Die Umwandlung

Hera Klit

Mitglied
Die Umwandlung

Als Gregor Simsa an jenem Morgen erwachte und die Bettdecke zur Seite streifte, um aufzustehen, denn es war längst Zeit für das Büro, stellte er fest, dass er nicht seine gewohnten menschlichen Extremitäten zu Gesicht bekam. Nein, was er sah, waren die sechs Beine eines Käfers. Zunächst etwas geschockt, wälzte er sich behände aus dem Bett und begab sich hinüber zu seinem großen Ankleidespiegel. Was er nun sah, verschlug ihm den Atem.
Er hatte sich in einen der schönsten und prächtigsten Marienkäfer, den er selbst je gesehen hatte, verwandelt. Er hatte einen wunderschönen roten Panzer mit exakt kreisrunden schwarzen Punkten.

Da er als Mensch nie der Bringer gewesen war und als Käfer nun so ein super Prachtexemplar war, beschloss Gregor sofort sein neues Schicksal willkommen zu heißen.
Etwas Bedenken hegte er schon, wegen seines geliebten Gitarrenspiels. Würde er künftig darauf verzichten müssen? Er eilte zu seiner Gitarre hinüber, plugte den Marschall und man glaubt es kaum, er spielte wie ein junger Gott. Er hatte plötzlich all die Nummern von Hendrix, ZZ Top und dem Rest voll drauf.

Sein Vater kam herein, aber nicht, um Gregor am Spielen zu hindern. Nein! Er bat Gregor um die ein oder andere Zugabe, denn so toll hatte er selbst diese Stücke noch nie einen Menschen spielen hören. Der Vater sagte sogleich, er liebe Gregor und auch die Mutter und die Schwester gestanden, sie liebten Gregor vom ersten Anblick tausendmal mehr als früher. Sie beteuerten, Gregor habe sich dermaßen zum eigenen Vorteil verändert und verbessert, dass man es nicht genug bewundern könne. Gregor fühlte ein Selbstbewusstsein in sich aufkeimen, welches er als ordinärer Mensch nicht ansatzweise gekannt hatte.

So wundert es niemand, dass Gregor einen wahren Siegeszug als riesiger Marienkäfer antrat.
Die Medien balgten sich um seine Gunst. Er war in sämtlichen Talkshows und wurde der bekannteste Internetinfluencer. Man muss hier noch erwähnen, dass Gregor auch sprechen konnte. Das ist etwas ungewöhnlich für Marienkäfer, aber das Schicksal meinte es mit Gregor eben mega gut.

Natürlich wurde Gregor auch der größte Rockstar seiner Zeit und alle seine Songs wurden Hits und die schönsten Schauspielerinnen Hollywoods warben um ihn. Sowas bleibt ja nicht aus, wenn einer ganz nach oben kommt, das ist doch selbstverständlich und selbstredend.

Doch dann gab es tatsächlich eine Krise in Gregors Leben, mit der so kein Mensch gerechnet hatte. Er stellte nämlich fest, dass er im falschen Körper lebte. Er war ein weiblicher Marienkäfer, gefangen im Körper eines männlichen Marienkäfers. Ja, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, es kann immer etwas kommen, das einem in die Suppe spuckt.

Aber Gregor wäre nicht Gregor der Marienkäfer gewesen, wenn er nicht auch diese Herausforderung mit absoluter Bravour gemeistert hätte. Er entschloss sich zur Geschlechtsumwandlung und zog die ganze Sache mit eisernem Willen durch.

Man darf sagen, Gregor ist heute die glücklichste Marienkäferin des Planeten und sie heißt jetzt Greta und lebt mit dem tollsten Hollywoodschauspieler in einer der vorzeigbarsten Ehen zusammen.

Außerdem wurde Greta zur absoluten Vorkämpferin der LGBT-Bewegung, geliebt und bewundert und gefeiert.

Was will man mehr? Wenn man es anpackt und an sich glaubt, dann läuft es.
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Hera,

ich hatte natürlich sofort den Kafka-Kanal offen und lauerte auf das Unheil, aber nein, eine Geschichte mit Happy End.
?
Manchmal sind es die schönen Geschichten, die zum Gruseln bringen, weil sie die Realität kontrastieren.

Gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
 

Hera Klit

Mitglied
Liebe Hera,

ich hatte natürlich sofort den Kafka-Kanal offen und lauerte auf das Unheil, aber nein, eine Geschichte mit Happy End.
?
Manchmal sind es die schönen Geschichten, die zum Gruseln bringen, weil sie die Realität kontrastieren.

Gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
Vielen Dank, liebe Petra,

ja, es kann auch mal gut gehen.

Es war mir auch wichtig, Kafka in seiner Trübsal nicht zu übertreffen.
Reich Ranicki hatte wohl recht, als er sagte, der Hauptantrieb für Kafkas Schreiben
sei wohl Angst gewesen. Spätere Jahre zeigten, dass dies nicht ganz unbegründet war.
Da lag was in der Luft, das schon Jahrhunderte gärte.

Liebe Grüße
Hera
 
Zuletzt bearbeitet:

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Hera,
jeder hatte wohl anfangs die Verwandlung auf dem Schirm.
Schön geschrieben, schön zu lesen. Eine Wohltat.
Gruß
Linedrop
 



 
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