicht sie, sondern der Alte zog die Tür auf, ging hindurch, kleine Spuren des Nachhalls wie Pollenkörner um sich verstäubend. Als die Tür zufiel, hätte sie beinahe geklemmt, nicht aus Angst, nicht aus Feigheit, nein, tapfer war die Tür, ganz ohne Zweifel muss man das bekennen, und zwar auf Leben und Tod, nein, aus tatsächlich mechanisch-naturgesetzlicher Verhakung wäre sie havariert. Mit Mühe und Schrecken schaffte sie es ins Schloss, mit einem lauten Quietschen kurz vor ihrem Pomff!

Witsch-Pomff! Witsch-Pomff! Und wieder: Witsch-Pomff! Die Tür erschrak. Sie versuchte sich vorsichtig in ihrem Scharnier neu zu richten, aber es gelang ihr nicht. Die Vorderkante hochziehen, wenn etwas schleift, heißt es. So lernt es eine Qualitätstür aus erstklassiger Schreinerwerkstatt von der Pike auf. Eine Tür quietscht und schleift nicht! Nie und nimmer. Und schon gar nicht an einem solch diskreten Ort wie jenem, an dem sie ihren Dienst tat. Witsch-Pomff!

Pomff! So ist das in Ordnung. Es klingt solide und vertrauenswürdig. Es zeugt von fester Fügung, mechanisch und moralisch. Aber dieses Witsch, peinlich! „Wilschde Pommf-fritts ? Ins Macdonald lad ich euch hinterher ein“, hörte die Tür den Musiklehrer einen seiner Schüler fragen. Witsch-Pomff, Wilschde Pompfs. Die Tür wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Der Quietschlaut, und dazu noch die dumme einfältige Frage eines magenknurrenden Dorfschulpaukers an eine nichtsnutzige, musikunwürdige, öde kleine Rotznase, die nur ihr Smartphone im Auge und während der Vorstellung neue Spotify-Apps im Ohrhörer hatte. Dieses Bild stand ihr von nun an bei jedem Witsch-Pomff vor Augen. Der Gedanke blieb ihr im Gedächtnis, als hätte ihn jemand mit einem dicken roten Edding auf ihre Vorderseite gekrizzelt.

Der Abend wurde zu einem einzigen Spießrutenlauf. Der Ton hatte sich bei ihr endgültig eingenistet, das fühlte die Tür. Sie grollte jedem, der sich dem Herren-WC auch nur zu nähern wagte. Hilflos und ohnmächtig jedoch hing sie in ihren Angeln. Unfähig sich zu wehren, oder wenigstens zu zeigen, dass sie sich zu wehren versuchte. Den Rest der Saison vegetierte sie in trostloser Agonie dahin. Man spielte Richard Strauß, ein Heldenleben und Till Eulenspiegels lustige Streiche. Der Intendant höchstselbst ließ Sir John Fallstaff im Dress von Guiseppe Verdi über die Bühne stampfen, und der Herzog von Mantua stellte mit seinen weltberühmten, überragend dargebotenen Arien das männliche Geschlecht in das Zentrum des Weltalls. Nichts davon konnte die Tür mehr aufheitern. Ihre Größe war dahin, „Marta, Marta, Du entschwandest. All mein Glück ist nun dahin…“ sang er, Tomaso Pagaletti, der alte Freund noch aus Studienzeiten, mit dem der Intendant bei den florentiner Theater-Workshops so manche Nacht singend und prostend auf dem Pontevecchio durchzecht hat. Ihn, der an der Met und an der Scala in Mailand zu Hause ist, hat er eingeladen, ihren Abgesang zu feiern. „Aus. Aus, kleines Licht ! Leben ? Leben ist nur ein wandelnd Schattenspiel. Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht, sein Stündlein auf der Büh’n, und dann nicht mehr vernommen wird.“ So endet ein Macbeth. Einer, der unerschrocken in Blut gewatet hat. Verstört und melancholisch klagt es aus Alban Bergs Andenken eines Engels. Gustav Mahlers Neunte dagegen ist groß und tragisch. „Tiefer als das Meer“. Der Rezensent der lokalen Zeitung konnte und mochte im Feuilleton seine Ergriffenheit über das Konzert nicht verbergen, über den Abschied von der Welt, über das Ende einer Epoche. Aus. Witsch-Pomff!

