Die Vernissage

Ich kann das nicht mehr.
Mich dazustellen zu den aufgebrezelten Weinschlürfern, die darüber sinnieren, was dieser und jener Farbklecks auf der Leinwand für eine bedeutungsschwangere Tiefe hätte.
Früher hab ich noch anders auf dieses Treiben geschaut.
Die Herrschaften, die wohlfeile Reden schwingen, die exzentrisch gekleideten Besucher und obendrein die Künstler, die der Welt etwas zu sagen haben, die einen kritischen Blick mit hereinbringen und gehört werden, auf dass diese Welt sich anders, besser entwickeln kann – mit Ehrfurcht sah ich zu ihnen auf.
Ich hatte gehofft, ich würde irgendwie oder irgendwann dazugehören zu dieser auserlesenen Gesellschaft, die den Durchblick hat und so gereift ist, dass sie niemandem Schlechtes will.
Das war einmal, das hat sich entzaubert.
Heute gehe ich durch die Galerie, wo dieser Künstler ausstellt, den zufällig jemand kennt, den ich kenne, und wäre am liebsten gar nicht erst gekommen.

Ich sehe in Gesichter mit riesigen rotumrandeten Brillengläsern, die wohl irgendwie originell sein sollen, sehe sorgfältig kombinierte Allover-Looks in Schwarz, Cocktailkleider und Markenhandtaschen, ältliche Frauen in ökologisch zertifizierten Wallegewändern, überdimensionierte Kettengehänge, die Anzugträger aus Wirtschaft und Politik, dazu eine Handvoll Kunststudenten, die ihrerseits mal auf eine Vernissage hoffen und wie sie sich alle gegenseitig ganz toll finden – und finde das gar nicht mehr.
Ich sehe in diese Gesichter und weiß, dass es grad jene Gesichter sind, die sich letzthin immer öfter nur zur reinen Härte verziehen, etwa, wenn es darum geht, Mitmenschen auszugrenzen, sofern die sich einer fragwürdigen Impfung verweigern oder wenn es darum geht, militärische Siege über alles zu stellen.
Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass es besonders die Akademiker-Kollegen meines Mannes waren, die sich in der gesellschaftszersetzenden Corona-Zeit als die ärgsten Hardliner erwiesen hatten. Sie sind es auch, die nun die härtesten Reden gegen Russland schwingen.
Und ich weiß, dass sich bei meinem Gegenüber nur Entsetzen und Abscheu hinter den roten Brillenrändern spiegeln würde, wenn ich davon anfinge, dass dieser Krieg in der Ukraine vielleicht noch andere Ursachen hat als einen bitterbösen Diktator, der urplötzlich gaga geworden ist.
Sie alle würden nur nicken zu dem Zeug, das täglich in den Zeitungen steht, und wenn es noch so bösartig, feindselig, irrsinnig ist.

Ich spaziere durch die Gänge. Weißgekalkte Wände, alles sehr puristisch, sauber, modern. Großzügig. Die aufgereihten Bilder an der Wand sind abstrakt und allesamt „ohne Titel“.
Ehrlich gesagt, sagen sie mir nicht viel. Gut, in dem einen oder anderen meine ich, etwas Gegenständliches zu entdecken. Ein Fenster, eine Landschaft vielleicht. Eine Regentonne? Ein Sessel? Ein Gesicht? Man müsste raten. Vor allem sieht man Farbverläufe.
Was uns der Künstler sagen will, frage ich mich schon.
Aber was verstehst du schon von Kunst? kommen sogleich die Zweifel hintennach.
Wieviel die anderen Gäste von der Sache verstehen, drängt sich als Frage aber ebenso herein. Ob die wirklich alles so kunstaffin sind – oder ob sie vielleicht nur mal wieder das kleine Schwarze ausführen wollten?
Ich stelle mir vor, es wäre jemand von meiner Familie mit dabei. Die haben mit Kunst eher weniger am Hut.
Wenn die „Maler“ hören, denken sie zuerst an Wandfarbe, Farbrollen und an den mäßigen Stundenlohn, den es für diese Art Malerarbeiten gibt, welche körperlich anstrengend sind. Dagegen: In einem geräumigen Atelier sitzen und die Leinwand mit Pinseln streicheln, das hört sich für sie wie Urlaub an.
Manch einer von ihnen, der das Herz allzu vorlaut auf der Zunge trägt, würde nach kurzer Rundumschau wohl urteilen: „Das kann ich auch. Paar Farbeimer über die Leinwand kippen, alles ineinanderlaufen lassen und sich ein paar hochtrabende Worte ausdenken, während man der Farbe beim Trocknen zusieht…“

