Die Verklemme

Markus Veith

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Es ist doch immer das gleiche: Gerade dann, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann, drückt einem der Drang von innen in die Lenden. Da ist mann ebenso genötigt, wie frau. Da laufen beide mit aneinanderreibenden Oberschenkeln. Die Augen aufgerissen, ja, schreckgeweitet. Da beißen beiden knirschend die Zähne aufeinander, bis der Kiefer wehtut. Die Wege werden länger statt kürzer. Der Atem schrumpft auf ein Japsen zusammen, weil es innerlich so dermaßen voll wird, daß die Lungen keinen Platz mehr zu haben scheinen. Da drückt man die Hände tief in die Hosentaschen, damit hoffentlich niemand merkt, wie Sie den Daumenfingernagel in den Zeigefinger stemmt, um einen Punkt zu haben, der noch mehr schmerzt, als die Innereien; und Er, um quetschend Hand an sich zu legen - was hoffentlich niemand sieht, - damit der Harn nicht fließen kann. Man mag es kaum glauben, doch manchmal entspannt das ein wenig. Besonders quälend zu erwähnen ist hier der sogenannte Tankstellen-Effekt. Hier handelt es sich um jenen schrecklichen Augenblick, nach manchmal Stunden der Unterdrückung endlich ein Klosett gefunden zu haben, doch dann panisch festzustellen, daß die Tür verschlossen ist und man den Schlüssel erst noch von irgendjemandem irgendwo abholen muß.
Und jedem von uns ist doch wohl das orgasmusartige Gefühl bekannt, welches sich nach dem Finden des sehnsüchtig gesuchten Örtchens einstellt. Die Augenblicke danach, in denen die erlahmten Körperfunktionen verschnaufen können und der wohlige Schweiß der Erleichterung aus den entkrampften Poren sickert.
Was die Chancen einer rechtzeitigen Erleichterung betrifft, so ist in diesem Punkt der Mann der Frau voraus. Hier ist das in erster Linie vom weiblichen Geschlecht so vehement beschimpfte PiS (Pinkeln im Stehen) im wahrsten Sinn des Wortes notdürftig erlaubt und, mal anatomisch betrachtet, um einiges leichter ausführbar und sogar von nicht von der Hand zu weisendem Vorteil. Der Urtrieb, im Stehen zu Pinkeln braucht nicht unterdrückt zu werden. Und seien wie ehrlich: Um einen Urtrieb handelt es sich doch zweifelsohne. Welcher männliche Höhlenmensch hätte es damals schon bevorzugt, sich beim simplen Entledigen von purer Flüssigkeit in die prähistorischen Nesseln zu setzen? Doch mag mann darüber denken, wie frau will.
Der Mann kann theoretisch überall hinurinieren. Theoretisch. In der Stadt bieten sich hier so einige spezielle Ecken an. Seien es eng stehende Autos oder das in diesem Falle oft als Gebüsch bezeichnete Strauchwerk oder abgelegene Häuserecken, die man im übrigen schon gerüchlich als beliebte Ent- bzw. Bewässerungsorte erkennen kann. Im Wald oder in Parkanlagen ist es noch einfacher. Hier sei die Rindenbeschaffenheit der verschiedenen Baumarten zu beachten: An Kastanien, Pappeln und Eichen ist es, wenn man nicht aufpaßt, wegen ihres furchigen Stammes wahrscheinlich, daß man sich eine spritzwassernasse Hose holt. Zu empfehlen sind Birken und Buchen, da hier der Saft ungehindert entweichen kann. Auch Eiben sind ganz passabel, doch fallen hier unter gebückten Umständen leicht unangenehme Nadeln in den Nacken.
Im Winter ist dieser Vorgang allenfalls unangenehm. Unter dem Aspekt, daß sich lebende Objekte bei Kälte zusammen- oder zumindest zurückziehen, ist die gebräuchliche, männliche Geste, die niedrige Temperatur durch den geringen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger anzuzeigen, durchaus zutreffend. Fingerspitzen, die über längere Zeit Minusgraden ausgesetzt waren, lassen im Innern von wintergerecht verpackten Hosen akute Kryästhesie ausbrechen.
