Die Unvernunft der Nacktschnecken 1. Kapitel (2)

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
„Na gut.“ Murlo seufzte ergeben. „Ich hatte mich sehr darauf gefreut, endlich auch einmal den Planeten betreten zu dürfen.“
„Aber nur in der Gruppe und unter Leitung des dritten Offiziers!“, herrschte Schurdak dazwischen. „Das war ein ausdrücklicher Befehl von mir.“
„Das weiß ich. Aber wegen der Jubiläumsfeierlichkeiten hatte Hochbetrieb in der Küche geherrscht. Bis wir wieder einigermaßen Ordnung in dem Laden hatten…“
„Jetzt behaupte nur noch, dass mein Dienstjubiläum der Grund für dein unmögliches…!“
„Nun lass ihn doch erst einmal ausreden“, fuhr Kastrilla sanft dazwischen.
Murlo schickte einen dankbaren Blick zu ihr hinüber. Dann fuhr er fort: „Nachdem ich mich endlich zum Landgang fertig gemacht hatte und den Teleporterraum betrat, waren die anderen schon weg. Maltun war so nett und beamte mich hinterher. Aber als ich mich auf dem Planeten wieder fand, war dort niemand von der Gruppe zu entdecken. Ganz in der Nähe sah ich einen besonders großen und reich gegliederten Hohlstein. Ich nahm an, dass die Gruppe dorthin aufgebrochen sein könnte.“
„Wer es sich leisten kann, die Landgangsbelehrung zu versäumen, weiß natürlich nicht, dass ich strikt verboten habe, sich den Steinhaufen zu nähern“, zischte Schurdak boshaft. „Und auf die Idee, einfach Kontakt mit der Gruppe aufzunehmen, bist du natürlich auch nicht gekommen.“
„Das hätte ich sicherlich noch getan. Zunächst war ich viel zu sehr abgelenkt von dem, was sich direkt vor meinen Augen abspielte. Ich befand mich in unmittelbarer Nähe eines Insektenpfades, auf dem ein Wahnsinnsbetrieb herrschte. Pausenlos flitzten kleine und größere Rollfußkäfer in beiden Richtungen die Piste entlang und erzeugten dabei ein ständig auf- und abschwellendes Brummen. Mir waren ja ähnliche Tiere vom Suner-Planeten bekannt, aber bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass die Käfer innen hohl waren. Und diesen Umstand nutzten andere kleine Käfer, um sich dort einzunisten und sich tragen zu lassen. Das schien die Rollfußkäfer aber nicht weiter zu stören, denn sie flitzten unbeirrt an mir vorbei, ohne sich jemals zu berühren. Ich war von dieser eigenartigen Symbiose so fasziniert, dass ich mich hin hockte und eine ganze Weile dem Treiben zusah.
„Ach wie süß“, kicherte Kastrilla. „Unser kleiner Murlo schaut den possierlichen Käferchen zu. Hast du Einfallspinsel gar nicht bemerkt, dass die bunten Käfer gar keine…?“
„Lass ihn ausreden!“, verlangte jetzt Schurdak seinerseits.
Murlo guckte beleidigt, beschloss aber, Kastrillas Spott zu ignorieren.
„Ich hockte da also am Boden, bewunderte die Farbenpracht der Käfer und überlegte, wie ich es anstellen könnte, einen zu fangen. Da hörte ich plötzlich ein merkwürdiges Geheul. Ziemlich laut war das. Ich schaute also in die Richtung, aus der das Geräusch kam und bemerkte, dass einer von den mittelgroßen Käfern die Schreie ausstieß. Es muss sich wohl um ein ranghohes Tier gehandelt haben, denn es trug einen blau blitzenden Kopfschmuck und alle anderen Käfer drängten sich ehrfurchtsvoll an den Rand des Pfades und blieben dort so lange stehen, bis der Blaugeschmückte vorbei gerannt war.“
„Gefahren! Nicht gerannt!“ verbesserte Kastrilla.
„Wie?“
„Mach weiter!“, winkte Schurdak ab.
„Ich blickte dem Oberkäfer hinterher und sah, wie er zu dem großen Hohlstein hastete. Dort blieb er stehen. Auf Grund der Entfernung konnte ich nur undeutlich sehen, wie zwei von den kleinen Käfern – zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, dass es sich um bebeinte Nacktschnecken handelte – heraus hopsten und etwas in den Hohlstein schoben.
