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Silke betrat die vom Mondlicht in dämmeriges Licht getauchte Küche, nahm sich ein Glas und füllte es mit Wasser. Sie lauschte. Im Haus war es still. Durch das geöffnete Fenster hörte sie das sanfte Rauschen des Meeres. Sie setzte sich an den Tisch und zuckte zusammen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde.
„Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier finde“, sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie betrachtete sein müdes Gesicht, die klugen Augen hinter der Brille, den sanft geschwungenen, beinahe femininen Mund. „Was ist los?“, fragte er. „Ich beobachte dich schon den ganzen Abend. Du schautest mir immer traurig hinterher, aber du hast nichts gesagt. Du hast dich auch nicht an den Spielen und der Unterhaltung beteiligt.“
Sie schwieg. Was sollte sie schon sagen? Dass sie sich in ihn verliebt hatte? Dass noch drei Tage blieben, um ihn zu sehen? Dass danach sowieso alles vorbei wäre?
„Kann es sein“, setzte er behutsam an, „dass ich dir … nun sagen wir … sehr gefalle?“
Sie nickte beklommen. Er stützte das Kinn in die linke Hand. „Tja, das schmeichelt mir zwar, aber du weißt, zwischen uns liegen Welten.“ Sie blickte nicht auf, konzentrierte sich auf den Anblick seiner gebräunten rechten Hand, die wie ein kleines Tier auf dem Tisch ruhte. „Ich muss dir etwas erklären“, fuhr er fort, wie ein Arzt, der weh tun muss, um zu heilen. „Ich mag dich ja auch, ich habe gemerkt, dass du anders bist als die übrigen Mädchen, nicht so laut, nicht so affig, nicht so auf Äußerlichkeiten bedacht, aber ich bin vierundzwanzig und studiere. Und du bist erst sechzehn und gehst noch zur Schule. Bald beginnt wieder das Semester, ich habe viele Klausuren zu bestehen und keine Zeit für eine Freundin. Also ich meine“, er stockte , „wir sind eben einfach zu weit auseinander, nicht nur vom Alter her und … “, er brach ab und schwieg, da sie es auch immer noch tat.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fügte er an: „Schau, ich wollte mir hier nur als Reiseleiter ein bisschen Geld verdienen. Ich wollte keine Herzen brechen. Aber ich muss dir trotzdem etwas sagen: Du hast wunderschöne Augen. Und jetzt gehen wir schlafen, es ist schon halb vier, in vier Stunden gibt es Frühstück!“
Silke stand auf, langsam, wie gelähmt, und blickte ihn an, senkte aber den Blick gleich wieder. Er drückte ihre Schultern und dann gingen sie hintereinander die Treppe hoch, er ging nach rechts, sie nach links. Ihre Zimmergenossin schlief tief und fest.
Silke lag schlaflos im Bett, konnte nicht weinen und hätte es gern. Drei Tage musste sie noch überstehen, jetzt war es nur noch ein Überstehen, keine Freude mehr, ihn noch in dieser Zeit erleben zu können.