Die hochtrabenden Worte folgen sogleich bei der Eröffnungsrede.
Der Künstler erzählt von seiner Motivation beim Malen, die, soviel offenbart er uns, vor allem einem inneren Drang folgt. Er muss einfach malen, sagt er, es strömt geradezu aus ihm heraus, und klar, er denkt sich was dabei, wenn er seine Bilder sorgfältig komponiert und immer wieder übermalt, bis sie schließlich als vollendetes Werk in der Galerie landen.
Ein Politiker gibt dann auch noch seinen salbungsvollen Senf dazu. Wir sind so stolz blabla reichhaltige kulturelle Landschaft blabla großes Talent…

Natürlich alle tun sehr gescheit.
Hören den Reden aufmerksam zu und applaudieren an den entsprechenden Stellen.
Eine Violinistin spielt auf und sorgt zusätzlich für hochkulturelle Atmosphäre.
Mich vermag das heute alles nicht zu erreichen.

Gerade hier und heute sehe ich nämlich vor allem nur sträflich vertane Chancen.
Immerhin weiß ich: Der vorgestellte Künstler hat an sich eine bemerkenswerte Vita, die nun besonders für die sich zuspitzende Weltlage relevant sein könnte – das alles soll aber just kein Thema mehr sein.
Fakt ist: Im langjährigen Schaffen und in den Projekten des geehrten Künstlers ist ein deutlicher Russland-Schwerpunkt auszumachen. „Österreichisch-russisch-litauisches Kulturprojekt“, „art-communication tour“ zwischen „Austria“ und „Moscow“, Austauschprojekte und internationale Kooperationen nach ebenda, wo man inzwischen nur noch Feinde sieht.
Auf den ausliegenden Infozetteln, die vom Werdegang des Künstlers erzählen, steht dann auch, seltsam, kein Wort mehr von einem Engagement in diese Richtung.
Der öffentlich interviewte Künstler schweigt sich ebenfalls aus über derlei Verstrickungen, als wären sie nur ein großer Irrtum gewesen, für den man sich im Nachhinein schämen muss.
Einfach nur schade ist das und macht alles zunichte, für mich jedenfalls.

Grade jetzt, da die Welt nur noch in kriegerischen Kategorien denkt, wäre es umso wichtiger, die verbindenden Kommunikationskanäle in alle Richtungen offen zu halten!
Im Moment, da sich die Fronten für einen Weltkrieg schon wieder hart abzeichnen, wäre es doch besonders dringend geboten, dass zumindest die Kunst die harten Kanten weich und verbindlich zeichnet.
Kunst soll ja doch etwas Verbindendes sein und der Kooperation, dem Friedlichen dienen – was sonst sollte Kunst sein? Wozu wäre sie gut, wenn nicht dafür?
Soviel verstehe ich nämlich schon von der Kunst, dass sie genau dafür gedacht ist: Für einen Austausch über alle Streitigkeiten hinweg. Die Menschheit einend, nicht trennend, nicht parteiergreifend. Einfach größer sein als Krieg und Zwist.

Über all das wird nur geschwiegen auf dieser Veranstaltung.
Ziemlich sicher: Sie sind sich alle sehr einig, die sie hier sind: >Wir sind im Krieg. Dieses böse Russland kann man nicht, darf man nicht verstehen! Darf man auch nicht mehr hinhören, die Hand ausstrecken. Muss man verdammen, verurteilen und bekämpfen – auf allen Ebenen, eben auch in der Kunst!<
Jede andere Kunst würde die Anwesenden nur irritieren. Und irritieren oder über irgendwelche Grollgrenzen verbinden, das soll Kunst heute offenbar nicht mehr.
Eben darum kann ich das alles nicht mehr mitmachen.
Ich habe wohl doch ein anderes Verständnis von Kunst als die hier Anwesenden.