‚Leben die Käfer in diesem Hohlstein?’, fragte ich mich und beschloss, dem auf den Grund zu gehen. Ich näherte mich dem Hohlstein mit aller gebotenen Vorsicht. Ehrenwort!
Die Wände besaßen kleine rechteckige Öffnungen, die in mehreren Reihen übereinander angeordnet waren. Auf Geländehöhe gab es sogar ein größeres Loch. Ich trat näher heran. Doch selbst diese Öffnung erwies sich als nicht einmal groß genug, um meinen Kopf hindurch stecken zu können.“
„Was du Trottel ja auch in beeindruckender Weise demonstriert hast“, fauchte Schurdak.
„Das war keine Absicht, sondern ein Unfall!“, verteidigte sich Murlo. „Während ich nämlich an dem Hohlstein stand, um einen Blick durch eine der Öffnungen in der dritten Reihe zu werfen, sah ich mit dem nach unten gerichteten Auge plötzlich zwei Nacktschnecken aus dem Eingang treten. Weil ich ihnen nicht den Weg versperren wollte, trat ich zwei Schritte zurück – und da passierte es.“
Murlo brach ab, um Luft zu holen. Er war es nicht gewöhnt, so lange Reden zu halten.
„Was passierte da?“ fragte Schurdak mit strengem, aber sichtlich gespanntem Gesichtsausdruck. Auch Kastrilla schaute interessiert herüber und versäumte es sogar, ihren spöttischen Senf hinzu zu schmieren.
„Ich spürte einen heftigen Schlag gegen die rechte Wade, warf sofort zwei Augen nach hinten und sah, dass mir so ein Blaukronenkäfer mit aller Wucht gegen das Bein gerannt war. Ich verlor das Gleichgewicht, fuchtelte nach Halt suchend um mich, aber da lag ich auch schon auf der Schnauze.“
Murlo rieb sich, von der Erinnerung überwältigt, den immer noch leicht schmerzenden Unterkiefer. Während er dann sein rechtes Bein vor streckte und auf die lädierten Schuppen im Unterschenkelbereich wies, hörte er das glockenhelle Lachen Kastrillas und war nun kurz davor, richtig wütend zu werden. Nur Schurdaks drohend zum Hohlhorn gezogenes Auge hielt ihn von einer unflätigen Bemerkung ab.
„Ich konnte wirklich nichts dafür“, sagte er nur.
„Und wie kommt es, dass du dabei von der Überwachungskamera erfasst wurdest? Wenigstens den Befehl zur Einhaltung des Unsichtbarkeitsmodus müsstest du doch kennen!“
Wieder trommelten Schurdaks Fäuste auf dem Fußboden umher.
„Ich war unsichtbar!“, beteuerte Murlo. „Aber bei dem Sturz hatte sich vom Tarngenerator ein Kabel gelöst. Ich habe es sofort gemerkt und trotz der großen Schmerzen noch im Liegen in Ordnung gebracht. Als mir auch noch der kleine Käfer gegen die linke Fußsohle knallte, war ich schon wieder unsichtbar. Das müsst ihr mir glauben.“
„Und trotzdem hat dieser Moment gereicht, um den ganzen Planeten in Aufruhr zu versetzen. Doch damit nicht genug. Anstatt sofort den Ort zu verlassen, grabscht der Herr auch noch durch ein Fenster und lässt ein Mönschlein mitgehen. Da – schau hin, was du angerichtet hast!“
Der graue Techniker hantierte an seiner Anlage, und schon erschien auf dem Bildschirm der Oberkörper einer Nacktschnecke. Sie hielt eine kurzgestielte Kugel vor ihren Schreispalt, aber aus den Lautsprechern drangen keine spitzen Schreie, sondern abgehackte Lautgruppen, die durchaus die Vermutung aufkommen ließen, das Wesen bediene sich einer Sprache. Und tatsächlich! Die Nacktschnecke verwendete eine Lautsprache! Das wurde Murlo spätestens klar, als der Techniker sagte: „Hier ist die Übersetzung.“
Und was er nun vernahm, ließ ihn peu a peu den Unterkiefer herunter klappen, bis der in der untersten Stellung hörbar einrastete.

