Die turbulente Jugend. Aus dem Buch "Redebedarf", Teil 2 "Als Bäume noch groß waren..."

1989 war ein wichtiges Jahr in meinem Leben: Schulabschluss, Abitur, Beginn des Studiums an der Kyjiwer Taras-Schewtschenko-Universität. Es war nicht einfach. Ich schaffte aber den Sprung aus der Peripherie in die Hauptstadt. Ich war glücklich und ein bisschen verängstigt. Was wird wohl das neue Erwachsenenleben so bringen?

Ein Glückspilz war ich schon immer. Ein wolkenloses Studentenleben hatte ich nicht lange. Schon ein Jahr später wurde alles kompliziert und schwer sofort zu begreifen, und vor allem schwer zu erwerben. Das alte Geld war nichts mehr wert. Das neue gab es nicht. Der Geldersatz stellte sperrige Papierstapel in der Handtasche dar. An diese Stapel kam aber selbstverständlich nicht jeder Sterbliche heran. Ich lernte damals, dass man zum Beispiel die Tochter eines Kolchosvorsitzenden sein musste, wie meine Kommilitonin. Der Vater brachte permanent Nahrung für die Tochter, welche sie selbstverständlich nicht alleine verzehren konnte. Er brachte auch stapelweise Geldersatz „Coupons“ mit. Die waren aber langsam auch nutzlos, weil es immer weniger zum Kaufen gab. Für jede notwendige Kleinigkeit musste man Schlange stehen. Eines Tages kam ich nach dem Unterricht ins Studentenwohnheim und fand auf dem Tisch einen Zettel mit der Info für Lotte, dass ihr Freund in der Schlange steht, um Socken zu kaufen. Mir war klar, dass es um eine andere Lotte ging, weil ich keinen Freund hatte. Aber wer brauchte schon in dieser Zeit keine Socken? Langsam trafen sich alle in der Schlange, die Zugang zu dem Zettel hatten. Das Leben in einem Studentenwohnheim hatte auch seine Vorteile.

Es war nicht immer einfach, im Studentenwohnheim zu lernen. Besonders wenn man früher zu Hause seine eigene Ecke mit dem eigenen Schreibtisch hatte und das Kinderzimmer nur mit einer Schwester teilen musste. Im ersten Jahr waren wir in einem größeren Raum zu sechst. Im zweiten – zu dritt mit einem „Anhänger“, dem Freund einer Mitbewohnerin, von dem es gelegentlich auch Nutzen gab, wie im Fall mit den Socken.

Zum Feiern war aber das Wohnheim immer gut. Man musste nicht mal die Jacke anziehen, um von einer Party zur anderen zu pendeln. Der Lebensstil war gewöhnungsbedürftig. Ich betitele diese Zeit als Lebensschule. Wer diese Schule durchlaufen hatte, konnte vieles ab. Nach dem Studienabschluss stand aber für mich fest, in eine Mietwohnung zu ziehen, koste es, was es wolle.

Das Umdenken und Umorientieren musste 1990 schnell in jedem einzelnen Kopf stattfinden. Auf dem Majdan in Kyjiw waren Zelte mit hungerstreikenden Studenten, denen für die Unabhängigkeit und das bessere Leben der eigene Leib nicht zu schade war. Ich persönlich konnte mir nicht vorstellen, dort zu liegen und zu hungern, dachte aber, dass die Idee nicht ganz verkehrt sein konnte, wenn Menschen ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzten.

Am 02. Oktober 1990 fing eine Protestkampagne an, die überwiegend von den Studenten organisiert wurde. Die „Revolution auf dem Granit“ war einer der Gründe, warum die Ukraine im Jahr 1991 die Unabhängigkeit bekam. Der Höhepunkt der vom 02. bis zum 17. Oktober andauernden Proteste war der Hungerstreik der Studenten auf dem Platz der Oktoberrevolution in Kyjiw (jetzt Majdan Nesaleschnosti).

Freiheit gab es noch nie geschenkt. Der Gedanke, nach dem Abschluss nicht mehr in eine Dorfschule als Deutschlehrerin abgeordnet zu werden, war ganz angenehm. Die Perspektive, einen Agronomen aus der Kolchose zu heiraten, war zwar für mich auch nicht außergewöhnlich prickelnd, aber nicht das Schlimmste an der Sache. Eine Fremdsprache dort zu unterrichten, wo sie kein Mensch brauchte, war für mich schlimmer. Das wäre wie mit den Perlen vor den Säuen, entschuldigt bitte den Vergleich.

Also die Möglichkeit, Geld zu verdienen, wo und wie ich das wollte bzw. konnte, war mir sehr sympathisch. Ich ließ nichts annähernd Akzeptables unversucht und freute mich über jeden Erfolg. Jeder Misserfolg machte mich nur stärker. Das Geld für die Miete konnte ich mir immer sichern. Man wollte sowieso auf die Linie achten.

Der „Majdan Nesaleschnosti“ erfuhr im Laufe der Jahre der Unabhängigkeit noch viele Erschütterungen. Die heftigsten davon waren die orangene Revolution im Jahr 2008 und die Revolution der Würde in der Zeit vom November 2013 bis Februar 2014. Nicht alles verlief friedlich. Die Todesopfer der letzten Eskalation im Februar 2014 sind nicht vergessen. Die russische Annexion der Krim und der bewaffnete Konflikt im Osten der Ukraine destabilisieren das Land weiterhin. Der Mensch ist aber so gebaut, dass er das Elend nicht lange ertragen kann und grundsätzlich zu allen Zeiten nur Brot und Spiele braucht. Für das zweite sorgen schon seit ein paar Jahren die mittlerweile bekannten Wasserspiele auf dem Majdan Nesaleschnosti und erfreuen die Kyjiwer selbst und die Gäste der Hauptstadt. Das Leben geht weiter.
 
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