Ein paar Stunden später saß sie beim Frühstück inmitten fünfzig schwatzender Jugendlicher. Sie brachte beinahe keinen Bissen herunter. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, wie er am Tisch mit den anderen Betreuern Kaffee trank. Auch er wirkte übernächtigt, sah aber wie immer umwerfend aus in seinem weißen Polohemd und der blauen Leinenhose. „Guck mal, der Michael, kein Wässerchen kann der wieder trüben“, sagte ihre Freundin Ilse mit vollem Mund, „der tut so brav, dabei hab ich mitgekriegt, wie der mit Mona auf dem Bett lag“, fuhr sie fort und schob sich ein neues Croissant zwischen die Zähne. „Der? Mit Mona? Der steht auf Atombusen, kein Hirn inner Birne und nen dicken Arsch?“, fragte ein anderes Mädchen ungläubig. „Ja klar“, erklärte Ilse ungerührt, „die Zimmertür war nur angelehnt, ich wollte den etwas fragen und da sah ich die beiden knutschend auf dem Bett. Die erkundeten gerade gegenseitig ihre Rachenmandeln!“
Silke verschluckte sich beinahe an dem Schluck Tee, den sie gerade trinken wollte. Ihr Michael mit Mona, dieser aufgedonnerten Tussi ohne Schulabschluss? Die sich hier als Küchenhilfe einen Urlaub verdiente? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Solche Typen zog er vor? Ihr vor. Natürlich, Mona war schon zwanzig. Silke war nur sechzehn, zu jung für ihn und … „Habt ihr alle gut geschlafen?“ hörte sie auf einmal seine Stimme. Michael blickte auf die um den Tisch versammelten Mädchen. „Ich nicht“, hörte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung sagen, während die anderen wild durcheinander redeten. „Heute machen wir die Bootsfahrt, denkt bitte daran, pünktlich um zehn Uhr am Anleger zu sein“, sagte Michael und verschwand aus ihrem Blickfeld, nicht ohne sie noch kurz intensiv zu taxieren. Silke wünschte sich Wut herbei, um „blödes Arschloch“ denken zu können, aber sie fühlte nur eine traurige Leere. -
„Mama, ich finde die Streusel nicht!“ rief Jonas und „Jetzt komm doch mal!“ Silke seufzte, packte Nudeln und Reis in den Einkaufswagen und bog in den nächsten Gang ein. Ihr Sohn stand mit gerunzelter Stirn vor dem Regal. „Die haben hier nur die deutschen, nicht die leckeren holländischen“, konstatierte er. Silke nahm eine Packung vom obersten Regal. „Guck mal“, sagte sie lächelnd. Jonas zuckte zusammen. „Da sind sie ja“, rief er freudestrahlend und kniff seine Mutter in den Arm. „Du hast nichts gesagt!“ meinte er und lachte. Silke schmunzelte. Jonas hatte nie Zeit, sich ausgiebig mit etwas zu beschäftigen. Noch nicht einmal mit Streuseln. „Komm, wir müssen noch zu den Putzmitteln“, drängte sie. „Ich schieb den Wagen“, schlug Jonas vor und vorsichtig bugsierte er das inzwischen hoch gefüllte Gefährt zu dem Regal mit den bunten Flaschen und Packungen, die porentiefe Reinheit versprachen. Silke griff nach Spülmittel, als sie plötzlich eine sanfte Stimme hörte. „Nehmen wir denn keinen besonderen Reiniger für die Spüle mehr“?, fragte ein Mann. Silke zuckte zusammen. Sie studierte übertrieben genau die Rückseite der Spüliflasche und schielte seitwärts. Das musste Michael sein. Eine Stimme verändert sich nicht. Er war es. Schlank, das Haar weniger und grauer, stark ausgeprägte Labialfalten, aber gut aussehen tat er noch immer. Sie rechnete – er musste jetzt 48 sein. Neben ihm eine hübsche blonde Frau, wesentlich jünger als er. Und wesentlich jünger als Silke.
Silke drehte sich um, legte die Flasche zu den übrigen Dingen in den Wagen und sagte zu Jonas: „Komm, wir müssen gehen. Papa wartet!“ und ging Richtung Kasse. Michael diskutierte mit seiner Begleitung weiter die Säuberung der Spüle und beachtete weder sie noch ihren Sohn. „Mama, die Streuselpackung rieselt“, rief Jonas zwischen ihre Gedanken. „Ich hole eine neue!“ Silke nickte ihm zu und packte die übrigen Sachen auf das Band. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Michael auf ihr Band zusteuerte. Nein, lieber Gott, bitte nicht, sandte Silke ein Stoßgebet zum Himmel. Gott hörte sie nicht. Denn Michael stand nun mit seiner Begleitung hinter ihr. Silke ordnete ihre Einkäufe und wandte sich halb seitwärts. Michael beachtete sie nicht, redete weiter auf seine Freundin (oder Frau) ein. Silke überlegte, die Streuselpackung nach ihm zu werfen und ihn in eine Million Schokoladenstäbchen zu hüllen … dann müsste er sie zumindest ansehen.
Wahrscheinlich würde er sie gar nicht erkennen.