„Ich stehe hier etwa hundert Meter vom Gebäudekomplex der Landesklinik entfernt. Hinter mir sehen sie die große gläserne Flügeltür vom Haupteingang, wo sich vor wenigen Stunden so Dramatisches abgespielt hat.
Eine junge Frau wurde aus der onkologischen Abteilung der Klinik entführt. Die Kidnapper müssen dabei äußerst brutal und rücksichtslos vorgegangen sein.“
Die Kamera zoomet das Gebäude heran, bis nur noch ein völlig zertrümmertes Fenster den Bildschirm ausfüllte.
„Durch dieses Fernster im zweiten Stock sind die Entführer in das Krankenzimmer eingedrungen und müssen auf dem gleichen Weg samt ihrer Geisel das Haus auch wieder verlassen haben. Das Opfer dürfte sich zur Wehr gesetzt haben, denn einer der Polizeibeamten, die den Tatort besichtigten, berichtete von einer völlig zerschlagenen Einrichtung. Wie die Täter ungesehen eindringen konnten und auf welchem Wege sie das Gelände wieder verlassen haben, ist momentan noch völlig unklar. Ich würde ohne Übertreibung sogar den Begriff „mysteriös“ verwenden. Die Polizei, die den gesamten Komplex umstellt hat, scheint jedenfalls noch völlig im Dunkeln zu tappen.
Ein ebenso großes Rätsel ist das Motiv für die Tat. Das Opfer – die dreiunddreißigjährige Katharina S., Mutter einer fünfjährigen Tochter, – ist, so konnten wir erfahren, völlig mittellos und somit wohl kein Zielobjekt für eine Lösegeld-Erpressung. Haben sich die Täter im Stockwerk geirrt? Denn, wie erst in den letzten Minuten durchsickerte, befindet sich zurzeit die Tochter des Landtagsabgeordneten Dietrich Rauhwolf auf der für Privatpatienten reservierten Station im dritten Obergeschoss der Klinik. Das Fenster ihres Zimmers liegt haargenau über dem von Katharina S.
Doch damit haben sich die Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Entführungsfall stellen, noch lange nicht erschöpft. Gibt es zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen dieser Tat und den beiden Unfällen, die sich zeitgleich vor dem Klinikgelände ereigneten?“
Die Kamera vollführte einen Schwenk und Murlo sah einen Blaukronenkäfer reglos auf der Seite liegen.
„Der ist hin“, schnaufte Murlo zufrieden. Und als ein kleinerer Rundbeinkäfer ins Bild kam, der ebenfalls keine Lebenszeichen von sich gab, wurde das mit den Worten „Der ist mir in die Hacken geknallt. Das ist ihm wohl auch nicht so recht bekommen“ quittiert.
„Ich denke, wir sollten Murlo erst mal aufklären. Er scheint wirklich nicht zu ahnen, was er da angerichtet hat“, sagte Kastrilla, und aller Schalk war aus ihren Augen verflogen. „Sein ständiges Gefasel von Käfern und Nacktschnecken beweist doch, dass er nicht den geringsten Schimmer hat, wen er da aus dieser Krankenstation entführt hat. Murlo – es handelt sich bei den Lebewesen nicht um Nacktschnecken, sondern um intelligente Wirbeltiere!“
Murlo sah misstrauisch zu der Biologin. Wollte sie ihn verkotbeuteln? Doch sie schaute so ernsthaft drein, dass sein Protest ziemlich fad rüber kam.
„Das glaube ich einfach nicht“, sagte er halblaut. „Jedes Wirbeltier besitzt doch einen vernünftigen Schuppenpanzer… na ja… oder ein hübsches Federkleid. Und dann gibt es natürlich noch die hässlichen Säuger mit ihren blöden Pelzen. Bei den Schnecken findet sich weder das eine noch das andere.“
„Du hast nur nicht richtig hingeschaut.“
Kastrilla stand auf und trat ganz dicht an Murlo heran. Ihre Hand fuhr sanft über seinen zerschundenen Unterkiefer.
„Tut es noch sehr weh?“
Murlo wagte unter ihrer Berührung nicht einmal den Kopf zu schütteln. Ihre Duftdrüsen am Hals vibrierten ganz leicht und mehr noch als ihre Hand streichelte ihn dieses verführerische Aroma.
„Komm mit. Ich zeige dir etwas“, sagte sie und nahm ihn bei der Hand.
Schon fühlte sich Murlo aus dem Chefzimmer geschoben.
„Aber wiederkommen! Wir sind noch nicht fertig!“, rief ihnen Schurdak hinterher.