Ich habe ja noch nie so richtig dazugehört zu diesem elitären Verein, der dann doch vor allem vom Geld angeleitet wird.
Mehr denn je fühle ich mich als nur geduldeter Zaungast und habe soundso ständig Angst, etwas falsch zu machen, negativ aufzufallen.
Mir scheint, alle anderen bewegen sich weitaus selbstsicherer über dieses Parkett, als wäre es ihr angestammtes Recht, hier zu sein.
Ich nehme mir vor, für den Fall, dass ich den Künstler im passenden Moment alleine erwische, werde ich ihn auf die Russland-Thematik ansprechen, ganz diskret nur unter uns beiden - aber es ergibt sich nicht.
Von Anfang bis Ende ist der Künstler umlagert und in Beschlag genommen.

Für mich bleibt nur Smalltalk mit den anderen Gästen und die stille Beobachtung einer selbstzufriedenen, gutgelaunten Gesellschaft.
„Kennen Sie schon?“ und „Darf ich dir vorstellen…“ fangen so manche Konversationen an, um die meist ohnehin immergleichen inzestuösen Verbindungen des Kunstbetriebs dann und wann mit frischem Blut anzureichern. Der Künstlernachwuchs scharrt hier nicht umsonst mit den Hufen.
Vernissagen sind denn auch vulgäre Marktplätze, auf denen man sich feilbietet und auf gewinnbringende Geschäftsverbindungen hofft. Vor allem „netzwerkt“ man hier, wie man so schön sagt.

Mir wird klar, dass es eine Illusion war zu glauben, wir würden uns einander schon annähern irgendwie. Ich und die Wohlhabenden, die sich hier mit abgeklärter Mine gegenseitig ihre Weltsicht bestätigen.
Doch nur die wenigsten können sich hochziehen zu diesen Kreisen, in denen es für den Lebensunterhalt ausreicht, einen Pinsel zu schwingen oder Worte hinzuschreiben.
Je mehr ich mich umschaue, umso deutlicher erscheint mir der Menschenauflauf als eine affektierte Maskerade, die mit mir nicht viel zu tun hat.
Am Ende unterscheidet uns erheblich der Kontostand und die Quadratmeterzahl, auf der wir wohnen.
Das macht schon mal einen Unterschied, wie man die Welt im Allgemeinen wahrnimmt. Wer noch nie gravierende Existenz- oder Geldprobleme hatte, zweifelt und rüttelt naturgemäß weniger an den Gegebenheiten, immer schon.
Jetzt aber neu unterscheiden wir uns auch noch in den grundsätzlichen Weltanschauungen, von denen wir einmal dachten, wir wären uns zumindest einig darin.
Zum Beispiel in Gesellschafts- und Friedensfragen, in der Sicht auf die fuhrwerkende Politik oder im prinzipiellen Kunstverständnis.

Tut mir leid, ich habe dann doch andere Ansprüche an die Kunst.
Es reicht mir nicht, dass einer, der sich zum Künstlerdasein bemüßigt fühlt, Innenschau betreibt, wortreiche Befindlichkeitserklärungen abgibt, um seine Farbkleckse zu besprechen und das Ergebnis schließlich von einer gleichgesinnten Klientel beklatschen lässt.
Mutige Kunst wäre es, gerade jetzt eine österreichisch-russisch-ukrainische Kooperation aufzuziehen um zu zeigen: Wir lassen uns als Menschen, als Künstler nicht entzweien von irgendeiner Geopolitik!
Mutige Kunst wäre es auch, den wiederaufpoppenden Militarismus malerisch zu persiflieren oder den Wahnwitz der aktuellen Aufrüstungsorgien, die Brutalität des raumgreifenden Krieges abzubilden, die Sinnlosigkeit
Alles das böte doch eine Fülle an Möglichkeiten, stilisierte Elemente einzubauen oder einem abstrakten Werk zumindest einen entsprechenden Titel voranzustellen.
Das wäre Kunst, die es bräuchte zurzeit.
Ich frage mich, ob es eine solche Kunst derzeit nicht gibt, weil die Künstler ihrerseits ahnen, dass sie damit nicht auf Vernissagen brillieren werden oder ob man Künstler, die im Kriegskurs ausscheren, gezielt ignoriert.
Hätte der Künstler-Star des heutigen Abends Gehör, Gäste, Applaus und einen Ausstellungsort gefunden, wenn er tatsächlich mit seinen Russland-Connections ums Eck gebogen wäre?
Fragen sind das, die heute niemand mehr ehrlich beantworten kann.