„Elvira, hast Du ein Hustenbonbon ?“ flüsterte eine heisere Stimme. „Aber klar doch, Papa“. Frau Doktor Gollenstein-Schnitzelfeld griff in ihre Jackentasche – die gleiche Jacke wie bei der Begehung ein Jahr zuvor, aber in jägergrün – und mit einem schnittigen Jägerhut auf dem Kopf, mit Gamsbart, provokant aufgesteckt wie eine Trophäe. Sie nahm ein schwarzes Notitzbuch aus der Jackentasche und ein kleines, in Knisterpapier gewickeltes Bonbon, das sie auswickelte und dem kleinen gebückten Mann am Stock mit wirren weißen Haaren über der Glatze in den wartenden Mund steckte. „Die feuchte Luft hier ist nichts für dein Asthma. Ein Skandal ist das in so einem Haus! Beeil dich, dann kriegen wir noch die Straßenbahn um halb elf.“ Der Alte verschwand durch die Tür, die man ihm höflich aufhielt. Frau Doktor Gollenstein-Schnitzelfeld setzte die Brille auf ihre Hakennase und notierte etwas in das Büchlein, nur ein oder zwei Stichworte.

Zwei Tage später schlurfte ein junger Mann im blauen Arbeitskittel und mit zu großen Sicherheitsschuhen durch das Foyer, mit einem Werkzeugkasten in der einen und einer Stehleiter in der anderen Hand. Er werkelte an den Türen herum und montierte blitzblank verchromte pneumatische Türöffner, auch am Eingang zum Herren-WC. Dann sammelte er sein Werkzeug ein und ging zum Damen-WC. Fortan waren alle Türen gleich, auch gleich still, wenn man sie schloss.

Was empfand die Tür dabei? Kein Witsch mehr, kein Pomff. Sie war stumm gestellt, abgeschnitten, isoliert. Hielt man das Ohr auch an die Tür, nie wieder vernahm man nur den geringsten Laut. Kein im Krieg versenktes Unterseeboot kann am Meeresgrund stiller scheinen, unter der Kompression von hundert Atmosphären. Nichts klingt von dort herauf von der Not der Besatzung, die darin eingeschlossen ist, nichts über das Schicksal der Seelen.

Das Theater wurde zwei Jahre später tatsächlich saniert. Die Deckenplatten wurden erneuert, aber die Einrichtung des Foyers blieb die alte. Die Tür des Herren-WCs war auch wieder da. Sie war stumm, die Verbindung zur Welt gekappt. Existierte die Zeugin des Musiktheaters noch, die manchen Triumph der Bühne mit heerem Applaus überschüttet hat, mit ihrem ganz persönlichen, zutiefst ehrlichen, leidenschaftlichen Pomff?

„Unser städtisches Theater wurde 1969 eröffnet. Das ist eine kurze Spanne, wenn Sie es mit anderen Theaterbauten vergleichen. Trotzdem steht es unter Denkmalschutz, denn es ist der preisgekrönte Entwurf des Architekten“, sagte der Intendant bei der feierlichen Wiedereröffnung, „Nirgends, meine Damen und Herren, und das ist technisch belegt und praktisch bewiesen, nicht einmal an der Metropolitan Opera in New York, nicht an der Mailänder Scala ist der Klang von Pauken und Trompeten satter, sind das Holz und die Streicher farbiger und lebendiger als in diesen Räumen. Kein Ton geht hier verloren, kein Akkord verklingt ungehört.“
 



 
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