Sollte er doch brüllen. Im Augenblick war das Murlo völlig egal. Wie in Trance lief er neben Kastrilla durch die Gänge des Raumschiffes und ließ sich in diesen herrlichen Duft hüllen, den sie ganz bestimmt nur für ihn verströmte.
„Dort hinein!“
Kastrilla wies auf die Tür zum biologischen Labor. Und während sich die Tür öffnete, schlossen sich Kastrillas Halsdrüsen und das angebetete Weibchen, das soeben noch ihre Zuneigung signalisiert hatte, wurde wieder zur rein rationalen Chefbiologin. Schade.
Murlo kannte das Labor, und so besaß er auch keinen Blick für all die Präparate, die scheinbar bunt durcheinander gewürfelt, aber gut gesichert die Wände des Raumes drapierten. Er folgte Kastrilla an den großen Tisch, wo unter einem Geflecht aus Schläuchen, Kabeln, Schnüren und darin eingewebten Sensoren sechs reglos ausgestreckte Körper lagen. Sechs Nacktschnecken – hübsch in Reih und Glied und ihrer dünnen Flatterhaut beraubt.
„Tritt näher“, forderte ihn Kastrilla auf.
„Sind sie tot?“, fragte er, aber bei näherem Hinschauen sah er, wie sich die Oberkörper der…dieser „Na-was-denn-nun“ schwach hoben und senkten. Das kannte er bereits und wusste, dass es das Atmen der Geschöpfe signalisierte.
„Siehst du nun, dass es sich um eine Lebensart handelt, die von Pelztieren abstammt?“
Kastrilla deutete auf den Kopf eines der Liegenden und ließ dann ihren Finger langsam an dem rosigen Körper herab gleiten. Tatsächlich. Der obere Teil des Kopfes, die Partie um das Schreiloch herum, aber auch die Brust wiesen eine durchaus dichte Behaarung auf. Auch dort, wo die Hinterbeine auf Rumpfhöhe zusammen stießen, erkannte er ein kleines Fellstück.
„Man braucht nur ein schwaches Vergrößerungsgerät, um zu erkennen, dass auch die mit bloßem Auge haarlos erscheinenden Körperstellen, mit einem ganz feinen Flaum bedeckt sind. Es scheint da aber einen Unterschied zwischen Männchen und Weibchen zu geben. Bei dem Exemplar handelt es sich um ein Männchen. Und das hier ist ein Weibchen.“
Kastrilla wies auf die daneben liegende Gestalt, aber Murlo schaute nicht hin. Er hatte soeben dieses winzige Schrumpelhörnchen entdeckt, und ihm kam eine Vermutung.“
„Ist das so etwas wie ein Hohlhorn?“, wollte er wissen und griff sich unwillkürlich an den Kopf.
Kastrilla nickte und erklärte ihm, dass es sich bei dem Schläuchlein tatsächlich um das Begattungsorgan handeln würde. Dann trat sie dich an das Weibchen heran, griff nach dessen Hinterbeinen und zog diese ein wenig auseinander. Trotz der dunklen Behaarung, vermochte Murlo zwei kleine Körperöffnungen zu erkennen. Kastrilla fuhr mit den Fingerspitzen darüber.
„Das hier ist die Kloake. Und hier befindet sich der Eingang zur Begattungsröhre.“
Vorsichtig zog sie zwei Hautfalten auseinander, und während Murlo sich die Sache näher betrachtete, folgte er Kastrillas Erläuterungen, in denen die Rede davon war, dass diese Röhre gleichzeitig auch der Geburtskanal sei.
Das ist ja eklig“, entfuhr es Murlo. „So dicht an der Kloake!?“
Er stellte sich vor, er müsste mit seinem Hohlhorn direkt neben einem Exkrementenbeutel herum wühlen. Bei aller heimlicher Liebe zu Kastrilla – aber das vermochte er sich nicht einmal bei ihr auszumalen. An dem Ekelgefühl änderte sich auch nichts, als Kastrilla beteuerte, dass nach bisherigen Erkenntnissen wohl alle Lebewesen dieses Planeten ähnlich angeordnete Fortpflanzungsorgane besäßen.
Der Chefarzt trat heran.
„Wir sind jetzt fertig“, sagte er und wies auf den fahrbaren Tisch, vor dem er bis eben noch gestanden hatte. Murlo sah, wie der Assistent einige Kabel entwirrte und sie umständlich an einem Gerät anzuschließen suchte. Murlo reckte den Hals, und da erkannte er die kleine Gestalt, die nackt auf dem Behandlungstisch lag.
Seine Nacktschnecke!
Er zupfte an Kastrillas Arm und bedeutete ihr, mitzukommen.
„Siehst du? Sie hat keinen Pelz!“ rief er triumphierend, als sie vor dem Tisch standen. „Nicht ein einziges Haar! Das ist eine ganz andere Spezies! Vielleicht liege ich mit meiner Nacktschneckentheorie gar nicht so…“
„Merkwürdig“, murmelte Kastrilla und strich vorsichtig mit einem Finger über die fahle Haut.
„Das ist keine andere Spezies“, erklärte der Arzt. „Bei diesem Exemplar liegt lediglich eine schwere Störung der biochemischen Prozesse vor. Dass muss wohl auch zum Verlust der gesamten Körperbehaarung geführt haben. Wir haben chemische Substanzen gefunden, die in diesem Körper eigentlich nichts zu suchen haben.“
„Vergiftet?“ Kastrilla schaute den Arzt fragend an, und als der nickte, wanderten ihre Augen zu Murlo. „Was hast du mit ihr angestellt?“
„Nichts! Beim Schrei des großen Nimbu! Nichts!“ Murlo riss beschwörend alle vier Arme in die Luft.