Ich sehe eine um sich selbst rotierende Blase.
Künstler, deren Eltern oft auch schon Künstler waren, malen und werken, auf dass Kuratoren kuratieren und Galerien zur Vernissage laden, auf dass mal wieder gemeinschaftlich Wein geschlürft wird, auf dass Kunstkritiker gestelzte Artikel schreiben, auf dass sich eine Stadt mit kulturellen Stickern schmücken kann und am Ende hängt sich irgendein Geldiger neue Farbverläufe über die Couch. Alle fühlen sich dabei sehr kultiviert, das ist ja die Hauptsache, und wollen sich gegenseitig nicht auf den Schlips treten.

Noch einmal lasse ich die Gemälde auf mich wirken.
Die Bilder dieser Ausstellung sind so beliebig interpretierbar, dass sie für mich wahrlich nichtssagend werden.
Auf dem Zettel, der die ausgestellten Werke für interessierte Käufer auflistet (ohne Preise, versteht sich), mache ich mir Notizen. Auf der Nummer 7 und 8 räkeln sich – in meinen Augen - nackte Menschen. 32, 33 zeigen für mich kopflose Skelette. 28 sticht hervor, weil ich meine, darauf den Atompilz der Hiroshima-Bombe zu erkennen - aber wer weiß, was der Künstler oder die anderen Gäste zu meinen Interpretationen sagen würden. Würde man sie fragen, sie würden vermutlich behaupten, der gelbe Klecks wäre ein Symbol für den baldigen, strahlenden Sieg über dieses bitterböse Russland, das man als Feind einfach nur niederringen muss.

Im Grunde sehe ich nur Farbverläufe, die für jeden Betrachter etwas anderes ergeben. Das macht heute so gar keinen Sinn für mich.
Ich kann nicht mehr so tun, als würde das Betrachten dieser Bilder, das gepflegte Beisammenstehen mit Weinglas mehr sein als ein eitles Sich-Selbst-Abfeiern.
Eine inszenierte Abgrenzung nach dort, von wo ich herkomme. Von den bildungsfernen Kunstbanausen, denen man die Welt erklären und die man schon mal abstrafen muss, wenn sie die gewissen Erklärungen nicht zustimmend abnicken.

Als wüssten sie alles, so tun sie hier. Als wüssten sie mehr und besser, wie die Welt läuft. Dass alles schon halbwegs richtig läuft, davon sind sie überzeugt – solange nicht die FPÖ oder die AfD gewählt wird, oder jemand wie Sahra Wagenknecht.
Wer sich in derlei Grundsatzfragen anderslautend äußert, ist den Anwesenden schon mal suspekt.
Sie geben sich wirkmächtig und wichtig.
Ihre Ideale hängen sie nach den jeweiligen Ansagen der Zeit – und hängen auch schon mal Bilder ab und verstecken ihre Projekte und Ambitionen von gestern, sofern die sich im anderslautenden Heute nur noch schlecht einfügen.
Der nächste Weltkrieg hat uns schon hart am Krawattl gepackt, aber die Kunstsinnigen, erfüllt von innerer Positivität, stehen vor den Farbüberlagerungen, schwenken das Weinglas in der Hand und neigen verständig den Kopf, als wüssten sie, was der gelbe Klecks in der oberen Ecke bedeutet – und als wäre das bedeutend.
Zu diesem Zirkus kann ich nicht, will ich mich nicht zugehörig fühlen.
Nicht mehr.
Ich hätte gar nicht erst kommen sollen.
 



 
Oben Unten