Das Meer ist im dringenden Falle ein für beide Geschlechtern gleichermaßen günstiger Ort. Das Schwimmbad auch, wenn es nur darum geht, sich zu erleichtern und die Schenkelgegend kurzzeitig sanft zu erwärmen. Hygienisch betrachtet ist eine Badeanstalt natürlich fragwürdig. Im häuslichen Badewannenbad ist die erlöste Notdurft, wenn auch nicht direkt Geschmackssache, so doch aber immerhin eigene Entscheidung.
Aber auch beim Mann gibt es hier gewisse ... Entladungshemmungen. Natürlich ist dies nicht immer und auch nicht bei jedem der Fall. Sicherlich gibt es Männer, die ungeniert, wo es sie gerade überkommt, in der Gegend rumstrullern. Da kommt ihnen im überfüllten Fußballstadion auch mal ein einfacher Plastikbecher recht.
Doch gibt es im männlichen Organismus ein bis dato noch nicht vollkommen erforschtes Organ, (Oder sollte ich sagen: eine Kontraktion?) welche in der Regel nur bei besonders, nun ja, zurückhaltenden Menschen mit besonders ausgeprägter und ausgedehnter Schamgrenze in Erscheinung, oder sollte ich sagen: eben nicht in Erscheinung? - tritt. Ich nenne es hier einfach mal: Die Verklemme.
Es gibt Beobachtungen männlicher Exemplare der menschlichen Gattung, bei denen dieses Phänomen der Verklemme regelmäßig auch oder gerade unter größtem Druck auftaucht. Dabei komme ich nicht umhin, zuzugeben, daß die Verklemme sehr viel mit Phantasie zu tun hat - inbesondere um jene Phantasie, etwas zu sehen, was überhaupt nicht da ist - und mit der ungeheuren Kraft des Willens, den diese Phantasie hervorruft, nämlich etwas nicht wollen zu wollen und damit nicht zu können.
Man stelle sich einen dringend genötigten Mann vor. In der Stadt, wo das Leben wuselt und strudelt. Wo Mann zwar nach allen Seiten hin verdeckt sein könnte und auch wäre, wäre da nicht das genaue Wissen, daß sich hinter dem betonenden Großstadtmantel Hunderte und Tausende Augenpaare jener Menschen verbergen, die gucken - ja, glotzen würden, wenn sie könnten. Da kann eine Ecke noch so geschützt sein, es ist doch alles voll mit verdeckten, nicht minder gaffenden Augenpaaren und Mann fühlt sich unerträglich beobachtet und sei es nur von einem lächelnden Plakatgesicht, das für Mineralwasser wirbt.
Wohin also? In Geschäften müßte man ja nach der Toilette fragen und ob das dann erlaubt oder gern gesehen wird, das ist die Frage, dessen Antwort trotz der Notdurft umgangen wird. So schlimm ist es ja noch nicht. Ist es nie. Oh ja, die Verklemme hindert lange.
Und selbst öffentliche Toiletten sind nicht perfekt, denn sie könnten besetzt sein. Pissoirs sind vielleicht ein Optimum, wenn es darum geht, im Stehen zu Pinkeln, aber die Verklemme läßt keinen Tropfen durch, wenn nebenan jemand steht, den es eigentlich einen Scheißdreck interessiert, der aber immerhin - siehe oben - gucken könnte. - Ja, sie werden lachen, aber es gibt den Typ Mann, dem die Verklemme das Wasserlassen verkneift, wenn in einer öffentliche Toilette kein Bottich frei ist.
Was tun, wenn keine solche Möglichkeit vorhanden ist? In den Supermarkt um die Ecke geht man nicht. Das gehört sich einfach nicht. Man geht in einem Supermarkt nunmal nicht auf die Toilette. So!
Aber wo sonst? - Hinterm Busch? Klar, theoretisch ginge das. Aber, wie bereits des öfteren erwähnt: Siehe oben. Außer das eigene abgeschirmte, geshelterte WC hat die Stadt überall ihre Augenblicke.
Bei Nacht sind die Chancen größer. Beliebt sind dann gegebenenfalls Hausmüllanlagen. Allerdings nur unbeleuchtete. Auch sind Gefälle hier sehr kritisch. Die Spuren fließen sturzbachartig in die Außenwelt und es soll Verklemmen geben, die den Saft, auch wenn er schon läufig ist, doch noch einmal festhalten, was als besonders schwierig gilt.