„Ich glaube dir kein Wort!“
„Aber ich“, sagte der Arzt. „Es muss ein Medikament sein, welches die Biochemie bei diesem Weibchen durcheinander gebracht hat. Wir haben im Körper entartete Zellen entdeckt, die zu lebensgefährlichen Wucherungen heran gewachsen sind. Die größte fanden wir im Kopf. Sie wurden von den verabreichten Substanzen zwar angegriffen, aber für eine Heilung hätte es einer Dosis bedurft, die das Weibchen umgebracht hätte.“
Murlo atmete auf.
„Wucherungen durch entartete Zellen“, sagte er sichtlich erleichtert. „Das hatte ich auch mal.“
Und er erzählte, dass er wegen dieser Krankheit sage und schreibe fünfmal hintereinander seinen Küchendienst nicht hatte antreten können.
„Simulant!“ fauchte Kastrilla in gespielter Entrüstung. Und an den Arzt gewandt wollte sie wissen, ob es eine Erklärung dafür gäbe, warum man bei solch einer Lappalie derart schädigende Medikamente verabreichen müsse.
„Ich denke, wir haben es hier mit intelligenten Lebewesen zu tun“, wunderte sie sich.
„So intelligent wohl auch wieder nicht“, sagte der Arzt. „Sie sind, soviel wir in Erfahrung bringen konnten, in der Medizin noch nicht sehr weit.“
Er strich der Patientin behutsam über den Kahlkopf. „Ich habe ihr etwas von unserem Sentvinguin intraveniert. Im Moment prüfen wir, ob es anschlägt.“
„Alles in Ordnung!“ meldete sich der Assistent, der die Kurven auf den Skalen der Überwachungsinstrumente verfolgte.
„Na bitte. Wir warten noch drei bis vier Dunkelphasen der betreffenden Planetenseite ab, dann bringen wir sie zurück.“
„Wäre sie gestorben, wenn ich sie nicht…?“
„Mit Sicherheit“, bestätigte der Arzt.
„Dann habe ich ihr ja das Leben gerettet!“
Murlo strahlte und dachte in diesem Moment mit keiner Silbe daran, dass dieses intelligente Weibchen eigentlich schon auf seinem Speisezettel gestanden hatte. Brauchte ja auch niemand zu wissen.
„Ich habe ein Leben gerettet“, wiederholte er fast ein wenig euphorisch und wunderte sich dann, weil die anerkennenden Blicke des Arztes ausblieben.
„Was man so Leben nennt“, sagte der sarkastisch. „Um richtig erfüllt zu leben, fehlt es ihnen einfach an Zeit.“
„Ach! Sie werden wohl nicht sehr alt?
„Nach unseren Schätzungen mag ihr Leben im Durchschnitt nullkommafünf bis nullkommasechs Großaneel währen.“
Murlo rechnete, schüttelte den Kopf, überschlug die Zahlen noch einmal und umfing dann das reglos vor ihm liegende Geschöpf mit einem mitleidvollen Blick.
„Armes Mönschlein. Du lebst kaum mehr als ein zweihundertstel der Zeit, die ich zu leben habe. Und obendrein ist dieses kurze Dasein auch noch mit solchen Gefahren verbunden.“
„Unsere Historiker meinen, dies sei auch der Grund, dass die Mönschlein an ein glückliches und ewig währendes Leben nach dem Tode glauben“, mischte sich Kastrilla wieder ein. „Das ist ein Phänomen und entbehrt jeglicher Logik. Vielleicht suchen sie darin auch nur Trost, weil sie wissen, dass in der kurzen Zeit ihres Daseins für sie nur ein Bruchteil von dem realisierbar ist, das sie sich als erlebbar vorstellen können. Etwas vom Leben haben – dieses Motto scheint die Haupttriebfeder ihres Handelns zu sein. Je mehr man vom Leben hat, umso besser, je weniger, umso unzufriedener bleibt das Wesen. Also hastet alles diesem zwanghaften Habenwollen hinterher. Jeder möchte dabei der Erste sein, und es wird alles überrannt, was auf diesem Weg hinderlich ist oder auch nur zu sein scheint. Diese Lebewesen können daher nur rücksichtslos und bar jeglicher Vernunft sein. Augenblicke der Ruhe, der Besinnung oder des Genießens sind meist so lächerlich kurz, dass wir solche Momente nicht einmal richtig wahrnehmen würden. Diejenigen, die auch nicht annähernd das erreichen, was zu Beginn ihres Lebens noch als durchaus möglich erschien, bilden die Mehrheit der Bevölkerung. In ihnen löst das ungewollte Zurückbleiben vor allem Resignation aus, die häufig zu Depressionen führt. Wir haben es auf diesem Planeten mit einer unverschuldet kranken Lebensform zu tun. Wie gesagt, es scheint nichts in dieser Gesellschaft zu geben, was wir als vernünftig bezeichnen könnten. Wir dürfen aber darüber nicht richten, denn wir wissen nicht, wie es ist, ein solch kurzes Leben führen zu müssen.“
Der Arzt hatte bei Kastrillas Worten mehrmals genickt. Murlo hielt alle Augen auf „seine Nacktschnecke“ gerichtet, und man sah ihm seine Nachdenklichkeit an.
„Und da kann man nichts tun?“, fragte er. „Ich meine, wenn wir im großen Stil eine genetische…“
Er brach ab, weil Kastrilla ihm eines ihrer Armgelenke kräftig gegen seine weichen Bauchschuppen stieß.
„Keine Einmischung! Du kennst den Befehl! Und nun komm!“