Silke betrat die vom Mondlicht in dämmeriges Licht getauchte Küche, nahm sich ein Glas und füllte es mit Wasser. Sie lauschte. Im Haus war es still. Durch das geöffnete Fenster hörte sie das sanfte Rauschen des Meeres. Sie setzte sich an den Tisch und zuckte zusammen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde.
„Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier finde“, sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie betrachtete sein müdes Gesicht, die klugen Augen hinter der Brille, den sanft geschwungenen, beinahe femininen Mund. „Was ist los?“, fragte er. „Ich beobachte dich schon den ganzen Abend. Du schautest mir immer traurig hinterher, aber du hast nichts gesagt. Du hast dich auch nicht an den Spielen und der Unterhaltung beteiligt.“
Sie schwieg. Was sollte sie schon sagen? Dass sie sich in ihn verliebt hatte? Dass noch drei Tage blieben, um ihn zu sehen? Dass danach sowieso alles vorbei wäre?
„Kann es sein“, setzte er behutsam an, „dass ich dir … nun sagen wir … sehr gefalle?“
Sie nickte beklommen. Er stützte das Kinn in die linke Hand. „Tja, das schmeichelt mir zwar, aber du weißt, zwischen uns liegen Welten.“ Sie blickte nicht auf, konzentrierte sich auf den Anblick seiner gebräunten rechten Hand, die wie ein kleines Tier auf dem Tisch ruhte. „Ich muss dir etwas erklären“, fuhr er fort, wie ein Arzt, der weh tun muss, um zu heilen. „Ich mag dich ja auch, ich habe gemerkt, dass du anders bist als die übrigen Mädchen, nicht so laut, nicht so affig, nicht so auf Äußerlichkeiten bedacht, aber ich bin vierundzwanzig und studiere. Und du bist erst sechzehn und gehst noch zur Schule. Bald beginnt wieder das Semester, ich habe viele Klausuren zu bestehen und keine Zeit für eine Freundin. Also ich meine“, er stockte , „wir sind eben einfach zu weit auseinander, nicht nur vom Alter her und … “, er brach ab und schwieg, da sie es auch immer noch tat.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fügte er an: „Schau, ich wollte mir hier nur als Reiseleiter ein bisschen Geld verdienen. Ich wollte keine Herzen brechen. Aber ich muss dir trotzdem etwas sagen: Du hast wunderschöne Augen. Und jetzt gehen wir schlafen, es ist schon halb vier, in vier Stunden gibt es Frühstück!“
Silke stand auf, langsam, wie gelähmt, und blickte ihn an, senkte aber den Blick gleich wieder. Er drückte ihre Schultern und dann gingen sie hintereinander die Treppe hoch, er ging nach rechts, sie nach links. Ihre Zimmergenossin schlief tief und fest.
Silke lag schlaflos im Bett, konnte nicht weinen und hätte es gern. Drei Tage musste sie noch überstehen, jetzt war es nur noch ein Überstehen, keine Freude mehr, ihn noch in dieser Zeit erleben zu können.