Oder setzen wir unseren genötigten Mann mitten auf ein riesengroßes, kurzgemähtes Feld. Nach allen Seiten ist alles in alle Entfernungen und zu aller Welt hin offen und frei. Alles ist leer. Leere Nacht. Leerer als leer.
Ich versichere Ihnen: Es wird nichts passieren. Denn so leer kann ein großes Feld gar nicht sein, daß Mann sich nicht beobachtet fühlt. Schlimmstenfalls ist Vollmond. Der grinst von oben herab mit seiner fetten, bleichen Fleckvisage. Schaut als gewaltige, geschlechtslose Nötigung auf die minimale Männlichkeit, an der Mann da mit so viel Wertschätzung hängt und gar nicht so genau weißt, ob sie an ihm oder er an ihr befestigt ist. Die Augen der ganzen Welt schmerzen auf der männlichen Mitte. Glauben sie ihm nie der Ausrede, es sei nicht schicklich, in der Öffentlichkeit zu pinkeln. Das würde man nicht machen. Und deshalb würde man sich verstecken. Alles Ausrede. Alles gelogen.
Sich zu verpissen hat in immer auch etwas mit Alleinsein und Einsamkeit zu tun. Dorthin geht selbst der Kaiser allein, so heißt es doch. Und jeder Umstand der diesem eingefleischten Brauch entgegentritt, ist für unseren Verklemmenbesitzer ein Martyrium. Und natürlich nicht nur hier. Der männliche Intimbereich ist ein Tabu, über das man selbst nicht einmal nachdenkt. Er ist ein persönliches Heiligtum und darüber zu reden ist ein Sakrileg. Pinkeln allerdings dementsprechend als Sakrament zu bezeichnen, verkneife ich mir, jedoch hege ich die Vermutung, daß es männliche Geschöpfe gibt, die ihren besten Freund durchaus als Reliquie anerkennen würden. Man könnte diese behütete Zone auch "Schwarzes Loch" nennen. Man sieht zwar nicht, wie es die fremden Blicke auf sich zieht, doch man glaubt es. Und niemand soll wissen, was dahintersteckt. Es ist das letzte Geheimnis des Verklemmenbesitzers. Es ist unanständig, daran zu denken. Der dringend genötigte Mann ist wie jener kleine Junge, der beim Hosenkauf bei C&A den Vorhang der Umkleidekabine so geschlossen hält, daß möglichst nicht einmal Luft hindurchkommt. Man könnte ja was weggucken. Ist sowieso erst so wenig.
Es ist die unsichtbar bare, männliche Mitte. Die Verklemme der Verklemmten. Taube Nüsse, die unter den Blicken von Augen, die es zwar nicht gibt, die es aber geben könnte - das alleine zählt - schwer und schwerer, groß und größer, häßlich und häßlicher werden. Die Verklemme verwandelt sich in einen schwellkörpereigenen Hypochonder, der sich mehr einbildet als notwendig, der sich schwerwiegendere Verhängnisse einbildet, als die Anatomie überhaupt zuläßt.
Die Ungezwungenheit der Tiere, ihre mentalen Begierden und Notdürftigkeiten freien, entwässernden Lauf zu lassen, ist ausgestorben. Ausgutemanieriert. Die Verklemme hat den Drang abgeschnürt, unterdrückt, zurückgeschoben, - ja, kastriert.
"Verpiß dich!" hat inzwischen anderweitig an Bedeutung gewonnen.
Lassen sie es sich gesagt sein. So cool sich die Männer lässig und angeblich durch und durch männlich verpissen, ob nun in den Ecken der Stadt, oder auf freiem Feld: Es sind immer Augen da. Auch wenn man sie nicht sieht. Mann spürt sie. Lassen Sie es sich gesagt sein: Die Verklemme klemmt. Und es wird immer Männer geben, die den Mechanismus niemals finden werden.
 
A

Ariel Frey

Gast
Herrlich!

Treffliche Vergleiche, originelle Beispiele, herrliche Wortspiele. Obwohl ich mit Sie und Er anfangs Sinnverstehungsprobleme hatte. Fraulich! Ich wusste gar nicht, dass es solche kleinen Probleme auch bei Männern gibt, oder hauptsächlich bei Männern? So guckt man also hin, tss tss tss! Da lernt frau richtig was, sehr schön.
 



 
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