Nur widerwillig löste Murlo seine Blicke von der kleinen blassen Gestalt.
Als er an Kastrillas Seite wieder in Schurdaks Dienstraum trat, schien der sich beruhigt zu haben. Er forderte auch gar nicht erst zum Sitzen auf, sondern kam gleich zur Sache.
„Hör zu, Murlo! Von einer Degradierung kann ich gerade noch absehen. Aber Strafe muss sein. Für die nächsten zehn Titaks ist für dich Landgangssperre angesagt. Wir können es uns nicht leisten, dass die Mönschlein unsere Anwesenheit bemerken. Es wird schon schwer genug sein, die zeitweilige Entführung von sechs Exemplaren so zu vertuschen, ohne dort unten Verdacht zu erregen. Aber mit dieser Aufgabe sind dafür ausgebildete Kollegen betraut. Da darf es einfach nicht sein, dass ein wildgewordener Koch unser Konzept durcheinander bringt. Was wolltest du eigentlich mit diesem Mönschlein?“
Der „wildgewordene Koch“ unterdrückte nur mühsam ein zorniges Fauchen.
„Ich wollte unseren Gewürzvorrat ergänzen, beziehungsweise bereichern“, sagte er mit gedämpftem Trotz.
„Was wolltest du?“, kam es gleichzeitig aus Schurdaks und Kastrillas Schnauzen.
Doch noch ehe die Beiden dazu kamen, ihre wilden Spekulationen über Murlos Motive los zu werden, sprudelte er seine Erklärung hervor.
 