Ein paar Stunden später saß sie beim Frühstück inmitten fünfzig schwatzender Jugendlicher. Sie brachte beinahe keinen Bissen herunter. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, wie er am Tisch mit den anderen Betreuern Kaffee trank. Auch er wirkte übernächtigt, sah aber wie immer umwerfend aus in seinem weißen Polohemd und der blauen Leinenhose. „Guck mal, der Michael, kein Wässerchen kann der wieder trüben“, sagte ihre Freundin Ilse mit vollem Mund, „der tut so brav, dabei hab ich mitgekriegt, wie der mit Mona auf dem Bett lag“, fuhr sie fort und schob sich ein neues Croissant zwischen die Zähne. „Der? Mit Mona? Der steht auf Atombusen, kein Hirn inner Birne und nen dicken Arsch?“, fragte ein anderes Mädchen ungläubig. „Ja klar“, erklärte Ilse ungerührt, „die Zimmertür war nur angelehnt, ich wollte den etwas fragen und da sah ich die beiden knutschend auf dem Bett. Die erkundeten gerade gegenseitig ihre Rachenmandeln!“
Silke verschluckte sich beinahe an dem Schluck Tee, den sie gerade trinken wollte. Ihr Michael mit Mona, dieser aufgedonnerten Tussi ohne Schulabschluss? Die sich hier als Küchenhilfe einen Urlaub verdiente? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Solche Typen zog er vor? Ihr vor. Natürlich, Mona war schon zwanzig. Silke war nur sechzehn, zu jung für ihn und … „Habt ihr alle gut geschlafen?“ hörte sie auf einmal seine Stimme. Michael blickte auf die um den Tisch versammelten Mädchen. „Ich nicht“, hörte sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung sagen, während die anderen wild durcheinander redeten. „Heute machen wir die Bootsfahrt, denkt bitte daran, pünktlich um zehn Uhr am Anleger zu sein“, sagte Michael und verschwand aus ihrem Blickfeld, nicht ohne sie noch kurz intensiv zu taxieren. Silke wünschte sich Wut herbei, um „blödes Arschloch“ denken zu können, aber sie fühlte nur eine traurige Leere. -
„Mama, ich finde die Streusel nicht!“ rief Jonas und „Jetzt komm doch mal!“ Silke seufzte, packte Nudeln und Reis in den Einkaufswagen und bog in den nächsten Gang ein. Ihr Sohn stand mit gerunzelter Stirn vor dem Regal. „Die haben hier nur die deutschen, nicht die leckeren holländischen“, konstatierte er. Silke nahm eine Packung vom obersten Regal. „Guck mal“, sagte sie lächelnd. Jonas zuckte zusammen. „Da sind sie ja“, rief er freudestrahlend und kniff seine Mutter in den Arm. „Du hast nichts gesagt!“ meinte er und lachte. Silke schmunzelte. Jonas hatte nie Zeit, sich ausgiebig mit etwas zu beschäftigen. Noch nicht einmal mit Streuseln. „Komm, wir müssen noch zu den Putzmitteln“, drängte sie. „Ich schieb den Wagen“, schlug Jonas vor und vorsichtig bugsierte er das inzwischen hoch gefüllte Gefährt zu dem Regal mit den bunten Flaschen und Packungen, die porentiefe Reinheit versprachen. Silke griff nach Spülmittel, als sie plötzlich eine sanfte Stimme hörte. „Nehmen wir denn keinen besonderen Reiniger für die Spüle mehr“?, fragte ein Mann. Silke zuckte zusammen. Sie studierte übertrieben genau die Rückseite der Spüliflasche und schielte seitwärts. Das musste Michael sein. Eine Stimme verändert sich nicht. Er war es. Schlank, das Haar weniger und grauer, stark ausgeprägte Labialfalten, aber gut aussehen tat er noch immer. Sie rechnete – er musste jetzt 48 sein. Neben ihm eine hübsche blonde Frau, wesentlich jünger als er. Und wesentlich jünger als Silke.
Silke drehte sich um, legte die Flasche zu den übrigen Dingen in den Wagen und sagte zu Jonas: „Komm, wir müssen gehen. Papa wartet!“ und ging Richtung Kasse. Michael diskutierte mit seiner Begleitung weiter die Säuberung der Spüle und beachtete weder sie noch ihren Sohn. „Mama, die Streuselpackung rieselt“, rief Jonas zwischen ihre Gedanken. „Ich hole eine neue!“ Silke nickte ihm zu und packte die übrigen Sachen auf das Band. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Michael auf ihr Band zusteuerte. Nein, lieber Gott, bitte nicht, sandte Silke ein Stoßgebet zum Himmel. Gott hörte sie nicht. Denn Michael stand nun mit seiner Begleitung hinter ihr. Silke ordnete ihre Einkäufe und wandte sich halb seitwärts. Michael beachtete sie nicht, redete weiter auf seine Freundin (oder Frau) ein. Silke überlegte, die Streuselpackung nach ihm zu werfen und ihn in eine Million Schokoladenstäbchen zu hüllen … dann müsste er sie zumindest ansehen.
Wahrscheinlich würde er sie gar nicht erkennen.
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