flammarion

Foren-Redakteur
ei,

da sind ja schon 2 fortsetzungen.
ich finde es spannend und werde gleich das nächste kapitel lesen. an diesem hier finde ich den Einfallspinsel sehr amüsant, aber du solltest vielleicht doch besser das eine l durch ein t ersetzen. es ist nicht logisch, dass aliens, wenn sie miteinander reden, irdische witze machen.
lg
 

jon

Mitglied
Vielleicht geht das nur mir so, aber trotz „guter Schreibe" langweilte mich dieser Abschnitt. Das fing schon im ersten Teil an, weil: Was die „Nacktschnecken" wirklich sind, wird sehr schnell klar – danach ist das Thema uninteressant, man will etwas über Murlo und die seinen erfahren. Dass Murlo "widerrechtlich" auf dem Planeten war und nun wohl Ärger hat, ist schon im ersten Teil klar geworden – spannende(!) neue Infos gibt es hier nicht, am Ende weiß man nur unwesentlich mehr als vor diesem Teil.

Ich seh das Dilemma natürlich: Murlo muss auch begreifen, was wir schon wissen, und irgendwie muss der Wortwechsel glaubhaft sein. Aber soooooo ausufernd muss man das nicht gestalten – da ist die Fabulierlust mit dem Autor durchgegangen.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo jon,

vielen Dank für deinen Kommentar. Leider komme ich erst jetzt dazu, darauf zu antworten.
Ich habe es geahnt! Du schreibt: „Vielleicht geht das nur mir so, aber trotz „guter Schreibe" langweilte mich dieser Abschnitt.“

Nein – es geht offensichtlich nicht nur dir so. Rumpelstilzchen hat an anderer Stelle den zweiten Teil zwar noch „durchgehen“ lassen, ist aber spätestens im dritten Teil zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen, wie du.
„Langweilig“ – das ist zumindest für mich so ziemlich das niederschmetternste Attribut, das man einem Text geben kann. Wie gesagt; ich habe es geahnt und fühle mich nun leider darin bestätigt. Eigentlich wollte ich nur eine im lockeren Ton gehaltene und einfach nur unterhaltsame Kurzgeschichte schreiben. Ohne auf einem richtigen Konzept aufzubauen, uferte die Story mehr und mehr aus, und jetzt – kurz vor der Fertigstellung – muss ich zur Kenntnis nehmen, dass da etwas gehörig in die Hose gegangen zu sein scheint.
Es gibt zwei Thesen, die ich in der „episodenhaften Novelle?“ aufgreifen und zur Diskussion stellen möchte:

1. Die Unvernunft menschlichen Handelns, die wir aus der Geschichte der Menschheit kennen und der wir täglich begegnen, hat ihre Wurzeln in der lächerlich geringen Lebenserwartung der menschlichen Individuen.

2. Eine durchgreifende Veränderung ist nur durch äußeren Zwang bzw. Einfluss möglich, wobei ich daran die Frage knüpfen will, ob es vom Standpunkt einer über den rein irdischen Werten stehenden Gesellschaftsform moralisch vertretbar ist, diesen Zwang auch auszuüben.

An dieser Thematik möchte ich gern festhalten. Nun muss ich mir nur noch Gedanken machen, ob und vor allem wie ich den Text neu konzipiere. Dein Einschub „trotz guter Schreibe“ kann da nur Mut machen. Ich werde trotzdem den erst einmal die so gut wie fertiggestellte Erstfassung hier einstellen, in der Hoffnung, noch vielleicht ein paar Hinweise zu bekommen Und dann… schaun wir mal.

Nochmals besten Dank.

Gruß Ralph
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich würde den moralisch erklärenden Teil stark kürzen oder weglassen.
So etwas könnte man vielleicht besser in Interaktion herausfinden.

Etwa wenn Du beide Rassen auf einem anderen Planeten zusammentreffen lässt, wo beide am selben Problem arbeiten.
Irgendein großes Rätsel mit bedrohlichem Charakter.

Murlos Begegnung ließe sich fast unverändert unterbringen. Darüber hinaus kannst Du die Möschlein scheitern lassen. Wo sich Deine Aliens, wie heißen sie eigentlich?, Zeit lassen können, begehen die Menschen Fehler.

Auch fände ich es dramatischer, wenn Murlo bereits eine Portion Nachschneckenragout zubereitet hätte.
Ok, er würde dann vielleicht ihren Aufbau bemerken, aber es würde seiner Psyche mehr Inhalt geben.

Wie sind eigentlich die genauen Größenverhältnisse? Irgendwie wurden die Schnecken im zweiten Teil kleiner...
 



 
Oben Unten